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Empfehlenswerte Filme im Kino (Juli/August 2022)

Ende Juli bzw. Anfang August starten zwei Filme im Kino, die auf Internationalen Festivals liefen, darunter der Goldene Bären Gewinner der 72. Berlinale.



"Die Magnetischen" ist eine romantische Coming of Age-Geschichte und zugleich eine musikalische Zeitreise in die 80er-Jahre in der Bretagne und nach West-Berlin. Premiere feierte das Spielfilmdebüt von Vincent Maël Cardona 2021 auf dem Festival in »Cannes« in der Sektion »Quinzaine de Réalisateurs«, seitdem haben der Film und seine Macher viele Preise bekommen - unter anderem einen César für den besten Debütfilm und der junge Hauptdarsteller Thimothee Robart wurde als vielversprechender Nachwuchsschauspieler ausgezeichnet.

"DIE MAGNETISCHEN" Coming of AGE-Drama von Vincent Maël Cardona (Frankreich / Deutschland). Mit Thimotée Robart, Marie Colomb, Joseph Olivennes u.a. seit 28. Juli 2022 im Kino. Hier der >Trailer:



Elisabeths Filmkritik:

"Die Magnetischen" ist ein französisches Coming-of-Age-Drama. Ein junger Mann aus der Provinz muss seine Stimme und seinen Platz in der Welt finden. "Die Magnetischen" ist aber auch eine Liebeserklärung an das Radio und an das Radiomachen mit Liebe zur Musik. Jerôme (Joseph Olivennes) hat seinen Platz längst gefunden. Wobei, so ganz stimmt das nicht, aber das stellen wir mal hinten an. Jerôme und sein kleiner Bruder Philippe (Thimotée Robart) unterhalten einen kleinen Piratensender auf dem heimischen Dachboden. Jeróme ist die Stimme am Mikrofon, Philippe der Tüftler an den Reglern. Radio Warsaw nennen sie den Sender. Eine Referenz an Joy Division, die ihre ursprüngliche Formation Radio Warsaw genannt hatten.

Der Regisseur Vincent Maël Cardona wählt in seinem Langspielfilmdebüt, der sowohl in Cannes ausgezeichnet wurde, als auch den César für den besten Erstlingsfilm gewonnen hat, einen spezifischen Zeitpunkt, an dem die Handlung einsetzt. Wir lernen Jerôme und seine Freunde an dem Abend kennen, an dem François Mitterrand den zweiten Durchgang der Präsidentschaftswahl für seine Partei gewinnt. Eine politisch neue Ära beginnt, eine Zeitenwende setzt ein. Die jungen Leute vor Ort sind euphorisch. Es ist 1981, die 80er sind jung, der Punk noch nicht tot, aber schon im Stadium des Dahinsiechens. Auch musikalisch verspricht das Jahrzehnt einen Wandel, hin zu Elektronik und New Wave. Philippe, er ist das Nesthäkchen, ist der Wahlausgang schnuppe. Ihn bedrückt, dass er zur Musterung muss. Sein Bruder und dessen Freunde haben ihm zwar jede Menge Instruktionen verpasst, aber vergeblich, er kommt aus der Nummer mit dem Militär nicht raus. Er soll nach West-Berlin. Dabei hat er sich in die Freundin des Bruders verknallt. Dabei geht er nur aus sich heraus, wenn er Tonaufnahmen machen und mischen kann, bis er ganz DIY (Do-It-Yourself) aus zig Magnetbandschnipsel einen Klangteppich gebastelt hat.

West-Berlin? In den 80ern? Was Besseres kann ihm doch gar nicht passieren, denkt man sich, und Marianne (Marie Colomb) drückt ihm noch eine Kassette in die Hand mit Musik, die mehr nach Berlin als nach Bretagne klingt. Und in der Tat, in Berlin, und "Die Magnetischen" ist eine deutsche Co-Produktion, kann Philippe, fern vom Einfluss seiner Familie, geradezu aufblühen. Er findet einen Freund, den ersten Freund, der ihn so wahrnimmt, wie er sich selbst gerne sehen würde, und der ihn zum Radiosender der Britischen Streitkräfte, dem BFBS (British Forces Broadcasting Service) mitnimmt. Es sind die Momente, in dem ein junger Soundtüftler abhebt und die Gesetze der Schwerkraft beinahe zur Gänze überwindet und die Geschehnisse auf der Leinwand eine rasante Abfolge von Klang und Ton werden. Es sind Momente, die man nicht mehr vergessen wird, und die auch vergessen lassen, dass einige Elemente der Geschichte doch konventionell gezeichnet sind.

Soviel sei verraten. Philippe bekommt einen Job bei den Briten und und mit den dazu gehörigen Privilegien kann er nicht nur West-, sondern auch Ost-Berlin entdecken. Die äußeren Umstände, die Zeit, die Stadt, die Musik, brechen den Panzer des schüchternen Eigenbrötlers zwar auf, aber sein Weg führt trotzdem nicht in eine unrealistische sonnige Zukunft. Vincent Maël Cardona führt seine junge Hauptfigur nicht nur durch die Emanzipation von seinem bestimmenden Bruder und dem mürrischen Vater, sondern auch durch den Zwiespalt, sich für Familie und Verantwortung oder für die weite Welt zu entscheiden. Cardona hat mit "Die Magnetischen" ein Zeitporträt ohne Klischees und ohne Kitsch erschaffen. Mit vermeintlicher Leichtigkeit transportiert er ein Zeitgefühl ohne nostalgische Rückkopplung und er weiß die Gefühle seiner Figuren durch Musik zu übersetzen. Er verbindet sein Gespür für die Epoche mit einem Talent seine Darsteller durch einen nicht einfachen Wandel zu führen, der eben nicht Euphorie, sondern auch Ernüchterung und Besinnung bringt.

Elisabeth Nagy


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Am target="_blank" 11. August 2022 startet im Kino auch der Gewinner des Goldenen Bären der 72. Berlinale 2022. Wir hatten im Februar, zur Bilanz der Internationalen Filmfestspiele Berlin, bereits eine Besprechung als Nachtrag veröffentlicht. Jetzt gibt es auch einen deutschen Filmtitel.

"ALCARRÀS - Die letzte Ernte" Drama von Carla Simón (Spanien / Italien). Mit Josep Abad, Jordi Pujol Dolcet, Anna Otín u.a. ab 11. August 2022 im Kino. Hier der Trailer:



Elisabeths Filmkritik:

Es ist Erntezeit in Alcarràs, einer Stadt im Süden Kataloniens. Die katalanische Regisseurin Carla Simón führt uns in ihrem erst zweiten Langspielfilm in diese Gegend. Die Landwirtschaft zwischen Gestern, Heute und dem Morgen ist sozusagen das Hauptthema. Simón schöpft aus ihren Erinnerungen und aus ihrem Leben. So hielt sie es schon in ihrem Film "Friedas Sommer", der 2017 in der Generation-Sektion der Berlinale seine Premiere feierte und sowohl den Großen Preis der Internationalen Jury für den besten Film im Kplus-Programm als auch den Preis für das beste Erstlingswerk gewann. Simón, aufgewachsen in einer Großfamilie, nahm sich die Geschichte ihres Großvaters, der eine Pfirsichplantage betrieb, zu Herzen.

Auch die Kinder der Großfamilie Solé sollen schon mithelfen, die Pfirsiche auf der Plantage abzupflücken. Zumal das Geld so knapp ist, dass man sich Gastarbeiter nicht leisten kann. Gerade eben spielten sie noch die große Reise in einem verschrotteten Auto abseits der Felder. Dann kamen die Bagger. Und die Schrottkiste wird zu aller erst abtransportiert. Verlust des Alten wird in "Alcarràs" gegen Erneuerung ausbalanciert. Den Kindern wird ein Ort des Spielens weg genommen. Zuerst der Wagen, der ihnen ein Gefühl für die Weite und die Möglichkeiten gibt. Dann wird eine Kistenburg auseinander genommen. Die Kisten werden jetzt andernorts gebraucht. Träume kollidieren immer wieder mit den Bedingungen des Alltags. Immer wieder wird den Menschen, jung und älter, etwas genommen. Ist das schlimm?

Seit mehreren Generation leben die Solés auf der Pachtung eines Großgrundbesitzers. Nach dessen Tod will der Sohn das Land anders und produktiver bewirtschaften. Einst hatte man Verträge per Handschlag geregelt. Heute braucht es Papiere. Den einstigen Handschlag kann die Familie kaum einklagen. Der Familie wird die Pacht auf die Plantage gekündigt. Mit Abschluss der Ernte werden sie sich von ihrer alten Lebensweise verabschieden müssen.

Carla Simón gibt den Generationen ihre eigene Stimme. Die Kinder arrangieren sich, sie sind kleine Freigeister, immer irgendwo dazwischen. Carla Simón beobachtet das Treiben. Ihre Arbeitsweise ist naturalistisch, die Arbeit auf der Plantage zeigt sie fast dokumentarische. Die Kamera von Daniela Cajías unterstützt genau das. Die älteren Kinder der Familie sind bereits mit dem Ernst des Lebens und der ungewissen Zukunft konfrontiert. Der Sohn, der genauso hart arbeitet, wie sein Vater, wirtschaftet auf eigene Kappe und nicht ganz legal abseits der Pfirsichbäume. Die Tochter engagiert sich mit ihren Freundinnen, um auf dem traditionellen Erntefest etwas aufzuführen. "Alcarràs" erzählt jedoch nicht jeden Handlungsstrang aus. So einiges erklärt sich intuitiv, womit das Publikum sich emotional mit den einzelnen Schicksalen auseinandersetzen kann. Das Drehbuch fordert keine erhobenen Zeigefinger, die Empathie für die Figuren bringt man mit oder auch nicht. Auch wenn man nicht jede der Entscheidungen gut heißen mag oder kann.

Die Figuren in Carla Simóns spätsommerlichen Familiendrama sind durchaus stur. Allen voran der Vater, der sich mit der Zukunft nicht auseinandersetzen will, der sich um die Ernte kümmert, den Patriarchen markiert und bei Protesten für die traditionelle Landwirtschaft in vorderster Reihe kämpft. Es sind Laiendarsteller, die alle aus der Gegend kommen und hier das tun, was sie auch sonst tun. Eine weise Entscheidung, ein sorgfältiges Casting ist die halbe Miete. Jordi Pujol Dolcet spielt den Familienvater Quimet, der an den Traditionen festhalten will. Ein Angebot des Grundbesitzers bei ihm in den Betrieb einzusteigen, lehnt er rundweg ab. Geplant ist eine Fläche mit Solarpanelen. Aber Quimet sieht sich als Landwirt und nicht als Techniker. Der Großgrundbesitzer steht hier als Antagonist, dabei ist er ein Vertreter der Gegenwart und der Zukunft, der auf eine Energiewende setzt, die wir bitter nötig haben.

Auch wenn "Alcarràs" ein warmherziger Sommerfilm ist, der seine Figuren uns ganz nahe bringt, der eine Sehnsucht nach dem einfachen Leben auslöst und zu vermitteln weiß, was Menschen an Traditionen festhalten lässt, wagt das Publikum vor die schwierige Frage zu stellen, wie wir als Gesellschaft gefordert sind, Änderungen zu akzeptieren.

Elisabeth Nagy


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