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Das Locarno Festival eröffnete nicht mit Arthouse, sondern mit Mainstream

Mit einem angehenden Blockbuster, in einer Open-Air-Veranstaltung mit 8.000 Sitzplätzen, eröffnete das Internationale Locarno Filmfestival.



Mit der Freiluftaufführung der US-Actionkomödie "Bullet Train" mit Brad Pitt hat vorgestern das 75. Internationalen Filmfestival Locarno begonnen. Bis zum 13. August 2022 werden 226 Spiel-, Dokumentar- und Kurzfilme gezeigt.

Im internationalen Wettbewerb um den Goldenen Leoparden, den Hauptpreis des Festivals, sind 17 Filme. "Bullet Train" ist jedoch nicht darunter.

Gründe dazu gibt es zuhauf. Bereits im Vorfeld der Verfilmung des japanischen Bestsellers von Kotaro Isaka gab es Unmut darüber, dass Regisseur David Leitch und Drehbuchautor Zak Olkewicz entscheidende Veränderungen vorgenommen haben. Obwohl der Plot in Japan auf der Strecke Tokio - Kyōto spielt, wurde der Dreh komplett in einem Hollywood Studio vor Green Screen realisiert. Zudem ist der tragikomische Held plötzlich kein Japaner mehr, sondern wird von dem Amerikaner Brad Pitt dargestellt.

Zugegebenermaßen mögen wir diesbezüglich etwas kleinlich sein, aber als Filmverband von Autorenfilmer*innen, stehen wir prinzipiell den Blockbustern skeptisch gegenüber. Es gibt natürlich immer wieder Ausnahmen wie z.B. der James Bond 007 "Goldfinger" mit Gerd Fröbe als Bösewicht, der es in die Bestsellerlisten geschafft hat und inzwischen zum Kultfilm avancierte.

Dabei gehört der Zug - und somit auch "Bullet Train" - eigentlich seit den Anfängen des Kinos zu den beliebtesten Sujets, das die Innen- und Außenwelten verbindet. Doch so gemütlich, zurückhaltend und unterkühlt wie in dem bereits mehrfach verfilmten Agatha-Christie-Krimi "Mord im Orient Express" geht es in dem heutigen Action-Thriller, der in einem Shinkansen Schnellzug ohne Halt spielt, nicht mehr zu.

Ärgerlich ist vor allem, dass dieser Hochgeschwindigkeitszug auf einer der meistfrequentierten Strecken Japans fast leer ist und auch sonst schon im Trailer ziemlich unrealistisch aussieht. Er kann nämlich gar nicht fahren, sondern ist komplett am Computer entstanden. Film war zwar schon immer eine Illusion, doch für dumm verkaufen, sollte man das Publikum nicht.

Es gibt natürlich auch andere Meinungen zu dem Machwerk, die wir respektieren müssen. Doch zum Schluss noch eine weitere Merkwürdigkeit. Der als schwuler Marvel-Superheld bekannt gewordene Brian Tyree Henry, der in "Bullet Train" Brad Pitt alias "Ladybug" Paroli bietet, sollte am Ende eigentlich sterben. Nach einem Gespräch mit dem Regisseur David Leitch wurde beschlossen, die Szenen zu ändern, um das schwarze US-Publikum nicht auch noch zu vergraulen.

Link: www.locarnofestival.ch


Unsere Filmkritiken im August 2022


"Bullet Train" US-Actionthriller von David Leitch (USA). Mit Brad Pitt, Joey King, Aaron Taylor-Johnson, Brian Tyree Henry u.a. seit 04. August 2022 im Kino. Hier der Trailer:



Ulrikes Filmkritik:

David Leitch („John Wick“, „Deadpool2“, „Atomic Blond“) ist bekannt als knallharter Actionregisseur. In seinem Actionreißer „Bullet Train“ geht es um einen Hochgeschwindigkeitszug, mehrere Auftragskiller und einen Aktenkoffer voller Geld.

Der Profikiller mit dem Decknamen Ladybug (Marienkäfer) bekommt am Telefon einen neuen Auftrag. Er soll im Bullet Train von Tokio nach Kyoto einen am Griff markierten Koffer klauen. Nachdem er eine Weile pausiert hat, hört sich der Auftrag ganz easy an und er hat Lust darauf. Rein in den Zug, Koffer suchen, raus aus dem Zug. Was er nicht weiß, außer ihm sind in der wahnwitzigen Zugfahrt noch mehrere Auftragskiller an Bord, verteilt in unterschiedlichen Abteilen, die untereinander nicht wissen, was im Zug eigentlich vor sich geht und die sich gegenseitig an die Gurgel gehen aber alle auf der Jagd nach dem Koffer sind. Leitch hat viel Wert darauf gelegt jedem seiner Protagonisten einen anderen Kampfstil zu verpassen. Bei allen Kämpfen im Zug ist „Ladybug“ immer der Underdog.

Brad Pitts leicht vertrottelte Figur Ladybug ist nicht die einzige skurrile Erscheinung. Da gibt es noch die Zwillinge Tangerine und Lemon (Aaron Taylor-Johnson, Brian Tyree Henry) ein Killerpaar, das sich ständig streitet. Die klaustrophobische neonausgeleuchtete Atmosphäre des Zuges und die Vielzahl an schrägen Figuren, eine immer irrer als die andere, sorgen mit ihren zynischen Sprüchen für eine unheilverkündende Mischung aus Action, Chaos und köstlicher Comedy.

Brad Pitt begeistert mit einer ansteckenden Spielfreude und liefert eine kultige Performance, bewegt sich prügelnd durch die Abteile, hat aber bewusst auf Waffen verzichtet.

„Bullet Train“ basiert auf dem gleichnamigen japanischen Thriller von Kotaro Isaka und verschafft Einblick in die besondere japanische Mentalität. Für den „Weißen Wolf“, der eine wichtige Figur im Buch ist, für den ist Schicksal nur ein anderes Wort für „Bad Luck“.

Leitch und Pitt verbinden mehr als zwanzig Jahre gemeinsame Arbeit beim Film. Leitch war Pitts Stuntman in gut einem halben Dutzend Filmen wie „Fight Club“ u.s.w. Man hat Pitt lange nicht so voller Spieleifer gesehen.

In kleineren Nebenrollen tauchen in diesem Sommer-Block-Buster noch Sandra Bullock, Michael Shannon und Channing Tatum auf.

Ulrike Schirm


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"WARTEN AUF BOJANGLES" tragische Romanverfilmung von Regis Roinsard, um eine romantischen Liebesgeschichte, die leider ziemlich harsch zum Drama einer psychischen Krankheit ausartet (Frankreich / Belgien). Mit Virginie Efira, Romain Duris, Grégory Gadebois u.a. seit 04. August 2022 im Kino. Hier der Trailer:



Ulrikes Filmkritik:

Man nennt sie Hochstapler, Bauernfänger, Scharlatane, Lügner, Blender oder Schwindelhuber. All diese Begriffe beziehen sich auf Georges Fouquet (Romain Duris), der ein Meister im „bluffen“ ist.

Keine Party unter Schönen und Reichen, bei der er nicht auftaucht obwohl er gar nicht eingeladen ist. Er erfindet Lügen über seine Identität und spielt den unvermeidlichen Charmbolzen. Hier ein Flirt, da ein Flirt, im Sommer 1958 an der Riviera.

Als er die hübsche junge Camille (Virginie Efira) entdeckt, ist es um ihn geschehen. Sie ist zwar in Begleitung da, hat aber nur Verachtung für diese Sorte Gesellschaft übrig und tanzt extra provokant, was Georges besonders gefällt und er spaßeshalber mitmacht, beide tanzen aus der Reihe. Verschwitzt springen sie in voller Montur von der Terrasse ins kühle Meer und brausen im Cabrio davon, um kurze Zeit später in einer Kapelle auf dem Altar Sex miteinander zu haben.

Camille ist begeistert von ihm als er ihr verspricht, sie jeden Tag zum Lachen zu bringen. Die beiden werden ein Paar, dem es Spaß macht, sich gegenseitig Lügengeschichten zu erzählen. Mal gibt sich Georges als Nachfahre Draculas aus, der Harpunen für die Fliegenjagd erfunden hat, darauf muss man erstmal kommen!

Die beiden heiraten und bekommen einen Sohn. Sie leben in einer großen Wohnung, haben einen Kranich als Haustier und feiern rauschende Feste, während sich in ihrer Wohnung die ungeöffneten Rechnungen in einer Ecke stapeln.

Dass sie am Rande der Pleite stehen, sieht man ihnen nicht an, dank eines reichen Freundes (Grégory Gadebois), der sie immer wieder aus der finanziellen Misere rettet. Alles wirkt beschwingt, verrückt und retro. Hinter der exzentrisch poppigen Fassade von Vater, Mutter und Sohn lauert eine bedrückende Düsternis. Camille gleitet immer mehr in den Wahnsinn. Es ist nur noch ein Tanz auf dem Vulkan.

Depressive Schübe wechseln mit aggressiven Ausrastern, bis sie in einer Anstalt landet. Georges fällt es immer schwerer, seinem Sohn eine heile Welt vorzugaukeln. Beide beschließen die Mutter aus der Anstalt zu befreien. Aus der „Amour fou“ wird eine „Amour triste“.

Besonders bedauerlich für Gary (Machachado-Graner), der es nicht leicht in der Schule hat, denn sein Lebenswandel hat sich dem der Eltern angepasst. Er fühlt sich mal glücklich, dann aber auch wieder verängstigt. Was anfänglich noch komisch war, wechselt langsam in den Zustand der Verhängnis.

Ganz oft hört Camille den Song „Mr. Bojangles“ in einer neuen melancholischen Version des neuseeländischen Songwriters Marlon Wlliams. Es geht um einen Mann, der seinen Hund verloren hat und der so lange tanzt, bis der Hund wiederkommt, erzählt Georges seinem Sohn, ähnlich dem Paar, was auch durchs Leben tanzt, allerdings bis zum Absturz.

Regisseur Régis Roinsard hat den Bestsellerroman von Olivier Bourdeaut in ein entfesseltes, visuell mitreißendes Leinwandmärchen verwandelt, ergreifend und traurig wie der titelgebende Song „Mr. Bojangles“. Hauptdarstellerin Virginie Efira ist hinreißend anzusehen.

Ulrike Schirm


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