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Unsere Filmkritiken der ersten September-Woche

Mehr als fünf neue Filme waren am 31. August 2017 im Kino gestartet - darunter zwei sehenswerte Dokus.



"DAVID LYNCH: THE ART OF LIFE"
Doku von Jon Nguyen · Olivia Neergaard-Holm · Rick Barnes.
Hier der Trailer:



David Keith Lynch wurde am 20. Januar in Massoula, Montana, geboren. In der Dokumentation „David Lynch: The Art of Life“, mehr Interviewcollage als gewohnt übliche Doku, sieht man ihn rauchend, bildermalend, ab und zu im Bild, seine spielende kleine Tochter Lula neben sich, während er aus seiner Kindheit und seinem Studium an der Kunsthochschule erzählt. Er beschreibt seine idyllischen Kindheitsjahre in einer amerikanischen Kleinstadt. Die Schule hasste er abgrundtief. Schon in frühster Kindheit war er ein absoluter Freigeist. Durch die Arbeit seines Vaters, ein Agrarwissenschaftler, kam er mit der organischen Welt in Berührung.

Sein Interesse galt dem Verfall, der Anatomie von Kleintieren und Insekten mit denen er „Verwesungsexperimente“ durchführte, sowie tiefe Abgründe und Träume. Diese bizarre Welt prägte den jungen Lynch auf seltsame Weise und spiegelte sich in seinen späteren Arbeiten wieder. Auch wenn er immer wieder betont, in einer perfekten Familie aufgewachsen zu sein und eine glückliche Kindheit hatte, glaubt man ihm das nicht so ganz. Mit Schaudern erinnert man sich noch an den Schwarz-Weiß-Film, der 1977 in die Kinos kam, in dessen furchterregenden Albtraumbildern eine völlig deformierte kleine Frau hinter einer Heizung wohnt und vor sich hinsingt, an das ständig jammernde beinlose, schleimige Mutantenbaby und den rollenden Kopf eines Protagonisten, der auf die Straße rollt. Ein Junge, der den Kopf findet, bringt ihn in eine Fabrik, die aus dem Schädel Radiergummis für Bleistiftenden macht. Titel des surrealen Films: „Eraserhead“.

Es ist schon erstaunlich wie locker und teilweise amüsant dieses Filmgenie aus seiner Kindheit und seinem Studium an der Kunsthochschule „Pennsylvania Academyof Fine Arts“ mit dem Schwerpunkt Malerei, Skulptur und Fotografie, erzählt. Die drei! Filmemacher Rick Barnes, John Nguyen und Olivia Neerggaard-Holm hatten Zugang zu seinem Archiv. Beeindruckend seine überwiegend düsteren Bilder.

„Farbe ist für mich zu real. Sie lässt wenig Platz Für Träume. Je mehr schwarz man zu einer Farbe mischt, um so mehr Traumqualität bekommt sie. Schwarz hat Tiefe. Schwarz ist wie eine kleine Pforte. Man tritt ein und weil es dahinter immer noch dunkel ist, setzt die Phantasie ein und vieles, was da drinnen vor sich geht, manifestiert sich. Man sieht das, wovor man Angst hat“.

Auf seinen Bildern sieht man grob gezeichnete Figuren in grau-schwarzen Farbtönen mit verzerrten Gesichtern, übergroße Insekten und verstümmelte Körperteile. Bilder zwischen Realismus und Albtraum, Angst und Schrecken. Während Lynch in seinem Tonstudio, rauchend und bedächtig seine Kindheits-und Jugendgeschichte erzählt, entdeckt man wie seine Kunst und seine Filme von seinen Erfahrungen und Empfindungen geprägt sind. Auch neue Ideen sind immer von der Vergangenheit geprägt. Eines seiner Bilder trägt den Titel: „Schalt um du Arschgesicht“.

Ulrike Schirm


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"THE LIMEHOUSE GOLEM" von Juan Carlos Medina.
Mit Olivia Cooke, Bill Nighy, Douglas Booth u.a. Hier der Trailer:



Das victorianische London wird von einem Serienkiller in Angst und Schrecken versetzt. Inspektor John Kildare (Bill Nighy) von Scotland Yard wird auf diesen scheinbar unlösbaren Fall angesetzt. Kildare, ein ausgezeichneter Polizist, dem das Gerücht anhängt schwul zu sein, was im London des Jahres 1880 als Makel galt, werden - man kann es fast als Strafe bezeichnen - die Fälle zu lösen, die unlösbar erscheinen, aufgebürdet.

„The Limehouse Golem“, ein Monster, das einen jüdischen Gelehrten, eine Prostituierte und eine gesamte Familie bestialisch ermordet hat, ist immer noch auf freiem Fuss. Und weil sich niemand an diesem mysteriösen Fall, die Finger dreckig machen will, fällt Inspektor Kildare diese Aufgabe zu. Sein Unwesen treibt das Killer-Monster im Londoner Limehouse-Bezirk, ein Viertel mit einem düster anmutendem Nachtleben. Verdächtig scheint ihm ein gewisser John Cree (Sam Reid). Es stellt sich jedoch ganz schnell heraus, dass der selbst umgebracht wurde. Da seine Frau, die Schauspielerin Lizzie Cree (Olivia Cooke) für diesen Mord an ihrem Mann gehängt werden soll, muss sich Kildare mächtig ins Zeug legen, denn er hält Lizzie für unschuldig.

Der Horrorfilm von Juan Carlos Medina (PAINLESS – DIE WAHRHEIT IST SCHMERZHAFT 2012) besticht durch seine grandiose Ausstattung. Aufwendig wurde das düstere und schmuddelige London der 1880er Jahre mit viel Detailbesessenheit rekonstruiert. Man kann Medina attestieren, dass er visuell enorm begabt ist. Leider bleibt die Spannung auf der Strecke. Dem Zuschauer werden derartig viele falsche Fährten gelegt, dass man ermüdet das Interesse an der Suche nach dem wahren Golem verliert. Ohne des souveränen und herrlich trockenen Spiels des wunderbaren Bill Nighy, wäre dieser Gothic-Horror-Thriller ziemlich belanglos.

Ulrike Schirm


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"ALS PAUL ÜBER DAS MEER KAM" - Tagebuch einer Begegnung Doku von Jakob Preuss. Hier der Trailer:



Der Dokumentarfilmer Jakob Preuss begleitet einen Kameruner Flüchtling auf dem Weg in eine ungewisse Zukunft.

„Paul René Nkamani, geb. 1979 in Douala, Kamerun, studierte von 1997 bis 1999 Jura und Politikwissenschaften an der Universität in Douala und war dort Mitglied im Studentenrat. Nach einem Streik wurde er von Universität ausgeschlossen. Danach erhielt er ein Stipendium am Collége April-Fortier in Montreal, jedoch kein Visum für Kanada.

Bis 2011 arbeitete Paul in seinem Heimatdorf als selbständiger Züchter von Ölpalmen, wurde aber aufgrund seiner Stammeszugehörigkeit zunehmend im Dorf angefeindet. Im Dezember 2011 verließ er ohne Visum sein Heimatland, um Europa zu erreichen. Nach Durchquerung der Sahara arbeitete er drei Jahre auf Baustellen in Algerien und Marokko. Im Dezember 2014 erreichte er in einem Schlauchboot die spanische Küste“. Die Überfahrt endet tragisch. Die Hälfte seiner Mitreisenden stirbt.

2014 besuchte Preuss die Flüchtlingscamps vor Melilla um Material für eine Dokumentation über die EU-Außengrenzen zu sammeln. Bei seiner Recherche begegnete ihm Paul. “Ich weiß nicht, ob ich Paul gefunden habe oder er mich“. Paul erzählt ihm seinen Werdegang. Plötzlich ist Paul verschwunden. Als er ihn zufällig in den Fernsehnachrichten unter den Bootsflüchtlingen wiedersieht, nimmt er den Kontakt mit ihm wieder auf und ist an seiner Seite bis zu seiner Ankunft in Europa.

Während der Dreharbeiten stellt sich Preuss immer wieder die Frage, ob und wann er seine Beobachtungsrolle aufgibt und ins Geschehen eingreifen soll und darf. Spätestens dann, als sich zwischen Paul und Jakob eine Freundschaft entwickelt hat und Jakobs Vater Paul bei sich aufnimmt, ihm Deutsch beibringt, verlässt Preuss den klassischen Ansatz des Dokumentarfilms und wird persönlich, indem er eine Verantwortung für seinen Protagonisten übernimmt. Nach viereinhalbjähriger Odyssee, zieht Paul zu Jakobs Eltern in dessen ehemaliges Kinderzimmer. Seine Zukunft ist damit noch längst nicht besiegelt. Der Weg bis zu einer Asylentscheidung ist lang. Aber das wäre ein Thema für einen weiteren Film. Obwohl er einen festen Job hat, wurde sein Antrag abgelehnt. Die Hoffnung stirbt zuletzt.

Ulrike Schirm


Am 23. September 2017 wird Jakob Preuß im Lichtblick-Kino Berlin zu Gast sein und seinen Film um 18:00 Uhr persönlich vorstellen.

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"KILLER'S BODYGUARD" Aktion-Komödie von Patrick Hughes (II). Mit Ryan Reynolds, Samuel L. Jackson, Gary Oldman u.a.
Hier der Trailer:



Bodyguard versus Auftragskiller. Best Buddys sind die beiden nicht. Beide haben schon mehrmals versucht sich gegenseitig abzumurksen. Wie das Leben so spielt, Bodyguard Michael Bryce (Ryan Reynolds) hat den Auftrag erhalten den Auftragskiller Darius Kincaid (Samuel L. Jackson) zu beschützen. Kincaid muss vor dem internationalen Gerichtshof in Den Haag gegen den osteuropäischen Diktator Vladislay Dukhovich (Gary Oldman) in einem großangelegten Prozess aussagen. Bryce muss ihn unbedingt lebend abliefern. Das Dukhovich alles dran setzt, um das zu verhindern, kann man sich ja denken.

Es dauert nicht lange und die beiden gelangen in ein Kugelhagel vom Feinsten. Natürlich können sich beide nicht ausstehen, sind aber auf Gedeih und Verderb dazu verurteilt zusammen zu halten. Während der Ballerei bleibt Kincaid seinem Motto treu: „Unschuldige zu töten, da bin ich raus“. Die Actionkomödie ist von Patrick Hughes („The Expendables 3”³) temporeich inszeniert. Reynolds und Jackson machen keinen Hehl aus ihrer Spielfreude. Den Zuschauer erwartet ein routinierter Actionthriller, indem sich die beiden Hauptdarsteller nicht so ganz ernst nehmen und mit lässigen Sprüchen für Vergnügen sorgen. Wer Originalität erwartet, sollte lieber Zuhause bleiben.

Ulrike Schirm


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"MAGICAL MYSTERY" oder: Die Rückkehr des Karl Schmidt
Komödie von Arne Feldhusen. Mit Charly Hübner, Detlev Buck, Marc Hosemann u.a. Hier der Trailer:



Karl Schmidt war der beste Freund von Frank Lehmann, dem Antihelden aus Leander Haußmanns Biersäufer- und Mauerfallkomödie „Herr Lehmann“. Gespielt wurde er von Detlef Buck. In der Sven-Regner-Verfilmung „Magical Mystery“ erlaubte sich Regisseur Arne Feldhusen („Stromberg - Der Film“) die Rolle des Karl Schmidt mit Charly Hübner zu besetzen, eine gute Entscheidung.

Karls wilde Jahre gehören der Vergangenheit an. Nach dem Alkoholentzug in einer Klapse rührt er keinen Tropfen Alkohol mehr an. Wie sagt er treffend? „Klapper klingt besser als Klappse. Es geht um Schrauben, die locker sind und leise klappern“. Nach seiner Entlassung lebt er in einer betreuten Drogen-WG in Hamburg-Altona. Die ist ziemlich verräuchert, statt Alkohol zu konsumieren, raucht Karl wie ein Schlot. Er hat einen prekären Job als Hausmeister im Kinderkurheim Elbauen angenommen. Durch Zufall trifft er im Eiscafé Romantica seinen alten Kumpel Raimund (Marc Hosemann) wieder, der ihn zu einem Trip nach Berlin überredet, um sich das erfolgreiche Plattenlabel Bumm Bumm Records anzuschauen, das seine alten Berliner Partykumpel inzwischen betreiben. Um der Kur, die sein Betreuer (Bjarne Mädel) ihm vorgeschlagen hat zu entgehen, nimmt er die Einladung in die Hauptstadt liebend gerne an. Er feiert ein Wiedersehen mit Freund Ferdi (Detlef Buck). Er zögert nicht lange und nimmt den Job als Tourfahrer auf der „Magical Mystery“ Tournee durch Deutschland an, sowie damals die Beatles. Mit dem Unterschied, dass es hier um dröhnenden Techno-Sound geht. Eine Herausforderung für den Rekonvaleszenten, denn um ihn herum wimmelt es von Leuten, die den Drogen wahrlich nicht abgeneigt sind. Der wirkliche und einzige Lichtblick in diesem durchgeknallten Techno-Spektakel ist Charly Hübner, der in seiner Rolle als gutmütiger, lebensscheuer Antiheld, sich in eine Djane (Annika Meier) und dann wieder ins Leben verliebt. Es sind die leisen Töne, wenn er darüber spricht wie sich Irresein anfühlt, die einen aufhorchen lassen, oder „ein Tag, den man mit Tiere füttern anfängt, ist kein verlorener Tag“. Besonders berührt seine Trauerrede bei der Bestattung des Meerschweinchens Lolek, was unterwegs verstirbt und sein Mitgefühl mit Meerschwein Bolek, was nun allein ist.

Positiv erwähnenswert ist die 90er-Jahreausstattung, die fürchterlichen Fluxi-Billighotels, in denen die Chaostruppe absteigt, die ersten Mobiltelefone, die aus heutiger Sicht, zum Schmunzeln verführen und viele andere Details. Genervt haben mich die einzelnen Tourstationen, erst Bremen, dann Köln, München, Schrankhusen-Borstel, Hamburg. Überall die gleiche Szenerie.

Technoschuppen machen nur dann Spaß, wenn man wild tanzend zum Inventar gehört. Von außen betrachtet, einfach nur langweilig. Was bleibt, sind die herzerwärmenden Auftritte Charly Hübners.

Ulrike Schirm









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