Fünfter Teil unserer Filmbesprechungen zur 73. Berlinale 2023 und ein Resümee
Gala Premiere von Sean Penns Doku SUPERPOWER im Berlinale Palast mit Video-Schalte zum ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj.
Was den internationalen Filmfestspielen von Cannes im letzten Jahr wichtig war, durfte auch bei der 73. Berlinale 2023 nicht fehlen: Ein Grußwort an den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj direkt aus dem Berlinale Palast.
Anlässlich der Aufführung von Sean Penns Doku SUPERPOWER war der Hollywood-Star nach Berlin angereist, nicht nur um seinen Film persönlich vorzustellen, sondern auch, um von der Bühne des Berlinale Palastes in einer Video-Schalte mit dem ukrainischen Präsidenten sprechen zu können. Die beiden hatten sich zuvor schon mehrmals an geheimen Orten in Kiew (Kyiv - ukrainisch) getroffen, wie die Doku in einer Special Gala Aufführung zeigt.
"SUPERPOWER" Dokumentation von Sean Penn & Aaron Kaufman zum Angriff Russlands auf die Ukraine. Mit Sean Penn, Wolodymyr Selenskyj u.a. als Weltpremiere auf den 73. Internationalen Filmfestspielen von Berlin. Hier ein erster Teaser entnommen dem Hollywoodjournal DEADLINE:
++++++++++++++
Die 73. Internationalen Filmfestspiele Berlin
ein Resümee von Regina Roland.
Die Zahlen sind beeindruckend: Insgesamt 287 Filme hat das Festival gezeigt, der Ticketverkauf mit 320.000 kann sich sehen lassen. Rund 20.000 Akkreditierte, 2.800 Medien Vertreter*innen aus 132 Ländern haben das Festival besucht – fast wie vor der Pandemie. Allein das war schon ein Grund zur Freude. Kino ohne Maske, der Austausch mit den Kolleg*innen – die knisternde Atmosphäre, das Miteinander und Fluidum, das ein Festival wie die Berlinale braucht – es war wieder zu spüren. Insgesamt 120 Minuten Standing Ovations verkündete die Berlinale, fast alle Filmvorführungen waren schnell ausverkauft.
Wichtig und deutlich war auch die politische Präsenz der Berlinale: die Solidarität mit der Ukraine und mit den Befreiungskämpfer*innen im Iran, die Erinnerung an die Opfer von Krieg und Unterdrückung weltweit. Viele Filme warfen einen Blick in die politischen Krisengebiete, Solidaritätsbekundungen vertieften den politischen Appell.
Auch die Stars, die Schönen und Wichtigen der Filmszene, kamen nach Berlin wie Jurypräsidentin Kristen Stewart, die Schauspielerinnen Geraldine Chaplin, Cate Blanchet, Anne Hathaway, Helen Mirren, die Sängerin und Friedensaktivistin Joan Baez, Regisseur und Schauspieler Sean Penn, die Schauspieler John Malkovich, Peter Dinklage, Willem Dafoe und viele mehr. Ein Höhepunkt: Steven Spielberg, der große Filmmagier des Kinos, einer der weltweit bekanntesten und erfolgreichsten Regisseure; freundlich, charismatisch, uneitel, zugewandt auf der Pressekonferenz, dem roten Teppich und bei der Verleihung des goldenen Bären für sein Lebenswerk. Publikum, Presse und Veranstalter waren begeistert.
Im Zentrum: der Wettbewerb. Es gibt jedes Jahr eine Dynamik, die mich inzwischen schmunzeln lässt: zu Beginn gespannte, nervöse Erwartung – zur Halbzeit leichte Erschöpfung und krittelnde Übersättigung, gepaart mit nicht mehr ganz so genial geratenen Filmkommentaren, (ich nehme mich da nicht aus) – gegen Ende das große Rätseln, Spekulieren und Diskutieren um die möglichen Gewinnerfilme. Dieses Jahr überraschte die Jury mit höchst eigenwilligen Entscheidungen.
Zunächst der goldene Bär der 73. Berlinale, er ging an den einzigen Dokumentarfilm im Wettbewerb SUR L‘ ADAMENT des französischen Regisseur Nicolas Philibert. Als die Jury-Präsidentin Kristen Steward den höchsten Preis des Festivals für seinen Film verkündete, reagierte der Altmeister spontan: „Spinnt ihr?“ Eine Doku über die Pariser Tagesklinik Adamant, beheimatet auf einem Boot auf der Seine vor Paris. Philibert stellt Menschen mit seelischen und psychischen Nöten vor, die hier Hilfe und Ansprache finden: sie machen Musik, sie malen, sprechen über Literatur, erproben Möglichkeiten für einen vielleicht veränderten Lebensentwurf. Philibert bleibt in seinem 109 Minuten langen Film auf dem Boot. Leise, unvoreingenommene Beobachtungen ohne jeglichen Kommentar. Der Film war umstritten, visuell wenig herausragend, erzählerisch eine Innenschau. Die Jury lobte die Botschaft des Films: Menschlichkeit und Toleranz für einen offeneren Umgang mit den „Anderen“, die nicht nach den Normen der Gesellschaft funktionieren. Ich mochte den Film, hätte ihn jedoch nie als Goldenen Bären vermutet.
Der zweitwichtigste Preis, der Silberne Bär / Großer Preis der Jury, hat meine uneingeschränkte Zustimmung: ROTER HIMMEL von Christian Petzold. Petzold war zum 6. Mal im Wettbewerb auf der Berlinale, sein Film einer der Favoriten. Die Sommergeschichte um eine Gruppe junger Menschen in einem Ferienhaus an der Ostsee, unter ihnen ein Schriftsteller in der künstlerischen Krise, ist feinsinnig geschrieben, großartig inszeniert und gespielt. Die Welt brennt – innen und außen – die Flammenwalze eines Waldbrands rückt immer näher, Petzolds Verweis auf die Klimakrise.
Unverständlich, dass ROTER HIMMEL nicht in die Vorauswahl von 31 Filmen für den Deutschen Filmpreis aufgenommen wurde. Die Filmakademie rechtfertigt sich mit der Normalität unterschiedlicher Einschätzungen. Wieder einmal zeigt sich, wie seltsam diese Entscheidungen manchmal ausfallen. Nichtmitglieder und Kritiker der Filmakademie wie Christian Petzold und Filme, die ästhetisch andere Wege gehen, werden bisweilen schon bei der Vorauswahl ausgegrenzt. Die verantwortlichen Jurys für die Vornominierungen sind kleine, von den Mitgliedern der Filmakademie gewählte Kommissionen. Man kennt sich untereinander in der Filmgemeinde. Es bilden sich Allianzen, es wird polarisiert, und das wirkt sich bisweilen auf die Auswahl der Filme aus. Wichtig wäre, schon oft angemahnt, eine unabhängige Jury, die sich nicht nur aus den Mitgliedern der „Großfamilie Filmakademie“ zusammensetzt, eine Reform wäre gut.
Apropos Großfamilie und Familiengeschichten – ein Thema, das sich dieses Jahr im Wettbewerb wie ein roter Faden durch viele Filme zog, sehr unterschiedlich erzählt und realisiert. Der Jurypreis, (Nachfolger des abgesetzten Alfred Bauer Preises) ging an MAL VIVER des portugiesischen Regisseurs Joao Canijo. Ein eher düsteres Kammerspiel um drei Generationen von Frauen in einem Hotel. Lange, ermüdende Dialoge, die Kamera meist im Dunkeln verharrend, der Film hat mich nicht überzeugt. Ich hätte TOTEM einen Preis gegönnt, dem Wettbewerbsbeitrag der mexikanischen Regisseurin Lila Aviles. Sie erzählt in bewegten Bildern, ganz nah an den Protagonisten von einem Fest. Familie und Freunde kommen zusammen, um den Geburtstag von Tona, einem jungen Maler und Vater einer kleinen Tochter zu feiern. Es ist zugleich ein Abschiedsfest, denn Tona ist unheilbar krank. In der Mischung aus Melancholie und Lebensfreude, Trauer und Liebe war dieser Film, (der wie viele Werke in der Corona Zeit produziert wurde und auf wenige Spielplätze konzentriert war), ein Leuchtfeuer.
Es gab noch weitere Filme, die das Thema Familie umkreisen. Der Altmeister des französischen Kinos Philippe Garrel wurde für seinen Film LE GRAND CHARIOT mit dem Regiepreis ausgezeichnet. Garrel stellt uns eine Familie von Puppenspieler*innnen vor, schildert ihre Existenzängste und den Niedergang des Familienunternehmens. Garrels Film ist auch eine nachdenkliche Reflexion über eine Jahrtausende alte Theaterkunst, die in der modernen Medienwelt immer mehr an Bedeutung verliert.
Viele der Wettbewerbsfilme verhandeln gesellschaftliche Konflikte im Privaten, so auch der spanische Film 20.000 SPECIES OF BEES. Im Mittelpunkt der Handlung steht ein Kind auf der Suche nach seiner geschlechtlichen Identität – ein Junge, der nicht mehr mit seinem männlichen Namen Aitor angeredet werden will, sondern sich selbst Coco nennt.
Die neunjährige Sofia Otero spielt dieses Kind, authentisch und sehr überzeugend. Die Jury verlieh ihr dafür den Silbernen Bären für die Beste Darstellung. Das gab es in der Geschichte der Berlinale noch nie, den Preis für die beste Hauptrolle an ein Kind. Sofia Otero hielt sich tapfer und lächelnd vor dem Blitzlichtgewitter der Kameras, wirkte aber verständlicherweise auch überfordert. Eine fragwürdige Entscheidung, wäre da nicht ein Preis für die spanische Regisseurin dieses Films Estibaliz Urresola Solaguren angemessener gewesen? Zumal dieser Film meisterhaft inszeniert ist und darüber hinaus auf überzeugende Weise das Thema Transsexualität verhandelt.
Und es gab noch einen Preis für einen Film, der sich mit der Thematik Transgender befasst. Die Jury zeichnete die transsexuelle Schauspielerin Thea Ehre für ihre Darstellung in Christoph Hochhäuslers Film BIS ANS ENDE DER WELT aus. Ehre bekam den Preis für die beste Nebenrolle (interessanterweise spielt sie in diesem Film die Hauptrolle). Die Auszeichnung ist verdient, Ehres Performance als transsexuelle Undercoveragentin in dem zwielichtigen Thriller mit Anklängen an den Film Noir ist aufregend gut. Thea Ehre widmete ihren Preis der Trans-Community.
Das asiatische Kino, immer wieder ein Höhepunkt im Wettbewerb, wurde dieses Jahr von der Jury nicht honoriert. Obwohl es einige interessante und vielversprechende Filme zu bieten hatte. Einer davon ist der koreanische Film PAST LIVES. Er erzählt von drei Menschen zischen Korea und New York – von Migration, Entfremdung, von alter und von neuer Liebe. Die Kindheitsfreunde Nora und Hae Sung müssen sich als 12-Jährige trennen, als Noras Familie in die USA emigriert. 20 Jahre später treffen sich Nora und Hae Sung in New York wieder. Nora ist inzwischen mit einem Amerikaner verheiratet. In ihrem erstaunlich ausgereiften Debüt gelingt es Celine Song die Geschichte einer Liebe aus Kindheitstagen und einer neuen Liebe im Erwachsenenalter melancholisch zu verknüpfen. Gleichzeitig zeichnet sie die Kontraste zwischen den Welten in Korea und in den USA nach.
Auch dieses Jahr wurde neben Lob auch Kritik geäußert. Der Vorwurf: der Berlinale fehle es an großen Namen und den dazugehörigen Stars. Der künstlerische Leiter Carlo Chatrian hätte den Wettbewerb in den letzten Jahren zu einer Arthouse Veranstaltung umgebaut. Der Wettbewerb spiegle nicht mehr das Weltkino in seiner ganzen Breite.
Ich bin der Meinung, diese Kritik ist überspitzt. Sicher ist die altbekannte Konkurrenz um die Großen des Weltkinos zwischen Cannes, Venedig und Berlin auch dieses Jahr ein Problem. Das liegt zum einem an der Terminierung der Festivals. Wenn die Berlinale im Februar beginnt, sind viele der interessanten, großen Filme noch in der Fertigstellung und die Regisseure kommen dann gerne im Mai nach Cannes. Und der Vorteil von Venedig liegt im günstigen Termin im Spätsommer, Hollywood nützt das Festival am Lido gern als Startrampe für die Oscar verdächtigen Filme. Das sind Fakten und die Konkurrenz der drei großen A-Festivals wird weiter bestehen. Doch mich hat die Auswahl der Filme dieses Jahr im Wettbewerb angenehm überrascht und bis auf einige Ausnahmen überzeugt. Übrigens, auch in Cannes und Venedig gibt es immer wieder Ausreißer im Programm.
Das große Filmschauen nach zwei Jahren Pandemie – selten musste eine Berlinale so vielen Erwartungen genügen, einen Spagat bewältigen zwischen politischem Anspruch, Weltkino, spannendem Mainstream und herausragendem Neuen. Für mich war es wieder ein Erlebnis: vielfältiges, politisches und weltoffenes Kino. Ich habe in allen Sektionen Filme gesehen, die mich berührt, inspiriert und erstaunt haben, kraftvolle visuelle Werke, denen man die zwei Jahre Pandemie mit ihren schwierigen Produktionsbedingungen nicht ansieht. Jetzt beginnt die Vorbereitung für das nächste Jahr – ich freue mich schon auf die Berlinale 2024.
Regina Roland | Link: filmkritik-regina-roland.de
++++++++++++++
Meinung eines mit uns befreundeten Berlinale-Fans
Nicht nur wir vom BAF e.V. oder unsere Kollegin Regina Roland freuen sich schon auf die nächste Berlinale, trotz des verloren gegangenen Flairs am Potsdamer Platz, der durch die zahlreiche Kinoschließungen ein wenig gelitten hat. Auch Daniel Tändler, einer unserer guten Bekannten, den wir unter dem ehemaligen Berlinale Chef Dieter Kosslick als enthusiastischen Cineasten-Fan jedes Jahr an vorderster Front der langen Warteschlange der akkreditierten Besucher trafen, ist ein wenig enttäuscht, dass sich unter der neuen Berlinale Leitung soviel geändert hat.
Man trifft sich nicht mehr allmorgendlich, um für Karten anzustehen, kann sich somit auch nicht mehr gemeinsam für einen Kinobesuch verabreden, sondern ist der anonymen Bestellung von Online-Tickets zu Hause am PC ausgeliefert, ohne großen Einfluss darauf zu haben, wo man die Filme im weit verstreuten Stadtgebiet der Berliner Lichtspieltheater sehen wird.
Wenn in zwei Jahren auch noch das Kino Arsenal des Forums sowie das Museum für Film und Fernsehen der Deutschen Kinemathek im Sony Center schließen müssen, weil der neue Eigentümer der Immobilie, der aus der Sportbranche kommt, kein Interesse mehr an Film und Kino hat, dürfte das erhebliche Auswirkungen auf das Gesamtbild der Berlinale haben.
Das unter Dieter Kosslick noch geplante neue Filmhaus auf dem Gelände des Martin-Gropius-Baus, eine Institution der Berliner Festspiele, die alljährlich den EFM der Berlinale beherbergt, macht keine Fortschritte und würde auch viel zu klein ausfallen, um alle Institutionen dort unterbringen zu können. Ein Ausweg wäre vielleicht das ICC am Funkturm, das zum kulturellen Hotspot umgebaut werden soll und mit seinen veränderbaren Konferenzsälen und variablen Bühnen durchaus auch für Filmvorführungen genutzt werden könnte.
Doch genug der geschrieben Worte, lassen wir einfach mal Daniel Tändler im Video-Bericht des ZDF hier seine Meinung äußern.
Link: www.zdf.de/.../zdf-mittagsmagazin/filmfestival-berlinale-berlin.../
Was den internationalen Filmfestspielen von Cannes im letzten Jahr wichtig war, durfte auch bei der 73. Berlinale 2023 nicht fehlen: Ein Grußwort an den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj direkt aus dem Berlinale Palast.
Anlässlich der Aufführung von Sean Penns Doku SUPERPOWER war der Hollywood-Star nach Berlin angereist, nicht nur um seinen Film persönlich vorzustellen, sondern auch, um von der Bühne des Berlinale Palastes in einer Video-Schalte mit dem ukrainischen Präsidenten sprechen zu können. Die beiden hatten sich zuvor schon mehrmals an geheimen Orten in Kiew (Kyiv - ukrainisch) getroffen, wie die Doku in einer Special Gala Aufführung zeigt.
"SUPERPOWER" Dokumentation von Sean Penn & Aaron Kaufman zum Angriff Russlands auf die Ukraine. Mit Sean Penn, Wolodymyr Selenskyj u.a. als Weltpremiere auf den 73. Internationalen Filmfestspielen von Berlin. Hier ein erster Teaser entnommen dem Hollywoodjournal DEADLINE:
Reginas Filmkritik:
Er war in Berlin, zu Gast auf der Berlinale und stellte seine Ukraine-Dokumentation SUPERPOWER vor: Sean Penn – zweifacher Oscarpreisträger, berüchtigter Hollywoodkritiker, begnadeter Schauspieler und erfolgreicher Regisseur.
Der Film SUPERPOWER, den Sean Penn gemeinsam mit Co-Autor Aaron Kaufman in der Reihe Berlinale Special Gala präsentierte, ist sicher einer der Höhepunkte des Festivals. Schon auf der Pressekonferenz im Januar kündigte der künstlerische Leiter Carlo Chatrian das Werk als ein wichtiges politisches Highlight der Berlinale an. „Dies ist ein Dokumentarfilm, der unter sehr schwierigen Umständen entstanden ist, aber es ist auch ein Film, der die Rolle von Kunst und Künstlern in schwierigen Zeiten erzählt“, sagte Chatrian bereits bei der Vorstellung des Programms.
Auf der Pressekonferenz nach der Weltpremiere von SUPERPOWER betonte Penn, es gehe ihm in der Dokumentation vor allem darum, den Freiheitskampf der Ukraine darzustellen.
SUPERPOWER ist auch ein Porträt des Präsidenten der Ukraine Wolodymyr Selenskyj, den die beiden Regisseure mehrmals in Interviews zeigen. „Dieser Mann hat mir gerade das Gesicht, den Mut gezeigt“ sagt Penn im Film „Und diesen Mut habe ich in den Gesichtern aller Ukrainer gesehen.“
Ursprünglich wollten Penn und Kaufman eine ganz andere Geschichte erzählen. Der Plan der beiden Regisseure war es, einen humorvollen Film über Wolodymyr Selenskyjs ungewöhnliche Karriere vom bekannten Schauspieler und Komiker zum Staatschef der Ukraine zu drehen. Relikte dieser Idee sind anfangs noch als Ausschnitte im Film zu sehen: Selenskyj als Komiker in Klamauk Shows, dann in der Fernsehserie „Diener des Volkes“ in der er einen Lehrer spielt, der zum Präsidenten wird – seltsam, wie Fiktion die Realität vorwegnimmt.
Als die Regisseure Sean Penn und Aaron Kaufman im November 2021 mit den Dreharbeiten zu SUPERPOWER begannen, schien eine russische Invasion der Ukraine durch Wladimir Putin noch nicht wirklich vorstellbar. Penn und Kaufman reisten in das Land, um mehr über Wolodymyr Selenskyj und die Ukraine zu erfahren. Interviews mit Aktivisten des sogenannten Euromaidan, Recherchen über den 2014 begonnenen Krieg in der Ostukraine, der Annexion der Krim.
Für den 24. Februar 2022 hatte der Präsident mit den beiden Regisseuren ein Interview vereinbart. Genau an diesem Tag begann die russische Invasion. Plötzlich war die Stadt im Ausnahmezustand – der Aufmarsch der russischen Truppen an den Grenzen wurde immer bedrohlicher, die Crew blieb. Penn und Kaufman wurden unmittelbar Augenzeugen des Kriegsbeginns, das sind bedrückende Szenen im Film. Noch in der Nacht der Invasion führte Penn das erste von mehreren Interviews mit Selenskyj. Als erfahrener Medienmensch wusste Selenskyj genau, was die Unterstützung des prominenten Hollywoodregisseurs bewirken könnte. Penn, tief betroffen von dem, was er in Kiew und während der Dreharbeiten mit seinem Filmteam erlebt, wird zum inoffiziellen Botschafter für die Ukraine und ihren Staatschef.
Wer eine Hintergrundanalyse des Krieges erwartet, wird enttäuscht, der Film ist eher eine Bestandsaufnahme des einjährigen Krieges, fast eine Echtzeit Reportage der Geschehnisse in den letzten zwölf Monaten. Im Zentrum, und manchmal zu omnipräsent, Sean Penn in allen Lebenslagen, als Interviewer, als Augenzeuge. Er trifft Sicherheitsexperten, Aktivisten, Anwälte und immer wieder auch den ukrainischen Präsidenten. Mit einem Drink neben sich und einer Zigarette in der Hand spricht er mit Journalisten, er interviewt Soldaten, redet mit Menschen, deren Angehörige bei den Euromaidan Protesten umkamen. Er fährt mit seiner Crew an die Front, ist in Schützengräben. Man sieht ihm an und spürt, wie sehr ihm dieser Krieg unter die Haut geht, wie ihn das Geschehen mitnimmt.
Bei der Premiere in Berlin sagt Co-Regisseur Aaron Kaufman über die Anfänge: „Ich denke keiner von uns verstand richtig, was in der Ukraine los war. Dann haben wir viel Zeit dort verbracht und wir haben uns in die Menschen verliebt, wir haben uns auch in diesen Idealismus verliebt. Nach den letzten vier oder fünf Jahren amerikanischer Politik hatten wir die Verbindung verloren zu etwas, was sie haben: Sie haben unterschiedliche Ansichten, unterschiedliche Lebensweisen, aber sie wollen alle besser werden und sie wirkten sehr geeint”
SUPERPOWER ist weit mehr als nur ein Film für Sean Penn, es ist nicht das erste Mal, dass der Hollywoodstar auch als Aktivist auftritt. Er sieht sich in einer Mission, fordert mehr Aufmerksamkeit gegenüber dem Ukraine-Krieg, gerade auch in seinem Heimatland USA, mehr Unterstützung und mehr Waffen. Und damit schließt sich der Kreis zu seinem „Hauptdarsteller“ in SUPERPOWER Wolodymyr Selenskyj. Der stellt zur Eröffnung der Berlinale in einer emotionalen Videoschalte die Frage: „Kann sich die Kunst aus der Politik heraushalten?“ Und stellt dann fest, die Kunst könne nicht indifferent bleiben, denn in der Stille werde die „Stimme des Bösen nur lauter und überzeugender“.
Regina Roland
++++++++++++++
ein Resümee von Regina Roland.
Die Zahlen sind beeindruckend: Insgesamt 287 Filme hat das Festival gezeigt, der Ticketverkauf mit 320.000 kann sich sehen lassen. Rund 20.000 Akkreditierte, 2.800 Medien Vertreter*innen aus 132 Ländern haben das Festival besucht – fast wie vor der Pandemie. Allein das war schon ein Grund zur Freude. Kino ohne Maske, der Austausch mit den Kolleg*innen – die knisternde Atmosphäre, das Miteinander und Fluidum, das ein Festival wie die Berlinale braucht – es war wieder zu spüren. Insgesamt 120 Minuten Standing Ovations verkündete die Berlinale, fast alle Filmvorführungen waren schnell ausverkauft.
Wichtig und deutlich war auch die politische Präsenz der Berlinale: die Solidarität mit der Ukraine und mit den Befreiungskämpfer*innen im Iran, die Erinnerung an die Opfer von Krieg und Unterdrückung weltweit. Viele Filme warfen einen Blick in die politischen Krisengebiete, Solidaritätsbekundungen vertieften den politischen Appell.
Auch die Stars, die Schönen und Wichtigen der Filmszene, kamen nach Berlin wie Jurypräsidentin Kristen Stewart, die Schauspielerinnen Geraldine Chaplin, Cate Blanchet, Anne Hathaway, Helen Mirren, die Sängerin und Friedensaktivistin Joan Baez, Regisseur und Schauspieler Sean Penn, die Schauspieler John Malkovich, Peter Dinklage, Willem Dafoe und viele mehr. Ein Höhepunkt: Steven Spielberg, der große Filmmagier des Kinos, einer der weltweit bekanntesten und erfolgreichsten Regisseure; freundlich, charismatisch, uneitel, zugewandt auf der Pressekonferenz, dem roten Teppich und bei der Verleihung des goldenen Bären für sein Lebenswerk. Publikum, Presse und Veranstalter waren begeistert.
Im Zentrum: der Wettbewerb. Es gibt jedes Jahr eine Dynamik, die mich inzwischen schmunzeln lässt: zu Beginn gespannte, nervöse Erwartung – zur Halbzeit leichte Erschöpfung und krittelnde Übersättigung, gepaart mit nicht mehr ganz so genial geratenen Filmkommentaren, (ich nehme mich da nicht aus) – gegen Ende das große Rätseln, Spekulieren und Diskutieren um die möglichen Gewinnerfilme. Dieses Jahr überraschte die Jury mit höchst eigenwilligen Entscheidungen.
Zunächst der goldene Bär der 73. Berlinale, er ging an den einzigen Dokumentarfilm im Wettbewerb SUR L‘ ADAMENT des französischen Regisseur Nicolas Philibert. Als die Jury-Präsidentin Kristen Steward den höchsten Preis des Festivals für seinen Film verkündete, reagierte der Altmeister spontan: „Spinnt ihr?“ Eine Doku über die Pariser Tagesklinik Adamant, beheimatet auf einem Boot auf der Seine vor Paris. Philibert stellt Menschen mit seelischen und psychischen Nöten vor, die hier Hilfe und Ansprache finden: sie machen Musik, sie malen, sprechen über Literatur, erproben Möglichkeiten für einen vielleicht veränderten Lebensentwurf. Philibert bleibt in seinem 109 Minuten langen Film auf dem Boot. Leise, unvoreingenommene Beobachtungen ohne jeglichen Kommentar. Der Film war umstritten, visuell wenig herausragend, erzählerisch eine Innenschau. Die Jury lobte die Botschaft des Films: Menschlichkeit und Toleranz für einen offeneren Umgang mit den „Anderen“, die nicht nach den Normen der Gesellschaft funktionieren. Ich mochte den Film, hätte ihn jedoch nie als Goldenen Bären vermutet.
Der zweitwichtigste Preis, der Silberne Bär / Großer Preis der Jury, hat meine uneingeschränkte Zustimmung: ROTER HIMMEL von Christian Petzold. Petzold war zum 6. Mal im Wettbewerb auf der Berlinale, sein Film einer der Favoriten. Die Sommergeschichte um eine Gruppe junger Menschen in einem Ferienhaus an der Ostsee, unter ihnen ein Schriftsteller in der künstlerischen Krise, ist feinsinnig geschrieben, großartig inszeniert und gespielt. Die Welt brennt – innen und außen – die Flammenwalze eines Waldbrands rückt immer näher, Petzolds Verweis auf die Klimakrise.
Unverständlich, dass ROTER HIMMEL nicht in die Vorauswahl von 31 Filmen für den Deutschen Filmpreis aufgenommen wurde. Die Filmakademie rechtfertigt sich mit der Normalität unterschiedlicher Einschätzungen. Wieder einmal zeigt sich, wie seltsam diese Entscheidungen manchmal ausfallen. Nichtmitglieder und Kritiker der Filmakademie wie Christian Petzold und Filme, die ästhetisch andere Wege gehen, werden bisweilen schon bei der Vorauswahl ausgegrenzt. Die verantwortlichen Jurys für die Vornominierungen sind kleine, von den Mitgliedern der Filmakademie gewählte Kommissionen. Man kennt sich untereinander in der Filmgemeinde. Es bilden sich Allianzen, es wird polarisiert, und das wirkt sich bisweilen auf die Auswahl der Filme aus. Wichtig wäre, schon oft angemahnt, eine unabhängige Jury, die sich nicht nur aus den Mitgliedern der „Großfamilie Filmakademie“ zusammensetzt, eine Reform wäre gut.
Apropos Großfamilie und Familiengeschichten – ein Thema, das sich dieses Jahr im Wettbewerb wie ein roter Faden durch viele Filme zog, sehr unterschiedlich erzählt und realisiert. Der Jurypreis, (Nachfolger des abgesetzten Alfred Bauer Preises) ging an MAL VIVER des portugiesischen Regisseurs Joao Canijo. Ein eher düsteres Kammerspiel um drei Generationen von Frauen in einem Hotel. Lange, ermüdende Dialoge, die Kamera meist im Dunkeln verharrend, der Film hat mich nicht überzeugt. Ich hätte TOTEM einen Preis gegönnt, dem Wettbewerbsbeitrag der mexikanischen Regisseurin Lila Aviles. Sie erzählt in bewegten Bildern, ganz nah an den Protagonisten von einem Fest. Familie und Freunde kommen zusammen, um den Geburtstag von Tona, einem jungen Maler und Vater einer kleinen Tochter zu feiern. Es ist zugleich ein Abschiedsfest, denn Tona ist unheilbar krank. In der Mischung aus Melancholie und Lebensfreude, Trauer und Liebe war dieser Film, (der wie viele Werke in der Corona Zeit produziert wurde und auf wenige Spielplätze konzentriert war), ein Leuchtfeuer.
Es gab noch weitere Filme, die das Thema Familie umkreisen. Der Altmeister des französischen Kinos Philippe Garrel wurde für seinen Film LE GRAND CHARIOT mit dem Regiepreis ausgezeichnet. Garrel stellt uns eine Familie von Puppenspieler*innnen vor, schildert ihre Existenzängste und den Niedergang des Familienunternehmens. Garrels Film ist auch eine nachdenkliche Reflexion über eine Jahrtausende alte Theaterkunst, die in der modernen Medienwelt immer mehr an Bedeutung verliert.
Viele der Wettbewerbsfilme verhandeln gesellschaftliche Konflikte im Privaten, so auch der spanische Film 20.000 SPECIES OF BEES. Im Mittelpunkt der Handlung steht ein Kind auf der Suche nach seiner geschlechtlichen Identität – ein Junge, der nicht mehr mit seinem männlichen Namen Aitor angeredet werden will, sondern sich selbst Coco nennt.
Die neunjährige Sofia Otero spielt dieses Kind, authentisch und sehr überzeugend. Die Jury verlieh ihr dafür den Silbernen Bären für die Beste Darstellung. Das gab es in der Geschichte der Berlinale noch nie, den Preis für die beste Hauptrolle an ein Kind. Sofia Otero hielt sich tapfer und lächelnd vor dem Blitzlichtgewitter der Kameras, wirkte aber verständlicherweise auch überfordert. Eine fragwürdige Entscheidung, wäre da nicht ein Preis für die spanische Regisseurin dieses Films Estibaliz Urresola Solaguren angemessener gewesen? Zumal dieser Film meisterhaft inszeniert ist und darüber hinaus auf überzeugende Weise das Thema Transsexualität verhandelt.
Und es gab noch einen Preis für einen Film, der sich mit der Thematik Transgender befasst. Die Jury zeichnete die transsexuelle Schauspielerin Thea Ehre für ihre Darstellung in Christoph Hochhäuslers Film BIS ANS ENDE DER WELT aus. Ehre bekam den Preis für die beste Nebenrolle (interessanterweise spielt sie in diesem Film die Hauptrolle). Die Auszeichnung ist verdient, Ehres Performance als transsexuelle Undercoveragentin in dem zwielichtigen Thriller mit Anklängen an den Film Noir ist aufregend gut. Thea Ehre widmete ihren Preis der Trans-Community.
Das asiatische Kino, immer wieder ein Höhepunkt im Wettbewerb, wurde dieses Jahr von der Jury nicht honoriert. Obwohl es einige interessante und vielversprechende Filme zu bieten hatte. Einer davon ist der koreanische Film PAST LIVES. Er erzählt von drei Menschen zischen Korea und New York – von Migration, Entfremdung, von alter und von neuer Liebe. Die Kindheitsfreunde Nora und Hae Sung müssen sich als 12-Jährige trennen, als Noras Familie in die USA emigriert. 20 Jahre später treffen sich Nora und Hae Sung in New York wieder. Nora ist inzwischen mit einem Amerikaner verheiratet. In ihrem erstaunlich ausgereiften Debüt gelingt es Celine Song die Geschichte einer Liebe aus Kindheitstagen und einer neuen Liebe im Erwachsenenalter melancholisch zu verknüpfen. Gleichzeitig zeichnet sie die Kontraste zwischen den Welten in Korea und in den USA nach.
Auch dieses Jahr wurde neben Lob auch Kritik geäußert. Der Vorwurf: der Berlinale fehle es an großen Namen und den dazugehörigen Stars. Der künstlerische Leiter Carlo Chatrian hätte den Wettbewerb in den letzten Jahren zu einer Arthouse Veranstaltung umgebaut. Der Wettbewerb spiegle nicht mehr das Weltkino in seiner ganzen Breite.
Ich bin der Meinung, diese Kritik ist überspitzt. Sicher ist die altbekannte Konkurrenz um die Großen des Weltkinos zwischen Cannes, Venedig und Berlin auch dieses Jahr ein Problem. Das liegt zum einem an der Terminierung der Festivals. Wenn die Berlinale im Februar beginnt, sind viele der interessanten, großen Filme noch in der Fertigstellung und die Regisseure kommen dann gerne im Mai nach Cannes. Und der Vorteil von Venedig liegt im günstigen Termin im Spätsommer, Hollywood nützt das Festival am Lido gern als Startrampe für die Oscar verdächtigen Filme. Das sind Fakten und die Konkurrenz der drei großen A-Festivals wird weiter bestehen. Doch mich hat die Auswahl der Filme dieses Jahr im Wettbewerb angenehm überrascht und bis auf einige Ausnahmen überzeugt. Übrigens, auch in Cannes und Venedig gibt es immer wieder Ausreißer im Programm.
Das große Filmschauen nach zwei Jahren Pandemie – selten musste eine Berlinale so vielen Erwartungen genügen, einen Spagat bewältigen zwischen politischem Anspruch, Weltkino, spannendem Mainstream und herausragendem Neuen. Für mich war es wieder ein Erlebnis: vielfältiges, politisches und weltoffenes Kino. Ich habe in allen Sektionen Filme gesehen, die mich berührt, inspiriert und erstaunt haben, kraftvolle visuelle Werke, denen man die zwei Jahre Pandemie mit ihren schwierigen Produktionsbedingungen nicht ansieht. Jetzt beginnt die Vorbereitung für das nächste Jahr – ich freue mich schon auf die Berlinale 2024.
Regina Roland | Link: filmkritik-regina-roland.de
++++++++++++++
Nicht nur wir vom BAF e.V. oder unsere Kollegin Regina Roland freuen sich schon auf die nächste Berlinale, trotz des verloren gegangenen Flairs am Potsdamer Platz, der durch die zahlreiche Kinoschließungen ein wenig gelitten hat. Auch Daniel Tändler, einer unserer guten Bekannten, den wir unter dem ehemaligen Berlinale Chef Dieter Kosslick als enthusiastischen Cineasten-Fan jedes Jahr an vorderster Front der langen Warteschlange der akkreditierten Besucher trafen, ist ein wenig enttäuscht, dass sich unter der neuen Berlinale Leitung soviel geändert hat.
Man trifft sich nicht mehr allmorgendlich, um für Karten anzustehen, kann sich somit auch nicht mehr gemeinsam für einen Kinobesuch verabreden, sondern ist der anonymen Bestellung von Online-Tickets zu Hause am PC ausgeliefert, ohne großen Einfluss darauf zu haben, wo man die Filme im weit verstreuten Stadtgebiet der Berliner Lichtspieltheater sehen wird.
Wenn in zwei Jahren auch noch das Kino Arsenal des Forums sowie das Museum für Film und Fernsehen der Deutschen Kinemathek im Sony Center schließen müssen, weil der neue Eigentümer der Immobilie, der aus der Sportbranche kommt, kein Interesse mehr an Film und Kino hat, dürfte das erhebliche Auswirkungen auf das Gesamtbild der Berlinale haben.
Das unter Dieter Kosslick noch geplante neue Filmhaus auf dem Gelände des Martin-Gropius-Baus, eine Institution der Berliner Festspiele, die alljährlich den EFM der Berlinale beherbergt, macht keine Fortschritte und würde auch viel zu klein ausfallen, um alle Institutionen dort unterbringen zu können. Ein Ausweg wäre vielleicht das ICC am Funkturm, das zum kulturellen Hotspot umgebaut werden soll und mit seinen veränderbaren Konferenzsälen und variablen Bühnen durchaus auch für Filmvorführungen genutzt werden könnte.
Doch genug der geschrieben Worte, lassen wir einfach mal Daniel Tändler im Video-Bericht des ZDF hier seine Meinung äußern.
Link: www.zdf.de/.../zdf-mittagsmagazin/filmfestival-berlinale-berlin.../