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Unsere Filmkritiken, August 2018 - Teil 6

Kino Neustarts am 30. August 2018, die wir z.T. schon auf der Berlinale sehen konnten.



Kaum hören die Sommerferien auf, lässt auch die Hitze nach und die Menschen kehren allmählich zurück ins Kino. Zwar gab es zuletzt keine starken Neustarts und auch Filme, die diesen Donnerstag, den 30. August 2018 starten, werden das meiste Publikum wohl nicht vor dem ersten Septemberwochenende erreichen. Doch genau dafür wollen wir hier Schützenhilfe bieten. Weil wir zudem mit unseren Rezensionen diesmal pünktlich sind, belassen wir es in unserer Überschrift bei Teil sechs vom August.

Der fünfte Teil, mit ausführlichen Beschreibungen zu den Publikumsrückgängen im ersten Halbjahr 2018, kann unter dem 25. August 2018 nachgelesen werden. Diesmal folgt endlich wieder eine Filmkritik unsere Kollegin Elisabeth Nagy, die lange nicht mehr für uns geschrieben hat.

"draußen" Doku von Johanna Sunder-Plassmann & Tama Tobias-Macht (Deutschland). Ab 30. August 2018 im Kino. Hier der Trailer:



Elisabeths Filmkritik:

Obdachlose, an den Rand gedrängt, aus dem Blick verbannt. Man sieht sie nicht, man sieht sie nicht an, man sieht schon erst recht nicht hin. Man sieht nicht in ihre Herzen. Johanna Sunder-Plassmann und Tama Tobias-Macht sehen nicht nur hin, sondern versuchen unserer Wahrnehmung einen neuen Weg zu ebnen. Bereits der Titel soll dabei helfen. Über die Sprache definieren wir Obdachlose durch ein Negativ. Es mangelt jemandem an etwas, an etwas, an dem sich der Mensch gerne festhält. An Wände und Fußböden, an das Dach über dem Kopf, an seinen Besitztümern und seinem Status. Obdachlose haben gemeinhin kein Dach über dem Kopf, an den Rest denkt der Mensch in seiner Bestrebung sich abzugrenzen gar nicht erst.

Die beiden Filmemacherinnen, Sunder-Plassmann, Jahrgang 1983 arbeitet sowohl als Regisseurin als auch als Ausstellungsgestalterin für Museen, und Tobias-Macht, geboren 1982, studierte zuerst Fotografie und im Anschluss Film an der Kunsthochschule für Medien Köln, haben sich in die Welt derer, die “draußen” leben begeben und zugehört. So ist auch “draußen” ein Film, der vor allen Dingen vom Zuhören handelt. Mit langen oft festen Einstellungen vermitteln die Filmemacherinnen eine Ruhe und Gelassenheit, die dem Stadtgänger, wenn er oder sie an den Unsichtbaren vorbei eilt, ermangelt. Bis auf die Wahl des Filmtitels verzichten die beiden auf jeden Kommentar. Doch ist nicht nur ihre Haltung, sondern auch ihr Interesse spürbar und gewissermaßen erlernbar. Sie fördern Sehweisen zutage und arrangieren sie so, dass man als Zuschauer den Reichtum, den die ausgewählten Protagonisten, vier Männer (leider keine Frau), besitzen. Wobei Reichtum keine Quantität an Geld bedeutet, sondern die kleinen Dinge meint, die einem etwas wert sind.

Die Filmemacherinnen sind durchaus mit einer Strategie an das Projekt heran gegangen. Man kann es das Materielle nennen, ein Buch, das praktischen Nutzen hat, weil es einem vor einer Pilzvergiftung bewahren kann, oder ein Taschenmesser. Musik in Form von CDs und der Melodie im Kopf, ist zum Beispiel Elvis wichtig, der erzählt, dass er als Heimkind die Ordnung erlernte, die ihm in Fleisch und Blut übergegangen sei. Ihm ist es nicht unwichtig, was die, die an ihm vorbeigehen, denken. Sie sollen sehen, wie ordentlich er lebt. Auch an Haltung gibt es einen Reichtum, den kein Geld der Welt kaufen könnte. Dieser Reichtum kann auch schwer wiegen. Schicht um Schicht legen die beiden Filmemacherinnen den Panzer, den die Zuschauer zwischen Obdachlosen und sich aufbauen und den, den die Protagonisten selbst um sich legen frei. Erinnerungen wiegen schwer, und so erzählen sie von ihrem Leben, dass man sich interessiert und auf Augenhöhe für diese Männer begegnet, wenn auch in der Bequemlichkeit und der Dunkelheit eines Kinos. Es ist an dem Zuschauer, den Reichtum an Geschichten, Erinnerungen und Gefühle für andere zu entdecken.

Sicherlich, der Fokus ist beschränkt, zahlreiche Fragen des Lebens da “draußen” werden nicht aufgeworfen. Man kann den Film durchaus als Work in Progress begreifen, denn eine Auswertung in einem musealen Umfeld ist angedacht. Wie das aussehen kann, wird im Film durchaus schon angeschnitten. In Tableaus werden die Besitztümer jedes einzelnen in seinem Umfeld arrangiert. Das hat etwas künstliches, räumt aber jedem Gegenstand einen eigenen Wert zu. Jedem Gegenstand eine Erinnerung, jedem Gegenstand eine Geschichte. Dabei wird der Raum dieser Bühne zum Raum mit Wänden und Boden, eine Art Obdach, die im Rahmen der Möglichkeiten selbst gewählt ist. In diesem Heim sind sie mehr Bewohner und wir die Besucher. Wer eintritt, wird merken, wird sicherlich auch etwas mitnehmen können.

Elisabeth Nagy


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KINDESWOHL Gerichtsdrama von Richard Eyre (Großbritannien). Mit Emma Thompson, Stanley Tucci, Fionn Whitehead u.a. ab 30. August 2018 im Kino. Hier der Trailer:



Ulrikes Filmkritik:

Fiona Maye (Emma Thompson) ist eine erfahrene Familienrichterin am High Court in London, die ihren Beruf mit grosser Leidenschaft und Souveränität ausübt. Gerne überlässt man ihr die besonders heiklen Fälle. Das sich ihr Mann Jack (Stanley Tucci), ein angesehener Geschichtsprofessor vernachlässigt fühlt, ist ihr nicht bewusst. Sie fällt aus allen Wolken, als er ihr ernsthaft mitteilt auszuziehen, um sich eine Affaire zu gönnen Er liebe sie aber 11 Monate ohne Sex, treiben ihn zu dieser Entscheidung. Mit dieser Nachricht platzt er just in dem Moment heraus, wo sie einen besonders heiklen Fall zu entscheiden hat.

Es geht um den an Leukämie erkrankten 17-jährigen Adam (Fionn Whitehead), der dringend eine lebensrettende Bluttransfusion braucht, die er und seine Eltern aus Glaubensgründen ablehnen. Sie gehören der Sekte der Zeugen Jehovas an. Da Adam vor dem Gesetz noch ein Kind ist, hat das Krankenhaus eine Klage eingereicht. Fiona unterbricht die Verhandlung und eilt zu Adam ins Krankenhaus, um sich selbst ein Bild zu machen. Sie begegnet einem leichenblassen Jungen, der genau zu wissen scheint, was er mit seiner Ablehnung tut. Er erzählt ihr , dass er Gedichte schreibt und Gitarre spielt. Als er anfängt auf seiner Gitarre ein vertontes Gedicht, Beim Weidengarten unten, von William Butler Yeats zu spielen, stimmt Fiona mit ein, denn sie liebt dieses Lied, da sie selber sehr musikalisch ist und Klavier spielt. Adam ist hingerissen von diesem emotionalen Moment.

Am nächsten Tag ordnet sie die lebensrettende Behandlung an. Ihre Maxime lautet, immer zum Wohl des Kindes zu entscheiden. Noch ahnt sie nicht im geringsten, dass der Fall Adam sie nicht so schnell loslassen wird. Nach seiner Gesundung fühlt sich der Junge immer stärker zu Fiona hingezogen und nimmt auf einmal einen Platz in ihrem Leben ein, der ihre Gefühlswelt durcheinander bringt.

Fiona reist zu einem beruflichen Treffen. Das abendliche Dinner wird von einem ungebetenen Gast gestört. Vor der Tür steht der völlig durchnässte Adam. Er bittet sie, bei ihr einzuziehen, mit ihr zu leben und von ihr zu lernen. Sein Leben war bisher nur von der Religion bestimmt. Sie ist für ihn so etwas wie eine Lichtgestalt geworden. Fiona lehnt seine Bitte ab.

Völlig verstört fährt Adam mit dem Taxi davon. Unter tragischen Umständen wird sie ihn wiedersehen. Der Bestsellerautor Ian McEwan, der schon das Drehbuch für die Adaption seines Buches „Am Strand“ schrieb (einer meiner Lieblingsfilme in diesem Jahr), verfasste auch dieses hochemotionale kluge Drehbuch, wieder nach seinem gleichnamigen Roman und bringt zusammen mit Regisseur Richard Eyre eine brisante, konfliktreiche und komplexe, von Verantwortung getragene Geschichte auf die Leinwand, die mit Emma Thompson nicht besser besetzt werden konnte.

Fion Whitehead gelingt der Spagat zwischen dem Jungen, der in einer abgeschotteten religiösen Gemeinschaft aufwächst, fest entschlossen seinen Glauben zu vertreten und der durch die Bekanntschaft mit Fiona eine Welt kennenlernt, die fern aller religiösen Reglementierungen ist. Ein Fall, ein Film, der unter die Haut geht. Bewegend.

Ulrike Schirm





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