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Vier außergewöhnliche Kinostarts in der 22.+23. KW 2024

Auch wenn wir von der Chefredaktion derzeit gesundheitlich ausspannen müssen, wie hier berichtet, schreiben unsere Filmkritikerinnen gern weiter von ihren Kinoeindrücken.



"KULISSEN DER MACHT" Dokumentation von Regisseur Dror Moreh und Drehbuchautor Oron Adar. (USA / Großbritannien / Belgien / Norwegen / Niederlande / Dänemark / Deutschland / Frankreich/ Israel, 2022; 135 Min.)
Mitwirkende: Henry Kissinger, Colin Powell, Madeleine Albright, Samantha Power, Antony Blinken, James Baker, Leon Panetta, Paul Wolfowitz, Sandy Berger, Anthony Lake, Nancy Soderberg, Ben Rhodes, Denis McDonough, Michael Mullen, George Moose, Wesley Clark, Derek Chollet, Jaek Sullivan, Leon Fuerth, John Shattuck, Prudence Bushnell, Peter Galbraith, Richard A. Clark, Wael Alzayat, Rob Malley, Laura Lane, Chuck Hagel, Stephen Sestanovich und James Collins seit 30. Mai 2024 im Kino. Hier der Trailer:



Elisabeths Filmkritik:

Ursprünglich bezog sich der Aufruf "Nie wieder" auf "Nie wieder Faschismus". Ein "nie wieder" sollte eine Maxime sein, dass sich die Verbrechen der Nationalsozialisten nicht wiederholen mögen. Der Ursprung geht wohl noch weiter zurück. Aber auf dieses "Nie Wieder!" hat sich die Weltgemeinschaft als Erinnerung an vorherigen Menschheitsverbrechen geeinigt und in diesem "Nie Wieder!" hat man sich auch zusammengefunden. Die Vereinten Nationen haben 1948 eine Resolution verfasst, die Völkerrechtsverbrechen unter Strafe stellt.

Der israelische Regisseur Dror Moreh, bekannt geworden für "Töte zuerst – Der israelische Geheimdienst Schin Bet" (2012, im Orignal "The Gatekeepers"), setzt mit den Gräueltaten der Nazis und ihrem Völkermord an den Juden an. Die Alliierten, die von den Verbrechen durchaus Kenntnis hatten, hätten zum Beispiel die Gleise, die die Transporte in die Konzentrationslager ermöglichten, mit Lufteinsätzen zerstören können. Sie taten es nicht. Ein "Nie wieder!" galt damals folglich als Versprechen und in den folgenden Jahrzehnten als ein Motto der Erinnerung.

Doch immer wieder kommt es seitdem zum Völkermord. Immer wieder wird die Weltgemeinschaft Zeuge von Kriegsverbrechen. Was tut man also? Wie viel ist dieses "Nie wieder" wert?

Dem geht Dror Moreh nach, in dem er konkret auf die gravierendsten Brennpunkte der Nachkriegsgeschichte eingeht. Bosnien, Kosovo, Kuweit, Ruanda, Libyen und Syrien sind die Stationen, die hier konkret eingebunden werden in thematische Kapitel. Dror Moreh zeigt uns nicht nur aussagekräftiges Archivmaterial, sondern, und das ist der tatsächliche Blick hinter die Kulissen, spricht mit den Akteuren selbst. Dabei handelt es sich um ein Langzeitprojekt.

Auslöser für den Film war der Konflikt in Syrien. Anders als in Libyen schritten die USA in Syrien nicht ein. Warum? Barack Obama zeigte damals eine rote Linie auf, und als diese überschritten wurde, als das Assad-Regime seine eigene Bevölkerung mit chemischen Waffen töten ließ, wurde immer noch nicht gehandelt. Zurecht fragte sich Dror Moreh, wie es dazu kommen konnte. Er fragte sich, was da eigentlich bei Krisenstabsitzungen besprochen wird. Es sind also nicht mehr oder weniger gute Experten und Expertinnen, die hier Auskunft geben, sondern der Regisseur spricht mit denen, die jeweils Entscheidungen fällen mussten und gefällt haben.

Wer jetzt denkt, die da oben reden sich schon raus. Weit gefehlt. Dror Moreh fand Zugang zu dem innersten Zirkel der Entscheidenden, die vor seiner Kamera eben nicht ausweichen, sondern vom Prozess der Entscheidungen sprechen, Fehler einräumen, und teilweise um Fassung ringen. "Kulissen der Macht" ist ein langer und komplexer Dokumentarfilm, der es dem Publikum nicht leicht macht, der aufwühlt, der sicherlich zahlreiche Betroffene triggern könnte. Doch zieht er einen in den Bann. Man hört zu, man begreift, was man vielleicht früher ausgeblendet oder schon vergessen hatte. Man erfährt aber auch, welche Mechanismen die Akteure an der Macht zum Handeln beziehungsweise zum Nicht-Handeln bewegt hat und welche Konsequenzen daraus resultieren.

Man könnte, mit Recht sagen, der Dokumentarfilm "Kulissen der Macht" sei angesichts der politischen Nahost-Weltlage aktueller denn je. "Kulissen der Macht" trägt das Produktionsjahr 2022 im Abspann. Selbst die Trump-Ära wird nicht mehr behandelt. Doch die Hauptaussage ist unter anderem, dass die Problematik, ob die Weltgemeinschaft in einen Konflikt eingreift oder nicht, immer wieder neu verhandelt wird. Uns bleiben nur die Erkenntnis und die Lehre, dass man nicht wegschauen darf.

Elisabeth Nagy


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"THE END WE START FROM" Katastrophenfilm von Mahalia Belo, der am 30. Mai in Potsdam Dieter Kosslicks erstes "Green Visons" Umweltfilmfestival als einer von zwei bedeutenden Werken eröffnete. (Großbritannien, 2023; 102 Min.) Mit Jodie Comer, Benedict Cumberbatch, Joel Fry, Katherine Waterston u.a. seit 30. Mai 2024 im Kino. Hier der Trailer:



Ulrikes Filmkritik:

Es regnet und regnet, Wohnungen laufen voll Wasser, die Straßen sind überschwemmt. Großbritannien leidet unter einer beängstigten Flut. Das normale Leben wird regelrecht ertränkt. Eine Sintflut hat die Zivilisation zerstört.

Eine hochschwangere Frau (Jodie Comer) bringt einen Sohn zur Welt. Als sie zur Entbindung fahren und im Stau stehen, sieht man London im Chaos. Sie und ihr Mann (Joel Fry) finden Unterkunft bei seinen Eltern auf dem Land, deren Ort noch nicht überschwemmt ist. Der Schein trügt jedoch. Von Sicherheit kann nicht die Rede sein. Auch die Nachbarn kämpfen um die letzten Nahrungsmittel.

Der Mann macht sich mit seinen Eltern auf die Suche nach etwas Essbarem. Die Frau bleibt allein mit ihrem Baby Sepp zurück. Plötzlich stehen Fremde vor der Tür. Die Frau gibt ihnen eine wässrige Suppe zu essen und sie gehen wieder. Aber dann wird es doch noch übel: Der Mann und sein Vater kommen blutverschmiert ohne die Mutter zurück. Je länger die Überflutung dauert, desto mehr Plünderer und Mörder machen sich auf den Weg und vergreifen sich an dem Bisschen, was den Menschen noch übriggeblieben ist.

Die junge Mutter findet Zuflucht in einer Notunterkunft. Der Vater hat es nicht verkraftet, dass er Mutter und Kind nicht beschützen kann. Er bleibt verzweifelt und ist verschwunden.

Die Frau freundet sich mit einer anderen Frau (Katherine Waterston), die auch einen Säugling dabeihat, an. Aber auch hier ist man vor Gefahren nicht sicher, denn die Unterkunft wird überfallen.

Es beginnt eine Odyssee von Unterkunft zu Unterkunft. Wenigstens ist die Frau nicht mehr allein. Aber nicht lange. Die andere Frau mit dem kleinen Mädchen ist traurig, weil die Frau mit Sepp geht. So richtig, weiß sie nicht wohin. Der Himmel ist grau, doch es regnet nicht. Ganz viele Menschen irren umher und suchen nach Vermissten.

Unbeirrt muss sie sich und ihr Kind schützen. Wie lange kann das noch gut gehen?

Was diesen Film so besonders macht ist, dass er ohne spektakuläre Katastrophenbilder auskommt, sondern sich auf seine Protagonistin konzentriert, die mit dieser schrecklichen Situation allein fertig werden muss und wie tapfer und unaufgeregt sie das schafft. Jodie Comer spielt die namenlose Heldin ganz großartig. Man könnte es eine „One Women-Show“ nennen.

Was diesen Film zusätzlich so anders macht, ist die Tatsache, dass dieses Schicksal uns alle treffen kann. Man muss nur an die Klimakatastrophe denken, vor der wir nicht geschützt sind. Wir haben es hier mit einem Horrorfilm zu tun, der nicht dem gängigen Genre entspricht, aber dennoch der pure Horror ist. Eine Apokalypse, die man sich nicht vorstellen will, die aber dennoch sehenswert ist, dank der Hauptdarstellerin.

Ulrike Schirm


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"KING'S LAND" Historiendrama von Nikolaj Arcel mit Mads Mikkelsen und Amanda Collin vor grandioser Naturkulisse, emotional packend. (Dänemark / Deutschland / Tschechien / Schweden, 2023; 127 Min.) Ab 6. Juni 2024 im Kino. Hier der Trailer:



Ulrikes Filmkritik:

Dänemark, 18. Jahrhundert. Ludvig Kahlen (Mads Mikkelsen), ein unehelicher Sohn eines Adligen, hat es beim deutschen Militär zum Hauptmann gebracht. Nach dem Ende seiner Militärzeit, will er sich endlich dem Wunsch König Frederik V. anschließen und die Kolonisierung der verwilderten Jütländer Heide in Angriff nehmen. „Es wird höchste Zeit, dass Gottes Licht über der Heide erstrahlt“, bemerkt der Pfarrer.

Kahlen ist überzeugt, dass er der Richtige dafür ist. Er hat Ahnung von Landwirtschaft und bringt aus Deutschland Säcke mit geheimem Saatgut mit.

Bisher sind alle Versuche gescheitert. Die königlichen Beamten lassen Kahlen erst mal machen und melden dem König, einen Veteranen der holsteinischen Armee gefunden zu haben, der die Heide wieder urbar machen will. Bei Erfolg wird ihm sogar ein Adelstitel versprochen. Er lässt sich auf das Abenteuer ein und fängt an sich ein Haus zu bauen. Doch dann taucht ein erbitterter Gegner auf. Gutsherr Schinkel, der sich mit „De Schinkel“ ansprechen lässt, ein hinterhältiger, tyrannischer Schurke alten Schlags. Er erhebt Anspruch auf die Heidelandschaft, obwohl sie nicht unter seiner Verwaltung registriert ist. De Schinkel (Simon Bennebjerg) versucht mit aller Macht zu verhindern, dass jemand die Heide in Besitz nimmt. Ludvig soll schleunigst verschwinden. Sein Pferd wurde getötet. Kahlen ist nicht ganz allein auf sich gestellt. Er hat eine Gruppe von Außenseitern, die sich die „Rechtlosen“ nennen, um sich geschart. Doch aus Angst vor Schinkel, der dreist behauptet, es sei sein Land, ziehen sie sich zurück. Ein kleines Mädchen hat sich ihm angeschlossen. Sie nennt ihn: „Der kleine Paps“. Als erwachsene Frau arbeitet sie für ihn.

Das Historienepos basiert auf Ida Jessens Roman „Kaptajnen og Ann Barbara“. Regisseur Nikolaj Arcel, bekannt durch seine spannende Stieg-Larsson-Filmreihe, hat mit „King's Land“ einen nordischen Western gedreht, in dem es um Macht, Klassenunterschiede und Reichtum geht.

Mikkelsen als stoischer Einzelgänger, der sich absolut sicher ist, alles allein zu bewerkstelligen, bis er begreift, dass es nicht so ist, spielt seine Rolle grandios. Kameramann Rasmus Videbaek sorgt für beeindruckende Naturaufnahmen in Weitwinkel – Perspektive und emotionalen Momenten.

Ulrike Schirm


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"MAY DECEMBER" Drama von Todd Haynes vom letztjährigen »Festival de Cannes«, um einen früheren Sexskandal, der verfilmt werden soll. Mit Julianne Moore und Natalie Portman in einem Gefecht um Wahrheit und Schein. (USA, 2023; 113 Min.) Mit Natalie Portman, Julianne Moore, Charles Melton u.a. seit 20. Mai im Kino. Hier der Trailer:



Ulrikes Filmkritik:

Gracie Atherton-Yoo (Julianne Moore) hat die Schauspielerin Elizabeth Berry (Natalie Portman) zu einer Party auf ihrem Anwesen eingeladen. Gracie lebt mit einem weitaus jüngeren Mann zusammen. In den 80er und 90er Jahren hatte die damals 36-jährige Gracie eine Affaire mit einem 13-jährigen Jungen, der in derselben Klasse wie ihr Sohn war und saß dafür im Gefängnis. Es gab einen Riesenskandal, für die Boulevardpresse ein gefundenes Fressen.

Nach Gracies Entlassung aus dem Gefängnis heirateten die Beiden und gründeten eine Familie. Die beiden Kinder aus dieser Ehe sind fast erwachsen und verlassen bald das Haus, um aufs College zu gehen. Sie führen ein scheinbar perfektes Leben in der Vorstadt, haben ein Haus mit einem schönen Garten und nette Nachbarn.

Nun, nach fast zwanzig Jahren, soll die bekannte Hollywood-Schauspielerin Elizabeth Berry in die Rolle von Gracie in einer Verfilmung dieser Geschichte schlüpfen und besucht deshalb das Paar Joe (Charles Melton) und seine Frau Gracie, um deren Leben kennenzulernen und ihre Rolle so authentisch wie möglich zu spielen, denn der Film soll eine authentische Geschichte über Missbrauch, Trauma und Liebe werden.

Dazu führt sie Gespräche mit Menschen, die Gracie damals sehr nahestanden, wie ihr Ex-Mann und den Kindern aus der ersten Ehe. Elisabeth ist aus dem Alltagsleben der Familie kaum noch weg zu denken. Sie schleicht sich regelrecht hinein und stellt fest, dass deren Beziehung so einige Risse enthält und gerade bei Joe kommen schmerzliche Gefühle ans Tageslicht.

Zwischen den beiden Frauen entwickelt sich so etwas wie eine seltsame Freundschaft, von der man auch nicht genau weiß, ob das echt ist, oder nur so getan wird. Sie geht sogar so weit, dass sie im Lagerraum einer Tierhandlung in dem Gracie und Joe zum ersten Mal Sex hatten, das Geschehen in verschiedenen Positionen versucht nachzuspielen.

Man kann es schon fast investigativ nennen, wie sie sich verhält. Gracie rastet einmal aus: „This isn't a story. This is my fucking Life“. Bestimmte Fragen mag Gracie gar nicht zu beantworten. Sie ist eher damit beschäftigt, sich in einem guten Licht darzustellen. Mal bezeichnet sie sich als naiv, ein anderes Mal als selbstsicher. Hinzu kommt, dass Elizabeth gerade mal so alt ist wie Joe. So nebenbei erfährt sie, dass die Nachbarn nur aus Gefallen die gebackenen Kuchen von Gracie kaufen. Eine Nachbarin hat den Kuchen, den sie schon gebacken hat, wieder abbestellt. Gracie bricht in Tränen aus. Ab und zu erhält die Familie anonym verschickte Postsendungen mit Exkrementen.

Auch Joe bricht in Tränen aus als er mit seinem großen Sohn zusammensitzt und weiß, dass es wahrscheinlich das letzte Mal sein wird, bevor er zur Uni geht. Der Abschied fällt ihm schwer.

Joe wirkt eigentlich selbstsicher sensibel und glücklich, doch dann wieder verzweifelt und zerrissen. Mit viel Liebe beschäftigt er sich mit der Züchtung von Monarchfaltern. Er ist ein Mensch in einer Lebenskrise.

Wie gut kann eigentlich ein fremder Mensch einen anderen kennen und wie gut kennt man sich eigentlich selbst? Fragen die in diesem Melodrama eine Rolle spielen. Von Elizabeths Fragen nach Schuld und Verantwortung, will Gracie nichts hören. Eine Weigerung, mit sich selbst ehrlich zu sein. Elizabeth überschreitet mehr und mehr ihre Grenzen, bis man begreift, dass auch sie diese Geschichte für sich ausschlachten will. Spielt hier jeder jedem etwas vor? Wer nutzt hier wen aus.

Nicht ohne Grund platziert Regisseur Todd Haynes („Vergiftete Wahrheit“, 2019, „Carol“, 2015, „I'm not there“ 2007, „Dem Himmel so fern“, 2002 ) seine beiden hervorragenden Hauptdarstellerinnen vieldeutig vor Spiegel. Es ist seine sechste Zusammenabeit mit Oscarpreisträgerin Julianne Moore. Am Ende des intrigenreichen, aber auch amüsanten Dramas hält Natalie Portman in der Rolle der Gracie einen grandiosen Monolog.

Ulrike Schirm


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