Skip to content

Empfehlenswerter Kinostart in der 23. Kalenderwoche

Neben "The Adults" von der letzten Berlinale ist das Drama "Nostalgia" von Mario Martone mit Abstand der interessanteste Filmstart dieser Woche.



"NOSTALGIA" Thriller von Mario Martone (Italien / Frankreich, 2022; 118 Min.) Mit Francesco Di Leva, Tommaso Ragno und Pierfrancesco Favino, der nach 40 Jahren Abwesenheit in seine Heimatstadt Neapel zurückkehrt, um einen zwielichtigen Jugendfreund wiederzusehen. Seit 8. Juni 2023 im Kino. Hier der Trailer:



Elisabeth's Filmkritik:

Es ist nicht die Geschichte, die hier erzählt wird, die man aus dem Film heraustragen wird, es ist ein Gefühl. Der in Deutschland nicht ganz so bekannte Regisseur Mario Martone (zuletzt "Qui rido io") setzt das Gefühl der Wehmut in Bildern von Neapel um.

Mit der Hauptfigur streunen wir durch die engen Gassen einer alten Stadt, in der sich in den letzten 40 Jahren nicht viel verändert hat. Zumindest kommt es Felice Lasco, gespielt von Pierfrancesco Favino ("Il Traditore - Als Kronzeuge gegen die Cosa Nostrare"), so vor. Martone gibt dem Publikum ein Zitat von Pier Paolo Pasolini auf den Weg. Nur wer etwas verloren habe, könne auch Nostalgie verspüren. Felice Lasco hat seine Heimat als junger Bursche verloren und nun kehrt der verlorene Sohn der Stadt zurück und er erkennt zwar die Orte und er erinnert sich an Gegebenheiten, aber nichts und niemand nimmt ihn in dieser Stadt zuerst auf.

Felice Lasco wäre wohl nie zurückgekehrt, wäre da nicht seine betagte Mutter, der er in ihren letzten Tagen beistehen wird. Die Stadt, die für seine Gewalt und die Strukturen der Camorra berüchtigt ist, lässt ihn gerade noch so gewähren, solange er sich nur um die Mutter kümmert, aber als er beschließt, in der Stadt zu bleiben, wächst die Reibung zwischen den Erinnerungen, der verlorenen Jugend und dem Hier und Jetzt in ein konstantes Gefühl der Gefahr.

Die Erinnerung ist etwas Kostbares. Doch wie viel kostet es, das Gefühl der Wehmut anzunehmen und dieses in eine Chance zu verwandeln, mit der es sich leben lässt? Ist das überhaupt möglich? Lasco sucht eine Heimat, ein Ankommen, eine Zukunft. Diese Stadt, in der er einst einer der Jungs war, stößt ihn ab und wäre es nicht die Person des Priesters Padre Luigi Rega, ihn spielt Francesco Di Leva, und seiner Gemeinde, dann wäre die Geschichte wohl schnell auserzählt.

Der Padre kann sich Wehmut nicht leisten, er jongliert täglich mit den Gegebenheiten des Alltags des Viertels zwischen Religiosität und Kriminalität. Statt Nostalgie prägt ihn sein Pragmatismus. Da spielt es auch keine Rolle, dass Felice Lasco schon vor langer Zeit die katholische Kirche verlassen hat. Während Lasco eine leise wandernde melancholische Figur ohne Halt ist, ist der Padre, Anker und Stütze. Der Padre bietet ihm die Freundschaft an und Lasco nimmt diese an. Für Lasco ist der Priester auch ein Versprechen, dass eine Zukunft und ein Bleiben möglich ist.

Man mag ihn naiv finden, aber er lässt sich von der Wehmut nicht in die Vergangenheit zurückdrängen. Sein Blick, und da verfolgt er das gleiche Ziel wie der Padre, ist der Zukunft zugewendet. Der Antagonist ist hier Oreste (Tommaso Ragno), der beste Freund aus der Vergangenheit, aus Kindheitstagen. Seine Figur ist der Schatten, der über dem Viertel liegt, den jeder fürchtet. Nur Lasco nicht, weil er sich in einem Neapel der Möglichkeiten wähnt und weil er sich immer noch an Regeln gebunden fühlt, die schon längst keine Rolle mehr spielen. Nur eine Aussöhnung mit Oreste würde sein Schicksal verändern. Orestes Augen und Handlanger sind überall. Er selbst bleibt weitgehend ein Gespenst. Martone lässt seine Figuren zu schablonenhaft erscheinen, gibt ihnen nicht viel mehr mit, als ihre Rolle im Geschehen und so bleibt die Figur des Freundes, der jetzt der "schlechte Mensch", der Mammone des Viertels ist, wage. Aber vielleicht sind die Hauptakteure der gleichnamigen Romanvorlage von Ermanno Rea doch nur das Vergangene, die Gegenwart und die Zukunft.

Nun ist das so eine Sache, da uns Martone bereits die Richtung vorgibt, während er dem Publikum in seinen Film zieht. In einen Film, in dem scheinbar nichts passiert, der ganz von der Atmosphäre lebt. In dem es unter der Oberfläche brodelt und in der das Publikum nur eines gewiss weiß, es ist eine Chronik einer Ankündigung. Martone zeigt uns die Stadt zuerst im Landeanflug, zeigt uns die Stadt aus der Höhe und steigt dann hinab, bis in die Katakomben. Ohne die Abgründe ganz zu ergründen und sie zu erklären. Wie gesagt, er vermittelt vielmehr ein Gefühl, das man auch versteht, wenn man in einer anderen Stadt lebt. Italien schickte "Nostalgia" sogar in das letzte Oscar-Rennen für den besten internationalen Film. Leider schaffte es "Nostalgia", der letztes Jahr in Cannes seine Premiere feierte, nicht einmal in die erste Runde. Zu leise ist die Essenz dieses Filmes. Aber sie wirkt nach.

Elisabeth Nagy


Anzeige