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Unsere fünf Filmkritiken zu Kinostarts vom 23.11.2023 (KW 47)

Mit Filmkritiken zu Ridley Scott, Ken Loach, Milena Aboyan aus Armenien sowie zu einem irischen Film von Colm Bairéad als wichtiger Nachtrag der letzten Woche und zu Oliver Parkers "The Great Escaper".

Werbeclip zum "Napoleon"-Film von Ridley Scott am Brandenburger Tor.



Ein Ölgemälde im Louvre des französischen Malers Charles Meynier (1810) zeigt den triumphalen Einzug Napoleons am 27. Oktober 1806 in Berlin nach seinem Preußenfeldzug mit glänzenden Siegen bei Jena und Auerstedt.

Pünktlich zum Kinostart von Ridley Scotts "Napoleon" hat eine Werbefirma dies zum Anlass genommen, dem Brandenburger Tor anstelle der Quadriga einen virtuellen Zweispitz-Hut aufzusetzen, obwohl im Spielfilm der Einzug Napoleons in Berlin gar keine Erwähnung findet. Zumindest erinnert der Clip daran, dass die französische Armee unter ihrem legendären Kaiser im Oktober 1806 tatsächlich die Quadriga abmontiert und nach Paris verschleppt hat. Erst 1814 kehrte die Siegesgöttin im Vierspänner an ihren Stammplatz auf dem Brandenburger Tor am Pariser Platz in Berlin zurück.

"NAPOLEON" historisches Kriegsdrama von Ridley Scott
(USA / Großbritannien, 2023; 158 Min.) Mit Joaquin Phoenix, Vanessa Kirby, Tahar Rahim u.a. seit 23. November 2023 im Kino. Hier der Trailer:



Unsere Filmbesprechung:

Mit kleinen künstlerischen Freiheiten zeichnet der 85-jährige Altmeister Ridley Scott im seinem Historien-Blockbuster mit Joaquin Phoenix als Napoleon, ein ziemlich genau recherchiertes Bild des selbstgekrönten Kaisers, der offensichtlich die Welt erobern wollte, aber zuletzt beim Russlandfeldzug (wie später auch Adolf Hitler) an überlegenen, wechselnden Allianzen der Gegner kläglich scheiterte.

Vergleiche hinken zwar und sind mit Vorsicht zu betrachten. Dennoch wollen wir den Beweggründen nachgehen, warum in der heutigen Zeit, in der Marvel Superhelden den Ton des Disney Filmgeschäfts für die jüngere Generation angeben, ein auf der Kinoleinwand konventionell gestaltetes Schlachtengemälde dennoch durchaus seine Berechtigung hat, obwohl das monumental und opulent gestaltete Werk kein Biopic-Dokumentarfilm geworden ist, sondern ein Spielfilm-Drama, das sich alle künstlerischen Freiheiten der Gestaltung durchaus erlauben darf.

Die Revolutionsepoche für die Napoleon steht, begann 1789 mit dem Sturm auf die Bastille und setzte sich kontinuierlich 1792 fort mit der Abschaffung der Monarchie in Frankreich und der Hinrichtung von Ludwig XVI und Marie Antoinette, mit dem der Film spektakulär beginnt.

Es gibt Kritiker, die bemängeln, dass der 48-jährige Joaquim Phönix für die Darstellung der klein gewachsenen Gestalt des Napoleon Bonaparte zu alt sei. Aber dieser Punkt relativiert sich, wenn man bedenkt, dass der 1769 auf Korsika geborene Napoleon erst ab 1814 mit 45 Jahren als Kaiser der Franzosen einem diktatorischen Regime mit plebiszitären Elementen vorstand und bereits mit 52 Jahren, sechs Jahre nach seiner Verbannung durch die siegreichen Engländer, im Jahre 1821 auf St. Helena im Exil verstarb.

Auch seine Erscheinung auf dem Pferd meistert Joaquim Phönix recht sportlich in den Schlachten, zumindest mit Hilfe eines Stunt-Double, die Napoleon anfänglich erfolgreich führt, dann aber bei Waterloo gegen eine Übermacht verliert und abdanken muss.

Etwas naiv und kindlich dargestellt sind dagegen seine Annäherungsversuche an Joséphine de Beauharnais der späteren Kaiserin, die einige Lacher bei den Zuschauer*innen hervorrufen. Doch ein wenig Spaß gehört dazu, um ein breitgefächertes Publikum zu erreichen.

Interessant aber dürften Vergleiche zu imperialistischen Bestrebungen von Putin sein, der mit seinem Angriffskrieg auf die Ukraine die alte Weltordnung des verfallenen Sowjetreiches wieder herzustellen versucht. Erst spätere Generationen werden das Ausmaß dieses aktuellen Krieges und die Auswirkungen auf Europa bewerten können.

Immerhin hatte die Napoleonische Epoche seinerzeit schon eine kolonialgeschichtliche Dimension, die 1798 mit dem europäischen Nahostkolonialismus begann, um einen Keil zwischen Indien und der Großmacht Britannien zu treiben. Zudem gilt Napoleon mit seinen Expeditionen bis nach Ägypten auch als Initiator antiosmanischer Befreiungsbewegungen auf dem Balkan.

Andererseits ist Napoleon aber auch Treiber der verfassungs- und zivilrechtlichen Modernisierung Europas, mit der auch die politische und technologische Entwicklung einhergeht, die mit technischem Fortschritt im Weltkriegszeitalter gipfelt.

All dies deutet der Film zwar nur an, doch mit geschultem Blick lässt sich vieles interpretieren.

W.F.


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Vom politisch relevanten Geschichtsdrama kommen wir nun zu einem nicht minder interessanten Sozialdrama, das uns der Brite Ken Loach im Zeitalter von großen Flüchtlingsbewegungen beschert.

"THE OLD OAK" Sozialdrama von Ken Loach (Belgien / Frankreich / Großbritannien, 2023; 113 Min.) Mit Dave Turner, Ebla Mari, Claire Rodgerson u.a. seit 23. November 2023 im Kino. Hier der Trailer:



Reginas Filmkritik:

Als ich den britischen Regisseur Ken Loach im Dezember 1991 zum ersten Mal zu einem Interview traf, war ich verblüfft, wie uneitel und aufgeschlossen er auf mich zukam. Nicht er sah sich im Mittelpunkt, sondern die Geschichte seines Films.

Loach hatte damals für seinen Film "RIFF- RAFF" den FIPRESCI-Preis in Cannes gewonnen, im Dezember wurde das Werk mit dem Europäischen Filmpreis in der Kategorie bester Film ausgezeichnet, weitere Preise folgten. Doch ich hatte den Eindruck, dass Loach die Auszeichnungen nicht so wichtig waren, wie die Botschaft, die er schon damals vermitteln wollte: "Nichts wird sich verändern, solange wir das System nicht ändern." (Ken Loach)

"RIFF RAFF" (1991) ist eines der vielen Werke, in denen Ken Loach die sozialen Missstände in Großbritannien aufdeckt – scharf und gleichzeitig humorvoll thematisiert der Film die katastrophalen Zustände auf einer Baustelle am Rande Londons zur Regierungszeit von Premierministerin Margret Thatcher.

Ken Loach ist der wohl prägendste Vertreter des britischen Sozialdramas. Er hat sich während seiner gesamten Karriere immer wieder für Einzelschicksale und Geschichten von Menschen am Rande interessiert, für die Außenseiter der Gesellschaft. Bisweilen komödiantisch, mit feinem britischem Humor, unterhaltsam und spannend erzählt, prangert er gesellschaftliche Missstände an. Das Besondere an seinen Filmen ist, dass er sich nicht über die Menschen stellt, von denen er erzählt, sondern in ihren Dienst.

Das macht er jetzt seit fast 60 Jahren, seit er als junger Filmemacher mit seinem für die BBC produzierten Sozialdrama über Obdachlosigkeit "CATHY COME HOME" (1966) landesweit Aufsehen erregte. Seitdem gibt Loach den Benachteiligten und Schwachen der Gesellschaft eine Stimme. Seine Werke erzählen nicht nur von der Situation der britischen Arbeiterklasse in Großbritannien – er schaut auch über die Grenzen, wie in seinen Filmen über die sandinistische Revolution in Nicaragua "CARLA´S SONG", (1996) und den irischen Brüderkrieg "THE WIND THAT SHAKES THE BARLEY" (2006).

Sein jüngster Film "THE OLD OAK" verhandelt die Themen Integration und Solidarität. Dass Drehbuch hat Ken Loach wieder mit seinem langjährigen Autor Paul Laverty entwickelt.

In Durham, einer ehemaligen Bergarbeiterstadt im Nordosten Englands, sorgt 2016 die Ankunft von syrischen Bürgerkriegsflüchtlingen für Aufruhr und spaltet die Bevölkerung.

Im Zentrum des Films steht der Pub THE OLD OAK, hier treffen sich die Bewohner der einst blühenden Bergbaugemeinde. Vor Jahren wurden in Durham die Kohlegruben dichtgemacht. Man kommt zusammen im einzigen Pub, den es noch gibt, redet über alte Zeiten, den Bergarbeiterstreit vor 32 Jahren. Vor allem geht es jedoch um die wachsenden Sorgen, seit die Minen geschlossen wurden und der große Ausverkauf stattfindet. Mehrere Häuser im Ort wurden in einer Online-Aktion nach Zypern verkauft, zu einem Fünftel des Preises, den die Einwohner vor Jahren für ihre Häuser bezahlt hatten. Verbitterung, Perspektivlosigkeit, gerade auch unter den Jüngeren, kennzeichnen das Leben in der Gemeinde.

Ken Loach, Regisseur
,,Wir hatten schon zwei Filme im Nordosten Englands gedreht. Beides Geschichten über Menschen, die in dieser zerrissenen Gesellschaft gefangen sind. Beide endeten unweigerlich schlecht …
Unser Ausgangspunkt war der Verfall dieser Region. Die alten Industrien, Schiffbau, Stahl- und Kohlebergbau sind verschwunden und es ist nichts Neues an ihre Stelle getreten. Zahllose Gemeinden, die auf stolze Zeiten der Solidarität und lange kulturelle und sportliche Traditionen zurückblicken, wurden von Politikern beider großen Parteien dem Verfall überlassen …
Wo es keine Arbeit gibt, schwindet die Hoffnung. Entfremdung, Frustration und Verzweiflung treten an ihre Stelle und erschreckenderweise machen sich dadurch auch rechtsextreme Kräfte und Tendenzen breit …
Verschärft wurde die Situation noch durch eine weitere Wendung, als die Regierung sich endlich dazu entschloss, Kriegsflüchtlinge aus Syrien aufzunehmen.”


Besitzer des Pubs ist TJ Ballantyne, (Dave Turner), ein Einzelgänger, der einige Schicksalsschläge hinter sich hat. Im früheren Festsaal seines Pubs zeugen die Fotos an den Wänden von einstiger Solidarität unter den Bergarbeitern und den Bewohnern, jetzt ist der Raum geschlossen, eine Abstellkammer.

Als die syrischen Flüchtlinge ankommen, schlägt ihnen zunächst Ablehnung entgegen. Es gibt aber auch Menschen wie TJ, die helfen und vermitteln. Er begegnet Yara (Ebla Mari) einer jungen Syrerin, die während der zwei Jahre in einem Flüchtlingslager Englisch lernen konnte. So kann man sich verständigen, TJ unterstützt die junge Frau, auch in ihren Ambitionen als Fotografin und lernt ihre Familie kennen. Er öffnet seinen Pub für die neuen syrischen Dorfbewohner, das führt zu Auseinandersetzungen und Rivalitäten zwischen den Alteingesessen und den Neuankömmlingen.

Ken Loach, Regisseur
,,Es geht um zwei Gemeinschaften, die Seite an Seite leben. Beide leiden unter ernsten Problemen, aber eine hat auch noch mit dem fürchterlichen Trauma zu kämpfen, einem Krieg von unvorstellbarer Grausamkeit entkommen zu sein – trauernd um die, die sie verloren haben, und krank vor Sorge um die, die sie zurückließen. Diese Menschen finden sich als Fremde in einem fremden Land wieder, in dem sie auch nicht immer willkommen sind. Kann es da überhaupt ein Zusammenleben geben und wie findet man in solchen dunklen Zeiten so etwas wie Hoffnung?”


Einige Dorfbewohner im Film überwinden ihre Vorurteile, vermitteln Hoffnung. Sie lassen sich auf ihre neuen Mitbürger ein, helfen und unterstützen – ein Essen im gemeinsam hergerichteten Festsaal ist ein Anfang.
Doch es gibt auch die anderen, Verbitterte und Enttäuschte, die ihre Wut anonym im Internet oder offen in Sabotageakten zeigen. So wie Charlie, (Chris McGlade), ein Freund von TJ seit Kindertagen. Jetzt sind die einstigen Kampfgefährten im Bergarbeiterstreik entfremdet, stehen auf unterschiedlichen Seiten.

Ken Loach, Regisseur
,,Das Dorf, von dem wir erzählen, ist Teil einer größeren Gemeinschaft. Es blickt auf eine lange Geschichte des Widerstandes gegen Ausbeutung zurück. Früher musste man sich mit den Minenbesitzern herumschlagen und dann folgte in jüngerer Zeit die erzwungene Schließung der Gruben in der Ära Margaret Thatchers …
Die Schwächung der Gewerkschaften ließ die Einzelnen in ihrem Kampf allein zurück. Wenn es keine starke Gemeinschaft mehr gibt, wenn das Unternehmertum angebetet wird und nicht das Miteinander, dann verändert sich das Bewusstsein und alte Wertvorstellungen verlieren ihre Kraft. All das hat einen Einfluss darauf, ob man die neu ankommenden syrischen Familien willkommen heißt oder nicht.”


Die Ressentiments der Dorfbewohner gegen die Flüchtlinge, Loach hat wieder einmal deutlich die Realität auf die Leinwand gebannt. Er erzählt eine universelle Geschichte mit hoher Aktualität – das Ganze könnte genauso gut in einer kleinen Gemeinde in Deutschland spielen.

Auch in diesem Film arbeitet Ken Loach vor allem mit Laienschauspielern, die wir, wie Dave Turner als TJ, schon aus vorangegangenen Filmen kennen. Das funktioniert hervorragend und gibt dem Film seine Realitätsnähe und authentische Atmosphäre.

Ken Loach, Regisseur
,,Wir wollten Menschen, die zur Region und zum Dorf im Film gehören, ohne dass irgendjemand einen Akzent nachahmen muss. Wenn sie in eine echte Kneipe dort gehen würden, sollte sie jeder für Einheimische halten…
Auch wenn ich es nach so vielen Filmen, in denen wir es ähnlich gemacht haben, eigentlich wissen sollte, war ich auch diesmal wieder überrascht, wie viele Menschen die Fähigkeit haben, fiktive Situationen real erscheinen zu lassen.”


Altmeister Ken Loach hat mit THE OLD OAK einmal mehr den Finger auf die Wunden der Gesellschaft gelegt. Er zeigt deutlich, wie durch die Ankunft der Flüchtlinge ein Riss durch die Gesellschaft geht, er zeigt aber auch, dass gegenseitige Empathie und Offenheit der einzige humane Weg sind.

Seine Inszenierung ist nüchtern, unaufgeregt erzählt – wer filmästhetische Akrobatik oder Subtilität erwartet, wird enttäuscht. Loach ist ein Pragmatiker, ihm geht es als Autorenfilmer um die Botschaft in seinen Filmen. Das ist gut so und hat in der vielfältigen europäischen Filmkunst einen wichtigen Stellenwert.

Ken Loach ist jetzt 87Jahre alt. 15 Mal war er in Cannes eingeladen, zwei Mal hat er die Goldene Palme für den besten Film gewonnen, (THE WIND THAT SHAKES THE BARLEY, 2006 und ICH, DANIEL BLAKE, 2016), darüber hinaus zahlreiche Preise und Auszeichnungen, wie den Ehrenpreis für sein Lebenswerk der Europäischen Filmakademie (2009).

Dieses Jahr hat er angekündigt, dass THE OLD OAK sein letzter Film sein wird. Schwer vorstellbar, europäisches Kino ohne Ken Loach – einem hochpolitischen Regisseur, der mit seinem unermüdlichen Einsatz für Menschlichkeit und soziale Gerechtigkeit, aber auch mit seinem subtilen, ganz eigenen Humor Filmgeschichte geschrieben hat.

Regina Roland (filmkritik-regina-roland.de)


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Vom Sozialdrama kommen wir nun zu zwei Jugenddramen. Bereits in der letzten Woche war der irische Film "The Quiet Girl" gestartet, dessen Originaltitel "An Cailín Ciúin" lautet und seine Premiere im Generation-Programm der 72. Berlinale feierte. Direkt danach folgt zum aktuellen Kinostart von Milena Aboyans "Elaha" noch eine Besprechung aus der Sektion "Perspektive Deutsches Kino" der diesjährigen 73. Berlinale.

"THE QUIET GIRL" Jugend-Drama von Colm Bairéad (Irand, 2022; 96 Min.) Mit Carrie Crowley, Andrew Bennett, Catherine Clinch u.a. seit 16. November 2023 im Kino. Hier der Trailer:



Elisabeths Filmkritik:

Cáit (Filmdebütantin Catherine Clinch) ist ein stilles Kind. In ihrer Familie wirkt und wird sie an den Rand gedrängt. Es fehlt an vielem. Die Familie ist arm. Sie ist eine von vier Schwestern und die Mutter ist wieder schwanger. Die Handlung spielt 1981, die Familie lebt auf dem Land. Die Mutter ist überfordert, der Vater schroff. Zuwendung, von Zuneigung mag man gar nicht erst sprechen, fehlt. Cáit ist nicht nur sehr still, sie zieht sich so sehr zurück, dass sie praktisch unsichtbar wird. Wie belastend die familiäre Kälte auf das Kind wirkt, merkt man, wenn man gewahr wird, dass sie sich wieder einmal nachts eingenässt hat.

Es ist den Eltern zu viel. Unvermittelt setzen sie ihr jüngstes Kind bei fernen Verwandten ab. Mit nichts weiter als dem Kleid, das sie gerade trägt. Ohne Erklärung und ohne zu wissen, ob sie irgendwann wieder abgeholt wird, findet sich das Kind in der Fremde wieder. Colm Bairéad nahm sich für seinen ersten Langfilm, zu dem er auch das Drehbuch verfasste, einer Kurzgeschichte an. "Foster" von Claire Keegan erschien 2010 in dem Magazin "The New Yorker". Das Publikum erlebt die Ereignisse aus der Sicht von Cáit. Die Kamera von Kate McCullough (aktuell "Die unwahrscheinliche Pilgerreise des Harold Fry"), die für diese Arbeit den Europäischen Filmpreis für die beste Kameraarbeit gewann, engt sich auf das Vollbild 4:3 ein. Cáit ist noch zu sehr Kind, gerade 9 Jahre alt, ihre Sicht umfasst nur ihr nächstes Umfeld. Diese Beschränkung setzt sich in dem Format um. Doch Cáit ist aufmerksam, sie nimmt Dinge und auch Stimmungen wahr.

Ihr Zuhause für diesen Sommer ist auf dem Hof bei einem älteren, kinderlosen Ehepaar, das etwas besser situiert lebt. Mit einem einzigen Satz wendet sich für das Mädchen alles. Eibhlín Kinsella, gespielt von Carrie Crowley, fasst das erste unfassbare Gefühl in Worte. Worte, die hier so selten laut ausgesprochen werden, denn "The Quiet Girl" lebt von Zwischentönen, Gesten, dem Licht, das die Figuren umhüllt, und einem zurückgenommenen Pacing. Sie würde ihr Kind niemals bei Fremden aussetzen, sagt sie dem Kind. Cáit wurde zwar rigoros abgeschoben, doch das erste Mal in ihrem Leben wird sie hier gesehen. Und sehr langsam wagt sie sich aus ihrem Schneckenhaus. Eibhlín umhegt das Mädchen, schenkt ihr all die Liebe, die sie hat. Ihr zurückhaltender Mann Seán (Andrew Bennett) braucht etwas länger. Einfach ist es trotz allem nicht.

Viel mehr muss man gar nicht über diesen Film wissen. "The Quiet Girl" erzählt sich mit dem Herzen. Es ist ein leiser, ein lyrischer und doch auch vielschichtiger Film, der über die Sinne berührt. Alle Gewerke unterstützen die Darstellenden. Subtil kündigt sich schon früh eine weitere Geschichte hinter der Geschichte an, die das Kind auch bald erspürt. Eine Besonderheit ist, dass Bairéad den Film in Irisch drehte, einer Sprache, die viel zu selten auf der Leinwand zu hören ist. Doch die Hauptsprache von "The Quiet Girl" ist die Filmsprache, die Stille in vielen Variationen vermittelt. Ohne Worte vermitteln sich Kummer und Trauer. Kälte und Wärme. Auch das Publikum wird stiller und stiller.

"The Quiet Girl" wurde 2022 im Generation-Programm der Berlinale vorgestellt. Die Kinderjury zeichnete den Film mit einer lobenden Erwähnung aus. Die internationale Jury bedachte das stille Drama gar mit dem großen Preis. Es ist immer wieder erstaunlich welch stimmige, anspruchsvolle und doch leicht zugängliche Filme die Kplus-Sektion des Festivals zusammenzutragen weiß und man fragt sich, warum nicht mehr von genau diesen wunderbaren Filmen es tatsächlich in die Kinos schaffen. Besonders im Bereich Kinderfilm. Colm Bairéad bewies mit seinem Langspielfilmdebüt sein Talent. Seine Arbeit an Dokumentarfilmen bereitete ihn auch darauf vor, die Bilder bis ins Detail auf die Geschichte zu fokussieren. Sein Film eroberte Festival um Festival, gewann nationale und internationale Filmpreise und schaffte es als Irlands Einreichung für den Internationalen Oscar bis in die Nominierungsrunde. Mit einiger Verspätung kommt die Geschichte von Cáit nun doch noch in unsere Kinos.

Elisabeth Nagy


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"ELAHA" Coming-of-Age-Drama von der armenischen Filmregisseurin und Drehbuchautorin Milena Aboyan (Deutschland, 2023; 110Min.) Mit Bayan Layla, Derya Durmaz, Nazmi Kırık u.a. seit 23. November 2023 im Kino. Hier der Trailer:



Elisabeths Filmkritik:

Elaha, gespielt von Bayan Layla, ist 22 Jahre alt und steht kurz vor ihrer Heirat. Sie ist Deutsch-Kurdin und damit in zwei Kulturen zu Hause. "Elaha" ist eine Geschichte der Selbstermächtigung, quasi ein Coming-of-Age. Ein Regiedebüt. Die Regisseurin Milena Aboyan, geboren als Kurdin in Armenien, durchlief zuerst eine Schauspielausbildung, bevor sie sich dem Schreiben zuwandte. Ihren Abschlussfilm an der Filmakademie Baden-Württemberg stellte sie zuerst auf der diesjährigen Berlinale vor. In der Sektion "Perspektive Deutsches Kino". Man ist sich schmerzlich bewusst, welche Lücke die Abschaffung dieser Sektion reißen wird. Junge Talente wie Aboyan werden es schwerer haben, sich vorzustellen. "Elaha" debütierte hier und es ist erfreulich, dass dieses vielschichtige Drama doch auch in die Kinos kommt.

Elahas Verlobter ist der Bruder ihrer Arbeitgeberin. Beruflich hat er Ambitionen. Seiner Herkunft ist er so weit verbunden, dass er in der Aufforderung seiner Eltern, Elaha möge ihre Jungfräulichkeit doch mit einem ärztlichen Attest bestätigen lassen, kein Problem sieht. Elaha hat jedoch ein Problem. Dabei lässt das Drehbuch der medizinische Wissensstand um das Jungfrauenhäutlein außen vor. Es geht ausschließlich um die Auswirkung, die diese archaische Tradition auf die titelgebende Hauptfigur hat.

Elaha hatte schon einmal Sex. Mit 22 Jahren ist das nun nicht wirklich ungewöhnlich. Trotzdem will sie diese Ehe. Folglich bemüht sie sich darum, dieses Attest ihrer "Unschuld" dennoch zu bekommen. Denn wo ein Bedarf ist, ist auch ein Markt. Allein, es fehlen ihr die finanziellen Mittel.

Milena Aboyan stellt ihre Titelfigur zwischen ihr nach Außen zur Schau getragenes Selbstbewusstsein und dem patriarchalischen frauenfeindlichen Selbstverständnis ihres Umfeldes. Elaha läuft von hier nach da, um doch noch einem Konstrukt zu gehorchen, dessen Selbstzweck ihr im Verlauf der Handlung mehr und mehr bewusst wird, und von dem sie sich doch nicht so einfach lösen kann. Gerade diese Ambivalenz macht diesen Film zu einem, über den man auch im Anschluss noch reden möchte.

Auch in der Bildsprache zieht Aboyan (Kamera: Christopher Behrmann) auf Enge, sprich auf das Format 4:3, und eine begrenzte Farbpalette. Elaha stellt die ihr auferlegten Regeln zunehmend in Frage, ist aber von den Erwartungen ihres nicht kurdischen Freundeskreises gleichsam überfordert. Milena Aboyan zeigt die Schattierungen, die Elahas Situation bestimmen. Bis zur Selbstbestimmung ist es jedoch ein schwerer Weg.

Elisabeth Nagy


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Wir bleiben bei den Dramen, allerdings nicht mehr bei der Jugend, sondern gehen gleich zu einem hochbetagten 90-Jährigen aus dem Altersheim. Allerdings empfehlen wir beim nachfolgenden Film die englische Originalfassung (evtl. mit deutschen Untertiteln), da die Stimmen der deutschen Synchronisation eine Zumutung sind.

"IN VOLLER BLÜTE" Biopic-Drama von Oliver Parker (Großbritannien / Schweden, 2023; 96 Min. Originaltitel "The Great Escaper" - benannt nach dem Film "The GREAT ESCAPE" von 1965, worin es um den massenhaften Ausbruch alliierter Kriegsgefangenen aus einem deutschen Lager geht). Mit dem 90-jährigen Michael Caine und der kürzlich verstorbenen Glenda Jackson. Seit 23. November 2023 im Kino. Hier der Trailer:



Ulrikes Filmkritik:

„Am 6. Juni 1944, bekannt als D–Day begann die größte Landungsaktion der Militärgeschichte und der Kampf um die Befreiung Westeuropas. Die Alliierten landeten an der Küste der Normandie, um Frankreich im Kampf gegen die Nazis zu unterstützen. Die „Operation Overlord“ führte zum Ende des Zweiten Weltkriegs.“

"IN VOLLER BLÜTE" erzählt die wahre Geschichte des 90-jährigen Weltkriegsveteranen Bernhard Jordan (Michael Caine) genannt Bernie, der zusammen mit seiner Frau Rene (Glenda Jackson) in einem Pflegeheim lebt und der es versäumt hat, sich rechtzeitig um Karten zu kümmern, für die Feierlichkeiten des siebzigsten Jahrestages des D-Day.

Da es ihn unbedingt zu dem Kriegsveteranentreffen nach Frankreich zieht, verlässt er heimlich das Pflegeheim und macht sich auf den Weg. Mit seinen 90 Jahren ist er einfach ausgebüxt. Nur seine Frau ahnt, wo er sein könnte, als die Pflegeheimchefin in Aufruhr ist. Rene sagt aber nichts dazu. Natürlich wird die Polizei eingeschaltet, um den Vermissten zu suchen. Bernie war damals Funker bei der Navy.

Bernie schafft es auf die Fähre von Portsmouth zum französischen Ouistreham, wo die Gedenkfeier stattfindet, ergattert aber nur einen Stehplatz. Zum Glück trifft er dort auf andere Veteranen, die ihm weiterhelfen. Ganz besonders Arthur (John Standing) der ihm einen Schlafplatz in seinem gemieteten Hotelzimmer anbietet. Kriegserinnerungen holen ihn ein. Er besucht einen Friedhof, um von einem Kriegskameraden Abschied zu nehmen, trifft auf eine Gruppe deutscher Veteranen, mit denen er sich versöhnt und gibt einem jungen Schwarzen Veteranen, der in einem späteren Krieg ein Bein verlor, gute Ratschläge. Er ist von Schuld getrieben und hat sogenannte Flashbacks am Strand der Normandie von der damaligen Landung.

Nicht nur er schwelgt in Erinnerungen, auch seine Frau zu Hause im Heim. Das ist sehr berührend gemacht, indem man die Bilder parallel montiert hat.

Ehe er sich versieht, wird er zu einer Medienberühmtheit. Sogar Rene sieht ihn plötzlich im Fernseher und ist erleichtert. Gegen Ende des Films, versteht man, warum dieser Film seinen Titel trägt. Anrührend und eine zu Herzen gehende Geschichte schon allein wegen der beiden wunderbaren, älteren Schauspieler, die im Mittelpunkt stehen.

Der wahre Bernie starb im Dezember 2014, seine Frau Rene sieben Tage später. Sehr traurig, die wunderbare Glenda Jackson, die Rene so wunderbar verkörpert, verstarb im Juni 2023 mit 87 Jahren.

Caine und Jackson standen 1975 schon mal gemeinsam vor der Kamera, im Film: „Die romantische Engländerin“. Caine hat bekannt gegeben, dass er sich zur Ruhe setzt und dieser Film jetzt, sein letzter war.

Ulrike Schirm (ulriketratschtkino.wordpress.com)


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