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Unsere Filmkritiken, August 2018 - Teil 4

Weiterhin schönstes Sommerwetter und dennoch schon wieder 12 neue Filme im Kino.



Die Straßencafés und Restaurants sind jeden Abend in Berlin gerammelt voll. Wir fragen uns, wer hat eigentlich noch Lust auf Kino und neue Filme. Klar gibt es ein paar Klassiker, die wir schon im Frühjahr besonders empfohlen haben, wie z.B. "Call me by Your Name" und "Shape of Water", die beide nicht nach kurzer Zeit wieder aus den Kinos verschwunden sind, sondern weiterhin ihr Publikum haben und auch diese Woche noch täglich in Berlin zu sehen sind. Doch die Schwemme an überflüssigen Filmen und weniger guten Sequels wird langsam zu groß und ist kaum gewinnbringend für die Filmtheater.

Nach 13 neuen Filmstarts in der vorletzten Woche und 12 Neustarts am Donnerstag letzter Woche, können wir uns auch heute gerade mal mit drei neuen Filmen befassen, denn als Filmverband haben wir auch noch andere Aufgaben zu erledigen und können uns nicht nur den Filmbesprechungen widmen, auch wenn wir manch weiteren Film bereits sehen konnten. Doch fundierte Filmkritiken müssen sorgfältig geschrieben werden und dazu reicht oft nicht die Zeit. Dennoch würden wir uns über weitere Zusendung von Rezensionen freuen, sofern diese Arbeit - wie alle Artikel bei uns - ehrenamtlich erfolgt.

Neu im Kino gestartet sind:

Das Biopic-Drama "Don't worry, weglaufen geht nicht" von Gus van Sant
Das Melodram "Christopher Robin" von Marc Foster
Die Tragikomödie "Ein Dorf zieht blank" von Philippe Le Guay
Das Drama "Finsteres Glück" von Stefan Haupt
Die Tragikomödie "So was von da" von Jakob Lass
Der Action-Thriller "The Equalizer 2" von Antoine Fuqua
Das Melodram "Forever My Girl" von Bethany Ashton Wolf
Der Mystery-Thriller "Das Geheimnis von Neapel" von Ferzan Özpetek
Der Dokumentarfilm "Geniale Göttin: Die Geschichte der Hedy Lamarr" von Alexandra Dean
Das Drama "In the Middle of the River" von Damian John Harper
Der Thriller "Breaking In" von James McTeigue
Der Dokumentarfilm "Familie Brasch" von Annekatrin Hendel

Empfehlungssternchen möchten wir nicht gegeben, da wir nicht alles gesehen haben. Dafür gibt es nachfolgend unsere bereits oben erwähnten drei Filmkritiken.

"THE EQUALIZER 2" Action-Thriller von Antoine Fuqua (USA). Mit Denzel Washington, Pedro Pascal, Bill Pullman u.a. seit 16. August 2018 im Kino. Hier der Trailer.



Ulrikes Filmkritik:

Wenn ein Sequel, fast genau so wäre wie sein Vorgänger, dann bräuchte man es ja eigentlich nicht zu drehen. Regisseur Antoine Fuqua hat es mit seinem Hauptdarsteeller Denzel Washington (beide haben bereits 4 Filme miteinander gedreht) gewagt, "THE EQUALIZER 2" auf die Leinwand zu bringen. Für beide ist es das erste Mal überhaupt, eine Fortsetzung zu drehen. Nun ist McCall zurück.

Unter falscher Identität ist der ehemalige CIA – Agent in Boston als Taxifahrer unterwegs. Mitfühlend kümmert er sich um den Straßenjungen Miles (Ashton Sanders) und um seinen Nachbarn Sam Rubinstein (Orson Beau), einem Überlebenden des Holocaust. Seinen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn hat er nicht verloren. Das es in seiner Nachbarschaft alles gut läuft, ist ihm wichtig. Bis auf kleine Scharmützel , hier und da, führt er ein friedliches Leben. Doch damit ist es schlagartig vorbei, als seine einzige Freundin, die CIA – Agentin Susan Plummer (Melissa Leo), kaltblütig getötet wird. Schneller als gedacht, holt ihn die Vergangenheit ein. Ihm ist sofort klar, dass es sich um hochprofessionelle Attentäter handelt. Schon legt er den Schalter um und ist wieder der rabiate Rächer, der Einzelgänger, der mit seinen individuellen Methoden in den Kampf zieht. Endlich kann er eine noch offenstehende Rechnung mit einem alten Bekannten (Pedro Pascal) begleichen. Krieg ist angesagt.

Ja, es stimmt, der erste Teil ist weitaus härter und rabiater. Wer knallharte Action liebt, kommt beim Showdown des Sequels trotzdem allemal auf seine Kosten. Das der unschuldige Miles unfreiwillig mit hineingezogen wird, macht die Sache noch übler. Dafür sieht man einen CIA-Agenten, der eine gutgeordnete häusliche Bibliothek besitzt, in der sich sogar Marcel Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ befindet. Wer hätte das gedacht, bei Jemandem, der dem Bösen mit knallharter Gewalt entgegentritt, sich mit gehobener Literatur beschäftigt. Und”¦ Denzel Washington ist sowieso immer sehenswert. Zusehen auch auf ganz großer Leinwand im Berliner IMAX – Kino.

Ulrike Schirm


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"DAS GEHEIMNIS VON NEAPEL" (OT: NAPOLI VELATA) Mystery-Thriller von Ferzan Ozpetek (Italien). Mit Giovanna Mezzogiorno, Alessandro Borghi, Luisa Ranieri u.a. seit 16. August 2018 im Kino. Hier der Trailer:



Ulrikes Filmkritik:

Als Ferzan Ozpetek vor einigen Jahren die Oper „La Traviata“ im Theater San Carlo inszenierte, sah er zufällig eine Vorführung der „figliata“. Es handelt sich um einen archaischen Ritus, der tief in der neapolitanischen Kultur der „feminelli“ verwurzelt ist. Diese werden als Jungen geboren, nehmen später weibliche Namen an, kleiden sich und formen ihre Körper nach weiblichen Vorbildern. Sie bilden damit eine lokale Form von Transgender aus, die sich von derjenigen trans- und intersexuellen Menschen unterscheidet.

Fasziniert von dieser Aufführung und der Stadt Neapel, in der sich Religion und Wissenschaft, heidnische Bräuche und das Christentum, Aberglaube und Vernunft friedlich nebeneinander existieren, machten ihm bewusst, dass er seinen Film über eine Frau, die etwas traumatisches, völlig Unerwartetes erlebt, nur in dieser Stadt ansiedeln kann. Neapel, eine Stadt, die niemals ihre Geheimnisse offenbart.

Die Persönlichkeit Adrianas (stark: Giovanna Mezzogiorno), wird von einem unerwarteten Erlebnis derartig überwältigt, das sie zwingt, ihr ganzes Leben und ihre Identität zu hinterfragen. Sie pendelt zwischen dem Bedürfnis nach Sexualität, nach Liebe und der Verweigerung der Realität hin und her.

Diese Zeilen aus einem Interview mit dem Regisseur machen neugierig und verhelfen, sich auf das vielschichtige Psychodrama mit Thriller-Momenten einzulassen.

Die Gerichtsmedizinerin Adriana lernt bei einer Theateraufführung den attraktiven Andrea kennen. Beide verbringen eine stürmische Liebesnacht miteinander. Sie verabreden sich für den nächsten Tag in einem Museum. Doch Andrea ist weit und breit nicht zu sehen. Stattdessen liegt sein verstümmelter Leichnam am folgenden Tag bei der Pathologin auf dem Seziertisch.

Der Schock sitzt tief. Als sie durch Neapels Gassen streift erblickt sie eine männliche Gestalt, die Andrea verblüffend ähnlich sieht. Es handelt sich um Luca, den Zwillingsbruder des Ermordeten. Sie lässt sich mit ihm auf eine obsessive Beziehung ein, in der Hoffnung mehr über den mysteriösen Andrea zu erfahren. Spätesten jetzt wird Adriana mit ihrer eigenen Vergangenheit konfrontiert. Wer es schafft, sich in den Sog des morbiden Charmes und dem geheimnisvollen Schleiers der über der Stadt Neapel liegt, wer in die grandiosen Bilder des Kameramanns Gian Filippo Corticelli eintaucht, wird dieses Melodrama nicht so schnell vergessen. Wer von coolem Verstand geprägt ist, wird aus dem etwas langatmigen Verwirrspiel nach kürzester Zeit aussteigen.

Ulrike Schirm


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"DON'T WORRY, WEGLAUFEN GEHT NICHT" Biopic-Drama von Gus Van Sant (USA). Mit Joaquin Phoenix, Jonah Hill, Rooney Mara u.a. seit 16. August 2018 im Kino. Hier der Trailer:



Ulrikes Filmkritik:

Gus Van Sants Biopic „Don't worry, weglaufen geht nicht“ basiert auf dem Buch von John Callahan (1951 – 2010). Wo soll einer schon hinlaufen, der nach einem Autounfall querschnittsgelähmt in einem Rollstuhl sitzt. Das kommt dabei raus, wenn man stockbetrunken ein Auto lenkt und mit 140 Stundenkilometern einen Strommast mit einer Ausfahrt verwechselt und dagegen knallt. Pech für John (Joaquin Phoenix), sein Kumpel Dexter (Jack Black) saß am Steuer.

„Ich kenne meine Mutter nicht. Sie ist Irin, hat rote Haare, von Beruf Lehrerin und sie hat mich nicht gewollt. Ich war schon vor meinem Unfall Alkoholiker und bin es immer noch.“ So stellt sich der Cartoonist John Callahan bei den Anonymen Alkoholikern vor.

Kurz darauf sieht man ihn, wie er vor Publikum über seine Arbeit spricht. Seine Karikaturen kommen nicht bei jedem gut an. Sie sind frech und überschreiten oftmals die Grenzen des guten Geschmacks. In seinem Fall: "Humor ist, wenn man trotzdem lacht." Seine Zeichnungen malt er mit zitternder Hand. Den Stift muss er mit beiden Händen halten, auf den Knien ein Tablett mit dem Papier. Er macht sich über alle lustig und verschont Niemanden. Schwarze, Behinderte, Schwule. Zum Beispiel:

In einer Buchhandlung wird ein Mann von einer Frau angepöbelt. „Sie sind hier in einer lesbischen Buchhandlung. Hier gibt es keine Humorabteilung“.

Dann sieht man ihn, mit seinen karottenroten, zerzausten Haaren, im bunten Hawaii-Hemd, nervös herumrennen, auf der der Suche nach Alkohol.

Gus Van Sant springt hin und her, erzählt nicht linear. Es passt, weil es die innere Unruhe seines Protagonisten unterstützt, der rotzfrech, dann wieder zu Tode betrübt oder in seinem Rollstuhl wild tanzend, versucht sein Leben zu meistern. Wenn er nervös ist, macht er besonders gern Witze.

Der Leiter der AA-Gruppe Donnie (Jonah Hill) steht seinen Schützlingen mit teilweise mit bizarr anmutenden Merksätzen zur Seite. „Wir können nicht um Hilfe bitten, wenn da draußen kein höheres Wesen ist, das man um Hilfe bitten kann“.

Donnie kommt aus einer steinreichen Familie, ist durch und durch Christ und hat es sich zur Lebensaufgabe gemacht, seinen „Schäfchen“ so gut zu helfen, wie er nur kann. Ob es der schwule Schwarze ist, der seine Schwanzgedichte zum besten gibt, oder die toughe Dicke (Gossip-Sängerin Beth Dito), die John Zunder gibt, wenn er mal wieder in Selbstmitleid schwelgt oder Udo Kier, der in der illustren Runde sitzt, mehr den anderen zuhört, als von sich zu erzählen.

Gut umsorgt wird Callahan von der schwedischen Pflegrin Annu (Rooney Mara), die den Beruf wechselt und Stewardess wird aber weiter zu ihm hält, ihn trifft und mit ihm „ausgeht“.

Donnies christlicher Einfluss wirkt Wunder. Auf einer Strichliste streicht John all die Namen von den Personen durch, denen er vergeben hat, ganz am Schluss, seinen eigenen. Das mag irrsinnig kitschig sein und gehört wohl zum Programm der Anonymen Alkoholiker. Was soll's. Wenn's hilft, dann ist es legitim. Hier ist es eben umgekehrt. In „Kill Bill“ ist Uma Thurman mit ihrer Liste unterwegs und streicht nach und nach die Namen von denen durch, die ihre bittere Rache zu spüren bekommen.

Im Original heißt Gus Van Sants Film "DON'T WORRY, HE WON'T GET FAR ON FEET", betitelt nach einem Cartoon von John.

Kitsch hin oder her. Es ist ein warmherziges Drama in dem Phoenix mal wieder zeigt, dass er schauspielerisch zu den Besten gehört.

Ulrike Schirm












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