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Zwei weitere aktuelle Filmkritiken im Oktober 2021, Teil 3

Heute u.a. eine Rezension eines sozialkritischen Spielfilms, der entfernt an Ken Loach Filme erinnert, oder auch an Erzählungen wie "L'enfant" (The Child) der Dardenne-Brüder.



"NOWHERE SPECIAL" Drama von Uberto Pasolini über einen armen, totkranken, alleinerziehenden Fensterputzer und seinen kleinen Sohn, der seine Weltpremiere 2020 auf den Filmfestspielen von Venedig feierte. (Großbritannien, Italien, Rumänien). Mit James Norton, Daniel Lamont, Eileen O'Higgins u. a. seit 7. Oktober 2021 im Kino. Hier der Trailer:



Elisabeth' Filmkritik:

"Nowhere Special" ist ein kleiner, ruhiger, unprätentiöser Film. Seit letzten Donnerstag kann man Uberto Pasolinis Spielfilm im Kino anschauen und man sollte es tun.

Pasolini hat die die Idee zu der Geschichte über einen Vater, der für seinen 4-jährigen Sohn Adoptiveltern sucht, in einer Zeitungsnotiz gefunden, in dem ein Vater genau dieses Problem hatte in den letzten kurzen Monaten seines Lebens Eltern für sein Kind zu finden.

Bereits Pasolinis letzter Film, "Mr. May und das Flüstern der Ewigkeit", behandelte den Tod auf eine ganz besondere Weise. Ein Angestellter, Mr. May, kümmerte sich um die Beerdigungen jener, die niemanden mehr haben.

Auch "Nowhere Special" behandelt den Tod. Aber nicht das Sterben. John, ihn spielt James Norton, ist Fensterputzer. Seine Frau hat ihn verlassen, um seinen kleinen Sohn Michael kümmert er sich ganz alleine. Der Tod ist unausweichlich. Wie aber sagt man das seinem Kind? John sagt lieber gar nichts, ein großer Redner ist er eh nicht.

Pasolini verzichtet auf eine dramatische Szene, in der John eine Diagnose erhält. Die Krankheit ist einfach gegeben. Johns Kampf gegen die Krankheit ist ebenfalls nicht Gegenstand. Im Mittelpunkt steht seine Beziehung zu seinem Kind, das zumindest ahnt, dass nicht alles in Ordnung ist. Immer wieder aufs Neue besuchen John und Michael angebliche neue Freunde. Und so begleitet das Publikum Vater und Sohn und die hilfsbereiten Mitarbeiterinnen vom Amt zu den in Frage kommenden neuen Adoptiveltern.

Pasolini gibt uns Einblicke in gut situierte Wohlstandshaushalte und Großfamilien, eine ganze Bandbreite. Das sind mitunter skurrile Szenen, die aber auch viel darüber verraten, was wir in den Film mit einbringen. John kann sich nicht entscheiden. Das heißt, eigentlich kommen all die Kandidaten für ihn nicht in Frage.

Einfach ist "Nowhere Special" nicht. Man beobachtet Vater und Sohn und spürt die innige Verbindung und man spürt den Schmerz, wen einem vor Augen geführt wird, dass man sein Kind Fremden übergeben muss und nicht mehr tun kann, als die möglichst richtige Entscheidung zu fällen. Und diese Entscheidung wird dringlicher und die Optionen schwinden dahin. Bei jedem dieser Besuche ist man als Zuschauer oder Zuschauerin mit im Raum und betrachtet die Familien und entscheidet sich ebenfalls.

Pasolini vermeidet jeden Anflug von Sentimentalität, scheinbar beobachtet er nur, wie die beiden Darsteller mit wenigen Blicken und Gesten agieren und wie die Handlung zwischen der Routine des Alltags und der Unwägbarkeit der Zukunft sich leicht verschiebt.

"Nowhere Special" ist ein Film über die Liebe von Eltern und Kindern, ein Film über das Abschied nehmen und des Loslassens. Ein Film, der sehr berührt und lange nachwirkt.

Elisabeth Nagy


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"HINTERLAND" historischer Thriller und Antikriegsfilms von Oscar Preisträger Stefan Ruzowitzky über einen Serienkiller, der seine Premiere 2021 beim Locarno Film Festival feierte, wo er mit dem Publikumspreis ausgezeichnet wurde. (Österreich, Luxemburg, Belgien, Deutschland). Mit Murathan Muslu, Liv Lisa Fries, Max von der Groeben, Matthias Schweighöfer u. a. seit 7. Oktober 2021 im Kino. Hier der Trailer:



Ulrikes Filmkritik:

"Hinterland" spielt in Wien, 1920. Geprägt ist der Film durch ein ungewöhnliches Szenenbild.

Der ehemalige Kriminalinspektor Peter Perg (Murathan Muslu) kehrt versehrt mit seiner Truppe nach dem verlorenen Krieg aus russischer Gefangenschaft zurück nach Wien, in eine Welt, in der nichts mehr ist, wie es mal war. Den Kaiser gibt es nicht mehr, Österreich ist jetzt eine Republik. Das alte Wertesystem ist verschwunden. Als Perg in seine alte Wohnung kommt, erkennt man ihn kaum, nur sein Hund rennt wedelnd auf ihn zu. Seine Frau ist mit dem Kind aufs Land gezogen.

Des Nachts wird Perg von Albträumen geplagt. Viele Kriegsheimkehrer sind in Obdachlosenheimen untergebracht. Eine Zumutung für die kriegstraumatisierten Männer.

Ein Ritualmörder, genannt „das Monster von Wien“, versetzt die Stadt in Aufruhr. Alle Opfer waren mit Perg im Gefangenlager. Bei jedem bestialischen Mordritual spielt die Zahl 19 eine Rolle.

Der amtierende Polizeirat (Marc Limpach) verlangt von seinen Leuten einige Strolche und Zigeuner festzunehmen. Mit ihm hat Perg bis zum Beginn des Krieges zusammengearbeitet, wird verhaftet, doch dann wieder freigelassen. Er darf ermitteln, mit dem Versprechen, wenn er erfolgreich ist, kann er in seinen alten Beruf zurückkehren.

Zusammen mit der Gerichtsmedizinerin Theresa Körner (Liv Lisa Fries) und dem jungen Kommissar Paul Severin (Max von der Groeben) macht sich Perg auf die Suche nach dem Mörder und wird von seiner Vergangenheit eingeholt.

Für seinen Thriller hat Regisseur Stefan Ruzowitzky ("Die Fälscher") eine ungewöhnliche Bildsprache gewählt. Er hat ein Szenenbild gewählt, das an expressionistische Stummfilmklassiker wie „Das Cabinet des Dr. Caligari“ (1920) erinnert. Bilder, die den Betrachter emotional ansprechen und ihn innerlich erschüttern. Verzerrte Perspektiven, Häuser mit schiefen Fenstern, krumme Straßen, schräg ineinander stürzende Stadtlandschaften. Alles ist aus den Fugen geraten. Offensichtlich eine Metapher für den damaligen Zustand der Gesellschaft und dem zerrissenen Gemütszustand des Protagonisten Perg.

Gedreht wurde vor einem Bluescreen, die Hintergründe digital eingefügt. Die Atmosphäre, dunkel und depressiv. Zwischendrin die vom Krieg gezeichneten Soldaten und die bestialisch zugerichteten Mordopfer.

„Hinterland“ punktet mit Bildern, die man so noch nicht gesehen hat.

Ulrike Schirm


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