Skip to content

Die 75. Berlinale verkaufte mehr Tickets als im Jahr zuvor

Bis zum gestrigen Sonntag, den 23. Februar 2025, haben wir von früh bis spät Filmvorstellungen und Preisverleihungen der 75. Berlinale besucht, um darüber zu berichten.



Die Nachfrage nach Tickets bei der Ber­linale war dieses Jahr stärker als im Vorjahr. Die erste Festivalhälfte wurde von gla­mourösen Auftritten am roten Teppich und vollen Kinosälen geprägt, wie Ber­linale-Chefin Tricia Tuttle sagte.

Hollywood-Stars wie Timothée Chalamet, Robert Pattinson und Jessica Chastain hatten in den Berlinale Specials ihre neuen Filme präsentiert, die zum Teil noch diese Woche offiziell in den deutschen Filmtheatern anlaufen werden.

Bereits am späten Freitagabend, den 21. Februar 2025, fand im Silent Green Kulturquartier mit dem Caligari Filmpreis des Forums eine der ersten Preisverleihungen der diesjährigen 75. Internationalen Filmfestspiele statt, bei der wir zugegen waren.

Der Bibliotheksverbund vergab in der Sektion des Forums gemeinsam mit den Kommunalen Kinos den Preis an "FWENDS" von Sophie Summerville aus Australien. Auch der Amnesty International Filmpreis zeichnete dieses Werk aus.

Hier der Trailer:



Synopsis:
"Fwends", ein schnell gesprochener Slang der jungen Generation, der wie Friends klingt, handelt von zwei Freundinnen, die sich über Social Media kennen gelernt haben und nun im Einkaufszentrum von Melbourne treffen wollen, nachdem eine der beiden jungen Rucksacktouristinnen extra aus Sydney angereist kam. Authentische Dialoge während eines Stadtbummels haben auch uns begeistert.


Goldener Bär ging nach Norwegen

Der Coming-of-Age-Film "Drømmer" | Dreams (Sex Love) (deutscher Titel: „Oslo Stories: Träume“) des norwegischen Regisseurs Dag Johan Hau­gerud hat am Samstag, den 22. Februar 2025, den Goldenen Bären der Berli­nale gewonnen.

Die Coming-of-Age-Ge­schichte erzählt von einer 17-Jährigen, die sich in ihre Lehrerin verliebt, de­ren Gefühle aber nicht erwidert werden. Motiviert von Mutter und Oma verarbei­tet die junge Frau ihre Fantasien und ihren Liebeskummer zu einem Roman.

Hier der Trailer:



Den Goldenen Bären für den besten Kurzfilm erkannte die Jury "Lloyd Wong, Un­finished" von Lesley Loksi Chan zu.

Friedensfilmpreis an "Khartoum"

Der Dokumentarfilm "Khartoum" über fünf Menschen und ihre Erlebnisse im Krieg im Sudan erhielt den diesjährigen Frie­densfilmpreis auf der Berlinale. Der Film finde "eine einzigartige Balance zwischen politischer Dringlichkeit und Poesie", so die Grünen-nahe Heinrich-Böll-Stiftung, die den mit 5.000 Euro dotierten Preis mit dem Verein Welt­friedensdienst zum 40. Mal vergibt.

Hier der Trailer:



Für "Khartoum" begleiteten Anas Saeed, Rawia Alhag, Ibrahim Snoopy, Timeea M Ahmed und Phil Cox ab 2022 fünf Men­schen in der sudanesischen Hauptstadt, um ihren Alltag zu zeigen.

Hier die Gewinnerliste der Hauptwettbewerbe in Kurzform:

• Goldener Bär: „Drømmer“ („Dreams (Sex Love)“) von Dag Johan Haugerud, (Norwegen)
• Bester Dokumentarfilm: „Holding Liat“ von Brandon Kramer im Forum, (USA)
• Perspectives: „El Diablo Fuma“ von Ernesto Martínez Bucio, (Mexiko)
• Silberner Bär für eine herausragende künstlerische Leistung: Lucile Hadžihalilović – „The Ice Tower“, (Frankreich)
• Silberner Bär für das beste Drehbuch: Radu Jude für „Kontinental ’25“, (Rumänien)
• Silberner Bär für schauspielerische Leistung in einer Nebenrolle: Andrew Scott in „Blue Moon“ von Richard Linklater, (USA, Irland)
• Silberner Bär für die beste schauspielerische Leistung: Rose Byrne in „If I Had Legs I’d Kick You“ von Mary Bronstein, (USA)
• Silberner Bär für die beste Regie: Huo Meng, „Living the Land“, (China)
• Silberner Bär Preis der Jury (zweitbester Film): „El mensaje - The Message“ von Iván Fund, (Argentinien)
• Silberner Bär Großer Preis der Jury: „The Blue Trail“ von Gabriel Mascaro, (Brasilien)
• Gläsener Bär der Jugendjury von Generation 14PLUS: „Sunshine“ von Antoinette Jadaone, (Philippinen)
• Gläsener Bär der Kinderjury von KPLUS: „Maya, schenkst du mir einen Titel?“ von Michel Gondry, (Frankreich)
• Teddy Award: „Lesbian Space Princess“ Animation von Emma Hough Hobbs & Leela Varghese im Panorama, (Australien)

Darüber hinaus wollen wir aber auch zwei unserer Filmkritikerinnen zu Worte kommen lassen, die von zahlreichen interessanten Filmen aus dem Wettbewerb und der Sektionen für unsere Leser*innen berichten, bei denen auch noch weitere großartige Preise vergeben wurden.


Reginas Favoriten:

"O ULTIMO AZUL / THE BLUE TRAIL" unter der Regie von Gabriel Mascaro. (Brasilien, Mexiko, Chile, Niederlande 2025, Weltpremiere, Silberner Bär - großer Preis der Jury & Preis der Ökumenischen Jury).

Es ist ein Blick in eine dystopische Zukunft, den uns der brasilianische Regisseur und Drehbuchautor Gabriel Mascaro in seinem Film "O ULTIMO AZUL / THE BLUE TRAIL" beschert - Bilder, die bleiben und sich festsetzen.

Mascaros Film spielt in einer nahen Zukunft in Brasilien, in der ältere Menschen nicht mehr gebraucht werden. Sie werden von der Regierung „entfernt“ aus dem gesellschaftlichen Leben, umgesiedelt in abgelegene Seniorenkolonien.

Steigerung der Produktivität ist das Motto: die Alten gehen, die „leistungsfähigen“ Jungen übernehmen.

Was für ein Szenario und doch gar nicht so weit ab von der Realität, wenn man sich die politischen Pläne des populistischen Ex-Präsidenten Bolsonaro anschaut, seine gesellschaftlichen Umwälzungs- und Spaltungsfantasien im Land.

Mascaro entwirft ein fiktives und unheimliches Parallel-Universum. Alte Menschen, die nicht freiwillig „abtreten“ wollen, werden überwacht und schließlich mit Gewalt gezwungen, sich zu fügen. Diesem Schicksal zu entkommen, scheint aussichtslos.

Doch die 77-jährige Tereza, charismatisch und höchst überzeugend gespielt von Denise Weinberg, weigert sich, im staatlichen „Wrinkle Wagen“ weggeschafft“ zu werden.

Sie hat noch einen großen Wunsch: einmal im Leben zu fliegen. Nachdem ihr der legale Weg verweigert wird, begibt sich Tereza auf eigene Pfade und taucht unter. Sie heuert einen Mann an, der bereit ist, sie illegal mit dem Boot zu einen Ort zu bringen, wo noch private Leichtflugzeuge starten.

O ULTIMO AZUL ist ein Roadmovie - exotisch und farbenprächtig und gleichzeitig erschreckend in seinen Bildern der Armut und des Verfalls. Wir schauen Tereza dabei zu, wie sie sich auf eine Reise durch ihr zerrissenes Land begibt, über die Flüsse und Nebenarme des Amazonas.

Eine Landschaft, die bisweilen wunderschön aussieht, dann wieder gezeichnet ist von Umweltschäden und Verschmutzung. Auch die Menschen, denen Tereza begegnet, sind Zerrissene und ihr nicht immer wohlgesonnen. Korruption und Misstrauen regieren das gespaltene Land. Einige helfen der alten Frau, andere nutzen sie aus. Doch dann trifft Tereza auf Roberta (Miriam Socarrás), eine Verbündete.

Das Zusammenspiel dieser beiden Frauen ist faszinierend, selten sieht man ältere Frauen so kraftvoll und charismatisch auf der Leinwand. Gemeinsam schippern sie auf dem Amazonas einer fernen Zukunft entgegen.

Der Film gibt uns ein hoffnungsvolles Ende mit einem Plädoyer an alle Alten und an die, die es mit Sicherheit auch einmal werden: wach bleiben, Wünsche realisieren, Visionen haben.

Ein faszinierendes Roadmovie zum Thema Altersdiskriminierung, das die Balance zwischen harter Realität und magischen Momenten perfekt auspendelt - für mich ein Anwärter auf einen Bären.


+++++++++++++

"WAS MARIELLE WEISS" von Frédéric Hambalek (Deutschland 2025, Weltpremiere). Lobende Erwähnung des Gilde Filmpreises.

Was passiert, wenn das eigene Kind plötzlich alles weiß, was die Eltern tun? Würde es Mutter und Vater dann immer noch bedingungslos lieben? Wie würde das die Familienkonstellation verändern? Diesen Fragen ist Frédéric Hambalek in seiner erstaunlich gut funktionierende Komödie nachgegangen.

Marielle hat sich im Streit mit ihrer Freundin eine heftige Ohrfeige eingehandelt, die Nachwirkungen sind erstaunlich bis unheimlich. Plötzlich hat sie telepathische Kräfte, kann alles sehen und hören, was ihre Eltern treiben.

So konfrontiert Marielle ihre verblüfften Eltern beim Abendbrot mit Wahrheiten, die sich die beiden untereinander nie erzählen würden und schon gar nicht ihr halb erwachsenen Tochter. Zum Beispiel das heimliche Rauchermeeting der Mutter Julia (Julia Jentsch) mit einem Kollegen, inclusive deftigem verbalen Flirt.

„Du rauchst wieder“, fragt Ehemann Tobias (Felix Kramer) schockiert?

Auch das despotische Fehlverhalten Tobias einem Kollegen gegenüber kommt unbarmherzig ans Licht, obwohl er doch gerade noch stolz berichtet hat, wie souverän er die Situation gemeistert habe.

Anfangs können die Eltern nicht glauben, dass Marielle wirklich Gedanken lesen kann. Doch schon bald erkennen sie, dass sie ihr Leben komplett umstellen müssen.

Die Konsequenz: sämtliches Reden und Handeln wird fortan gefiltert und dazu genutzt, sich möglichst einwandfrei und ohne Fehler zu präsentieren - vor der Außenwelt, vor dem Ehepartner und vor allem vor Marielle. Die erkennt sofort jede Verstellung und Lüge. Also wird manipuliert, sich verstellt, jede Situation im Alltag mit Blick auf die allwissende Marielle durchdacht und inszeniert, Manipulation pur.

Hambaleks Film ist eine spannende Versuchsanordnung. Es ist sein zweiter Spielfilm mit eher kleinem Etat gedreht, Förderer sind unter anderem der Deutscher Filmförderfonds (BKM), die Filmförderungsanstalt (FFA) und das ZDF.

Es geht um verborgene Konflikte, die in jeder Familie anfallen, um Heimlichkeiten, unbequeme Wahrheiten, Peinlichkeiten, die gerne unter den Tisch fallen. Geschickt seziert der Film das Rollengefüge im Mikrokosmos Familie.

Dank des ausgeklügelten Drehbuchs und des überzeugenden Schauspieler- Ensembles funktioniert der Film hervorragend. Die Story spitzt sich genüsslich zu und eskaliert in einer gelungenen Balance aus Komödie und Drama.

Ein kleiner Film mit großer Wirkung - preiswürdig.


+++++++++++++

"KONTINENTAL '25" von Radu Jude (Rumänien 2025, Weltpremiere). Silberner Bär für das Drehbuch. Hier der Trailer:



Ein Mann stapft fluchend durch den Wald, er sammelt Flaschen. Als er Rast macht, sieht man neben ihm einen riesigen, brüllenden Dinosaurier. Aus Kunststoff – wir sind in einem Dino-Park.

Es ist das Komische im Tragischen, das Radu Judes Filme stark macht, sein genauer, sezierender Blick auf die Menschen und das Sozialgefüge im Rumänien des 21. Jahrhundert.

In KONTINENTAL '25 erzählt er von einem Obdachlosen in der rumänischen Stadt Cluj-Napoca/ Klausenburg. Als die Gerichtsvollziehern (Eszter Tompa) mit ihrem Trupp auftaucht, um ihn zur endgültigen Räumung seines Quartiers in einem Heizungskeller aufzufordern, erbittet er sich 20 Minuten. Orsolya und ihr Team finden ihn nicht mehr lebend, er hat sich am Heizkörper stranguliert.

Der Tod des Mannes ist der eigentliche Aufhänger des Films, denn Orsolya kommt über diesen schrecklichen Vorfall nicht hinweg. Sie fühlt sich schuldig und versucht vergeblich, in zahlreichen Gesprächen Erleichterung zu finden. Zunächst bei ihrem Mann. Später bei ihrer Mutter, einer gebürtigen Ungarin, die die Rumänen hasst und mit Orbans Faschismus liebäugelt. Man trennt sich im Unfrieden.

Dann wendet sich Orsolya hilfesuchend an eine Freundin. Die beschwichtigt und erzählt von einem Obdachlosen, der vor ihrem Haus kampiere und sie mit seinem Gestank belästige, dem sie aber leider nicht helfen könne und wolle. Aber sie sei Mitglied in einer NGO für Obdachlose, die sie mit Geld unterstütze.

Herrlich, dieser Dialog der beiden Frauen zwischen schlechtem sozialem Gewissen und Rechtfertigung.

Orsolya besucht sogar einen Pfarrer. Nachdem er einen Jungen verscheucht und ihm Prügel angedroht hat, hält er salbungsvolle Reden und empfiehlt Gottvertrauen.

Radu Jude legt den Finger auf die Wunden. Er seziert in einer Mischung aus Drama und Komödie die gesellschaftliche Doppelmoral und ihre Auswüchse, den ausufernden Nationalismus im heutigen Rumänien und die immer extremer werdenden Klassenunterschiede, die Armut und Wohnungsnot im postsozialistischen Staat.

Bombastische Tempel neben verfallenden Wohnsiedlungen und Baracken - Abriss und Neubau für die Wohlhabenden.

Gespiegelt durch die Figur Orsolya thematisiert Radu Jude auch die Diskriminierung der ungarischen Minderheit im ehemaligen Siebenbürgen und die bis heute nicht aufgearbeitete Geschichte der Region, der Grenzen, ethnischen Säuberungen und nationalen Identitäten.

Jude ist bekannt für sein scharfes, hochaktuelles Gegenwartskino. 2021 bekam er für seine bissige Dramödie BAD LUCK BANGING OR LOONY PORN den goldenen Bären auf der Berlinale. Der Film zeigt drastisch die Welt Rumäniens zu Zeiten von Covid - Hass, Sexismus und Nationalismus.

2015 konnte Radu Jude schon einmal auf der Berlinale glänzen. Für seinen Historienfilm im Rumänien des 19. Jahrhundert AFERIM wurde er mit dem silbernen Bären für die beste Regie ausgezeichnet.

KONTINENTAL '25 ist im Vergleich zu BAD LUCK BANGING OR LOONY PORN ein eher ruhiger Film. Er besticht durch intensive, ausgefeilte Dialogszenen.

Immer wieder Thema in KONTINENTAL '25 ist die Diskrepanz zwischen einem geordneten Mittelstandsleben und der stetig wachsenden Anzahl von Menschen, die auf der Straße und im Untergrund leben. Wie verhält man sich, gut gesettelt, in einem Eigenheim mit Mann, Kindern, angesehenem Beruf, angesichts der zunehmenden Armut und Not? Ist das nicht eine Zumutung für den gut situierten Mittelstand? fragt der Film sarkastisch

KONTINENTAL '25 - eine böse Satire und zugleich ein kluger, hochaktueller Film über die heutige Gesellschaft, weit über Rumänien hinaus.

Regina Roland (filmkritik-regina-roland.de)


--------------------

Zweiter Amnesty-Preis an "Die Möllner Briefe"

Nicht nur der australische Film "FWENDS" aus dem Forum, auch der deutsche Film "Die Möllner Briefe" aus dem Panorama bekam den diesjährigen Amnesty Filmpreis der Berlinale sowie den Publikumspreis von Radio 1 des Senders RBB.

"Mit den klas­sischen Mitteln des Dokumentarfilms entfaltet der Film über diese besondere Geschichte eine enorme Wirkung", teilte die Menschenrechtsorganisation Amnesty mit. Im Zentrum des Films ständen hun­derte Briefe, die Menschen aus ganz Deutschland den Betroffenen des tödli­chen Brandanschlags in Mölln schrieben, die diese aber nie erreichten.

Hier der Trailer:



Elisabeths Filmkritik:

"DIE MÖLLNER BRIEFE" von Martina Priessner (Deutschland, 2025 Weltpremiere; 97 Min. ) Mit Hava Arslan, İbrahim Arslan, Namık Arslan, Emircan Arslan, Yeliz Burhan, Gürkan Burhan, Ali Aygün, Ayşe Sonkaya, Emina Yaşar, Nimet Yaşar, İsmahan Yaşar, Cansu Yiğit, Günay Yiğit, Burhan Aktar, Nilüfer Öksüz, Sonja Jansen, Ingo Schäper, Christian Lopau, Jesscia Wappler, Bengü Kocatürk-Schuster, Pelin Arslan, Michaela Rychlá und Nissar Gardi.

Am 23. November 1992 verübten zwei Neonazis Anschläge gegen türkischstämmige Mitmenschen in der Kleinstadt Mölln. Sie bewarfen ein Fachwerkhaus mit 32 Bewohnenden in der Ratzeburger Straße mit Molotowcocktails sowie ein Backsteinhaus in der Mühlenstraße. Drei Menschen, eine Großmutter und zwei Kinder starben, die Familien verloren ihr Zuhause.

Das Erstarken der Rechten, der allgegenwärtige Rassismus, der Hass gegen Fremde war und ist nie aus dem Alltag in der Bundesrepublik verschwunden. Die Opfer dieser Anschläge wurden nicht nur von den unmittelbaren Tätern verletzt. Auch die Handlungen der Gesellschaft und der Politik setzte ihnen im Anschluss zu. Wie gut tut es dann, wenn aus der unmittelbaren Umgebung Solidarität und Mitgefühl kommen. Aus ganz Deutschland kamen 1992 unmittelbar nach dem Anschlag Briefe voller Empathie und Unterstützung. Sogar Kinder schrieben und malten Briefe.

Die Adressaten hatten jedoch keine Adresse und so wurden die Briefe an ein türkisches Teehaus und teilweise an die Gemeinde geschickt, mit der Bitte, diese weiterzuleiten. In einer solch schweren Stunde sich nicht alleine zu fühlen, das macht einen Unterschied. Aber! Dieses Aber kann man gar nicht begreifen. Die Briefe haben die Betroffenen nie erreicht.

Jahre, ach was, Jahrzehnte verstrichen. Es ist nur 5 Jahre her, dass eine Studentin im Archiv der Stadt auf diese Briefe stieß und da sie einen der Überlebenden kannte, fragte sie ihn danach. İbrahim Arslan, der damals seine Großmutter, seine Schwester und seine Cousine verlor, selbst noch ein Kind war, das man in nassen Decken gehüllt in der Küche gefunden hatte, wusste nichts von irgendwelchen Briefen. Er ging dem Hinweis nach.

Das muss man sich versuchen vorzustellen. Die Stadt hatte die Briefe behalten, geöffnet, teilweise sogar beantwortet, und sie dann ins Archiv gegeben. Angeblich hätte man ein Schreiben verfasst, dem man die Briefe beigefügt hätte. Gleichzeitig stand in diesem Schreiben, das auch jetzt erst auftauchte, dass man die Briefe an einem angegebenen Ort einsehen könne.

Hier setzt die Regisseurin Martina Priessner an. Ihrem aufwühlenden Dokumentarfilm kommen die Geschwister Arslan und ihre Mutter zu Wort. Wie so oft zeigt sich auch hier, dass die Politik ihre Gedenken oft um ihre eigene Rolle herumstrickt, bei dem die Betroffenen nur jeweils "eingeladen werden". Es sollte doch wohl anders sein. Priessner folgt İbrahim Arslan, dem älteren Bruder, der den Kontakt zu den anderen Betroffenen suchte und hält, der in seiner Rolle, das Geschehene aufarbeiten, scheinbar Aufgabe und Trost findet. Sein jüngerer Bruder Namik, der zur Tatzeit kein Jahr alt war, wurde von den Ängsten der Eltern fast erdrückt. Ich will nicht alles erzählen, es geht zu Herzen.

Martina Priessner ("Wir sitzen im Süden", 2010; "Die Wächterin", 2020) stellt die Betroffenen in den Vordergrund. Drei der Briefeschreibenden konnten ermittelt werden. Sie stehen stellvertretend für den Teil der Zivilbevölkerung, der nicht schweigt, wenn Mitmenschen aus niederen rassistischen Gründen bedroht werden. Wie wichtig diese Erkenntnis besonders zu einer Zeit ist, in der selbst die Mitte der politischen Landschaft nach "Rechts" abgedriftet ist, muss man gar nicht betonen. Immer wieder werden Teile der Briefe eingeblendet. Man spürt die Anteilnahme und weiß, wie sehr die Familien diese damals gebraucht hätten. Insbesondere weil die Briefschreibenden ihre Worte gut gewählt hatten. Sie schrieben an ihre Mitbürger und Mitmenschen. Ein Wir klingt aus diesen Briefen. Umso größer wirkt der Kontrast zu dem Vorgehen der Stadt, diese sorgfältig in Kartons zu packen und aus den Augen zu schaffen.

Die Briefe, die 2019, 27 Jahre nachdem sie aufgegeben wurden, endlich ihre Adressaten erreicht hatten, wurden nun zum Teil schon digitalisiert. Das Dokumentationszentrum und Museum über die Migration in Deutschland (kurz DOMiD) bewahrt diese Dokumente für die Zukunft auf.

"Die Möllner Briefe" haben bereits einen Verleih. Auf der Berlinale erhielt der Dokumentarfilm sowohl den Panorama Publikumspreis für den besten Dokumentarfilm, als auch den Amnesty-Preis.

Elisabeth Nagy


+++++++++++++

Berlinale Special

"DAS DEUTSCHE VOLK"
Dokumentarfilm von Marcin Wierzchowski. (Deutschland, 2025 Weltpremiere, 133 Min.) Mitwirkende: Çetin Gültekin, Emiş Gürbüz, Selahattin Gürbüz, Said Etris Hashemi, Armin Kurtović, Dijana Kurtović, Ajla Kühn, Piter Minnemann, Iulia Păun, Niiculescu Păun, Dimitra Andritsou, Peter Beuth, Ashkan Cheheltan, Mohammed Beyazkendir, Newroz Duman, Emily Dische-Becker, Nancy Faeser, Hüsna Gültekin, Mert Gültekin, Claus Kaminsky, Hagen Kopp, Boris Rhein, Kim-Selina Schröder, Robert Trafford, Eyal Weizman und Christian Wulff.

Hier der Trailer:



Elisabeths Filmkritik:

Am 19. Februar 2020 wurden in Hanau 8 junge Einwohner und eine junge Einwohnerin dieser Stadt mit "Migrationshintergrund" aus rassistischen Gründen ermordet. Ihre Namen mögen nicht vergessen werden: Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kenan Kurtović, Vili Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu, Ferhat Unvar und Kaloyan Velkov. Der Täter, der sich im Anschluss selbst richtete, ich werde seinen Namen nicht nennen, war kein Unbekannter, sein "Manifest" macht aus seinen rechtsextremen Motiven keinen Hehl.

Marcin Wierzchowski, geboren 1984 in Warschau, lebt nicht weit von Hanau entfernt, in Frankfurt am Main. Ihm war schnell klar, dass es sich bei den Anschlägen von Hanau, der Täter hatte an mehreren Orten gemordet, um ein rassistisches Verbrechen handelt. Rassismus ist ihm selbst nicht unbekannt. Die Stimmung in Deutschland, inzwischen droht man diese zu vergessen, war bereits von den Anschlägen in Halle und von dem Mord an dem Politiker Walter Lübcke, bestimmt. Die Medien taten das Ihrige, um den Fokus auf den migrantischen Teil unserer Gesellschaft zu legen.

Die Versäumnisse der Polizei, die zu den vielen Opfern 2020 in Hanau führte, sind eklatant. Ein Notausgang in einer Bar war, unter der Hand versteht sich, auf Anweisung verschlossen gewesen, damit bei den zahlreichen Razzien niemand entwischen konnte. Die Notrufzentrale der Stadt war veraltet und unterbesetzt. Notrufe wurden nicht angenommen. Die Liste ist lang. Besonders schwer wiegt der Umgang mit den Zugehörigen, die man zuerst abgewimmelte und deren Hinweise auf den Täter nicht gehört wurden. Deren Einwilligung bei der anschließenden Obduktion nicht eingeholt wurde. Der Rassismus setzte sich nach der Mordnacht im Umgang fort.

Aber die Politik bescheinigte der Polizei eine exzellente Handhabung des Ereignisses. Es waren die Hinterbliebenen, die Zugehörigen, die auf eine Untersuchung drängten und schließlich selbst verfolgten. Unter anderem wurde auch bekannt, dass Mitglieder der Sondereinsatzgruppe nachweisbar in rechtsextremistischen Chatgruppen unterwegs waren.

Wierzchowski griff im Februar 2020 gleich zur Kamera. Kurz darauf kam es, Corona bedingt zum ersten Lockdown in der Bundesrepublik. Die Medienvertretenden waren nun nicht mehr vor Ort. Wierzchowski blieb in Hanau. "Das Deutsche Volk" ist auch nicht sein erster Film zu den Ereignissen. Zum Beispiel die Dokumentation "Hanau - Eine Nacht und ihre Folgen" setzte sich mit den Ereignissen nüchtern und präziese auseinander. Der Film von 2021 gewann 2022 den Grimme-Preis.

Die Jury begründete dies unter anderem mit der Aussage: "Die Vielzahl der aufgeworfenen Fragen stimmt fortwährend nachdenklich, die Worte der interviewten Angehörigen und Überlebenden hallen nach, sie erzeugen Gefühle von Scham und Bedrücktheit." Dieser Film ist die Grundlage für seinen ersten Langdokumentarfilm.

In Hanau, der Stadt, die die Grimm-Märchentage ausrichtet, steht prominent ein Denkmal für die Brüder Grimm. "Den Brüdern Grimm - Das Deutsche Volk" steht auf dem Sockel. Was ist das deutsche Volk, fragt sich der Regisseur. Wer gehört zu diesem Volk und wie gehört man zu dem Volk?

Was diesen Dokumentarfilm, eine Ko-Produktion mit dem ZDF, 3sat und dem Hessischen Rundfunk, der hoffentlich auch einen Kinoverleih finden wird, auszeichnet, ist seine

Sachlichkeit, die aber von den Emotionen der Zugehörigen und Überlebenden getragen wird. Wierzchowski wählte den langen Atem, es ist eine Langzeitdokumentation, die den Prozess des Trauerns einfängt und aufzeigt, wie viel sich bewegt, beziehungsweise wie wenig sich bewegt. Hier treten die Zugehörigen immer wieder in den Dialog mit der Politik. Es wird um die Aufarbeitung und um den Prozess der Erinnerung gerungen. Teils gemeinsam, teils eben nicht. Die Trauer vergeht nicht. Sie wandelt sich, sie wird anders. Die Wut, sie wird mal leise und mal laut. Die Hinterbliebenen haben sich von Anfang an zusammengeschlossen. Sie lassen ein Zur-Tagesordnung-gehen nicht zu.

"Das deutsche Volk" wählt das schlichte Schwarz-Weiß und eine klare Bildsprache, die für die große Leinwand bestimmt ist. Der Fokus ist bei den Zugehörigen. Sie haben sich das nicht ausgesucht. Der Film bietet gerade durch seine Nüchternheit und einem respektvollen Begleiten eine Chance, mitzufühlen, zu verstehen. Es wäre zu wünschen, dass ihre Erfahrungen etwas im Publikum auslöst. Nicht nur Empathie.

Niemand kann die Ermordeten zurückbringen. Ihr junges Leben wurde ausgelöscht. Es hätte verhindert werden können. Lehren wurden aus vorherigen Anschlägen nicht gezogen. Darauf weisen auch die Zugehörigen immer wieder hin. Man darf nicht vergessen. Man muss an den Strukturen arbeiten, man muss reflektieren und Lehren ziehen. Es muss Konsequenzen geben. Im Jahr 2025 kocht eine unsinnige Scheindebatte politisch hoch, die drängendere gesellschaftliche Probleme (Bildung, Klima, Pflege und so weiter) an den Rand drängt. Das deutsche Volk wird auch medial immer mehr in ein Herkunftsnarrativ gedrängt. Wir haben nichts gelernt.

Man darf folglich nicht vergessen. Immer wieder steht die Erinnerung im Fokus. Darum hier noch einmal die Namen: Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kenan Kurtović, Vili Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu, Ferhat Unvar und Kaloyan Velkov.

Elisabeth Nagy


+++++++++++++

Generation KPLUS

"ZIRKUSKIND"
Dokumentarfilm von Julia Lemke & Anna Koch (Deutschland, 2025, Weltpremiere; 86 Min. lobende Erwähnung der Kinderjury) Mitwirkende: Georg Frank, Santino, Giordano, Tiana, Angie, Gitano, Sylvia, Markus, Lucio, Melody, Angela, Mercello. Hier der Trailer:



Elisabeths Filmkritik:

Die Reihe "Der besondere Kinderfilm" ist inzwischen fast so etwas wie ein Garant für Kinderfilme, die den Anspruch Kinder gerecht Geschichten zu vermitteln, auch erfüllen. Bisher gab es allerdings nur Spielfilme. Das ändert sich mit dem Film "Zirkuskind".

Dabei hat der Dokumentarfilm über Santino und seine Familie und ihre Tiere und ihr Zirkuszelt durchaus erzählerischen Charakter. Das Regieduo Julia Lemke und Anna Koch (sie nennen sich auch das Badabum Duo) lässt nicht nur den 10, stimmt nicht, mit Beginn der Handlung feiert Santino seinen 11 Geburtstag, einen der jüngeren Kinder von seinem Alltag erzählen, sondern auch den Großvater, der eigentlich der Urgroßvater ist. Georg Frank, genannt Ehe, erzählt in dem wunderbar stimmig aufeinander aufbauenden Erzählungen in der Erzählung von seiner Kindheit, davon wie ein Zirkus immer größer wurde, wie er und seine Frau schließlich ihr eigenes Ding machte. Sie versuchten sogar sesshaft zu werden. Aber ihre Kinder wollte doch wieder auf die Landstraße. Heute ist der Zirkus Arena einer der renommierten Zirkusse und ständig auf Tour.

Das ist dann schon eine Herausforderung. Alle paar Wochen, es gibt schließlich die Schulpflicht, wechselt Santino in eine neue Klasse und stellt sich den Fragen. Da wird auch nach den Tieren gefragt und nein, Wildtiere hat Santinos Zirkus nicht mehr. Einmal lautet die Frage, wie lange er das denn noch machen müsse. Ganz selbstverständlich antwortet er darauf, dass er das sein ganzes Leben lang machen werde und seine Kinder dann später auch einmal. Weil, so einen Zirkus, der wird von Generation zu Generation weitergegeben. Das kann man sich fast gar nicht vorstellen.

Julia Lemke und Anna Koch, beide haben 2016 das Studium an der dffB mit dem zum Beispiel in Hof ausgezeichneten Dokumentarfilm "Schultersieg" abgeschlossen, begleiten den Zirkus über vier Jahreszeiten hinweg. Auf sogenannte Talking Heads verzichten sie. Die Erzählungen werden durch Animationen, gestaltet von Magda Kreps und Lea Majeran, lebendig auf die Leinwand gebracht. Es gibt viel zu erzählen. "Opa Ehe" entstammt einer langen Tradition von Familienzirkussen. Da erzählt der Opa auch, dass sie in der NS-Zeit als Sinti verfolgt wurden. Er erzählt aber auch von dem Elefanten August, der in der Manege Sahib genannt wurde. Es ist auch nicht immer alles eitel Sonnenschein. Die Zirkusleute, sie nennen sich Komödianten, sind eine Großfamilie. Sie binden alle mit ein, jede und jeder muss sich einbringen. Man hat eine Aufgabe und man trägt zu einem großen Ganzen etwas bei. Das sind Werte, die es heute, wo wir vermehrt uns in immer kleinere Gruppen aufsplittern und jeder für sich selbst versucht einzustehen, wieder zu vermitteln gilt.

Im Herbst 2025 soll "Zirkuskind" auch ins Kino kommen. Später wird der Film dann als Vierteiler auch ins Fernsehen gebracht.

Elisabeth Nagy


Link: www.berlinale.de


Anzeige

Trackbacks

Keine Trackbacks

Kommentare

Ansicht der Kommentare: Linear | Verschachtelt

Noch keine Kommentare

Kommentar schreiben

Standard-Text Smilies wie :-) und ;-) werden zu Bildern konvertiert.
Die angegebene E-Mail-Adresse wird nicht dargestellt, sondern nur für eventuelle Benachrichtigungen verwendet.

Um maschinelle und automatische Übertragung von Spamkommentaren zu verhindern, bitte die Zeichenfolge im dargestellten Bild in der Eingabemaske eintragen. Nur wenn die Zeichenfolge richtig eingegeben wurde, kann der Kommentar angenommen werden. Bitte beachten Sie, dass Ihr Browser Cookies unterstützen muss, um dieses Verfahren anzuwenden.
CAPTCHA

Formular-Optionen

Kommentare werden erst nach redaktioneller Prüfung freigeschaltet!