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Erste Filmkritik zu Kinostarts in der 48. KW 2022 - diesmal mit einem Interview

Am Donnerstag, 30. November 2022 sind wieder neue Filme im Kino angelaufen. Zu einem steuert BAF-Mitbegründerin Angelika Kettelhack ein Interview bei.



„EINE FRAU“ heißt der neueste Film von Jeanine Meerapfel, Präsidentin der Akademie der Künste in Berlin, der nach vielen internationalen Festival-Teilnahmen nun endlich am 1. Dezember 2022 in die deutschen Kinos kam.

"EINE FRAU" Dokumentation von Jeanine Meerapfel über die sehr persönliche, traurige Lebensgeschichte ihrer Mutter (Deutschland, 2021; 104 min.) Seit 1. Dezember 2022 im Kino. Hier der Trailer:



Filmeinführung von Angelika Kettelhack:

„Eine Frau“, der 16. Film von Jeanine Meerapfel, wurde auch schon in diesem Sommer im Rahmen des 28. JFBB, dem „Jüdischen Filmfestival Berlin-Brandenburg“ gezeigt und erhielt dort den mit 2.000 € dotierten „Preis für den inter-kulturellen Dialog“.

Die Begründung der Jury lautete: „Der Film stellt große Fragen über die Leerstellen des 20. Jahrhunderts in einer einzigartigen poetischen und filmischen Sprache.“

Mit einer besseren Interpretation lässt sich Jeanine Meerapfels dokumentarischer Film „Eine Frau“ kaum beschreiben. Sie selbst sieht diesen Film als ein Essay über die Schicksale von Frauen in der Zeit des Nationalsozialismus und deren Folgen in den Nachkriegs-Jahren, die sogar oft „bis ins HEUTE“ reichen.

Jeanine Meerapfel bezeichnet sich selbst bei diesem Film nicht als Regisseurin, sondern als eine Filmemacherin, die mit Hilfe einer dokumentarischen Arbeit entlang ihrer eigenen Lebenserfahrungen ein Film-Essay entwickelt hat. Ein Film-Essay, das aber dennoch nicht ihre eigene Geschichte erzählen soll, sondern die Geschichte einer Frau — und damit die Geschichte einer besonderen Frau, die aber gleichzeitig als Beispiel für die Geschichten von unzähligen Frauen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gelten soll.

Aus dieser Zeit (bis etwa 1960) schöpft Jeanine Meerapfel ihre Erfahrungen: Denn sie wurde in Buenos Aires als Tochter einer Französin und eines aus Deutschland stammenden Fabrikanten geboren, der als Jude nach langen Jahren der Flucht vor dem Terror der Deutschen dann letztlich mit seiner Frau in Argentinien Asyl gefunden hatte.

Am Beispiel ihrer Mutter Marie Louise Chatelaine (die kurz Malou genannt wurde) erzählt Jeanine Meerapfel –– die Ihr Handwerk als Filmregisseurin an der Ulmer Hochschule für Gestaltung von 1964 bis 1968 bei Alexander Kluge und Edgar Reitz erlernte –– also sehr vorsichtig und zurückhaltend ihre eigene Familiengeschichte, die sowohl als einmalige und als auch in ihren Folgen als immer noch andauernde Zeitgeschichte erkennbar wird: Ihr Film will in jedem Fall ein Essay über eine erzwungene Rastlosigkeit sein, die durch die politisch notwendig werdenden Ortswechsel der Mutter, die zunächst nur von Chalon-sur-Saône in Burgund in Frankreich über Straßburg nach Untergrombach im Badischen nach Deutschland führten. Erzwungene Ortswechsel, die sich später dann aber als Flucht über Amsterdam nach Buenos Aires weiter fortsetzten.

Durch die mit Bedacht ausgewählten Bilder des Kameramannes Johann Feindt, die musikalisch ungewöhnlichen Klänge des Komponisten und Musikers Floros Floridis und die nachdenklichen Kommentare der Regisseurin entsteht ein Werk über das der Zuschauer sich wahrscheinlich – oder besser hoffentlich – noch lange Zeit Gedanken macht. Zum Glück zeichnete sich dies bei den vielen sehr vorsichtigen und tastenden Fragen und Interpretationen ab, die es bei einigen gesonderten Vorab-Aufführungen des Films schon gab, der aber nun endlich am 1. Dezember 2022 offiziell in die Kinos kam.


Im Anschluss an die Vorführung führte Angelika Kettelhack mit Jeanine Meerapfel ein Interview. Die beiden kennen sich noch aus früheren Zeiten als die heutige Präsidentin der Akademie der Künste in den 1980er und 1990er Jahren ebenfalls noch bei uns im Berliner Arbeitskreis Film e.V. (BAF) Mitglied war.

INTERVIEW mit Jeanine Meerapfel:

Jeanine, Du sagst Dein Film ist ein Mosaik der Erinnerungen, angelehnt an die Biographie Deiner Mutter. Wann hast Du entdeckt, dass Deine Mutter mit einem Gefühl der ständigen Heimatlosigkeit zu kämpfen hatte — so wie auch viele andere tausende Menschen seit der Zeit des Nationalsozialismus?

Das habe ich, glaube ich, gar nicht entdeckt. Sondern ich kann es aus der Geschichte meiner Mutter ablesen: Aus dem positiven und dem verhängnisvollen Schicksal einer Frau, die als Waise in Frankreich auf die Welt kommt und dann diesen langen Weg macht über die Stationen von Frankreich über Deutschland und Holland bis nach Argentinien — ohne jeweils die neuen Sprachen richtig erlernen zu können. Das ist etwas, das ich nicht entdecken musste, sondern das ist eine Tatsache, die ich wahrscheinlich immer schon wusste — womit ich mich aber künstlerisch nicht beschäftigt hatte bis ich jetzt endgültig gedacht habe, es lohnt sich, sich damit auseinander zu setzen, weil es ist eine der tausend und abertausend Millionen Geschichten von Frauen, die ähnliche Erlebnisse hatten und heute noch haben wenn sie das Land, ihrer Herkunft verlassen müssen — um letztendlich dann allein zu bleiben. Das hat mich einfach interessiert als Historie. Und dann auch als Filmthema. Denn ich dachte, das ist so etwas, was so unendlich viele Menschen noch heute miterleben, wenn sie mitkriegen was Emigration ist und auch wenn sie sehen wie viele Beziehungen kaputt gehen — auch in der heutigen Zeit und in der Situation des Exils.

Entstand dieses Gefühl des Verlorenseins Deiner Mutter erst durch die Exil-Erfahrung oder lag es schon an der mangelnden Zuwendung in ihrer eigenen Familie? — Und wolltest Du diesen Mangel an Geborgenheit bildlich konterkarieren durch das Drehen dieser ganz exakt beschnittenen Baum-Allee, die Du in Chalon-sur-Saône gefunden hast?

Das ist ja eine schöne Interpretation! — Die war mir bisher noch nicht eingefallen. Ich habe diese Allee eigentlich nur gedreht weil ich das absolut lustig aber auch aufwendig fand wie man dort die Bäume mit Hilfe von Helikoptern beschneidet. Und Du hast Recht: Es gibt Leben, die einen solchen Geradeaus-Weg haben, an den man sich halten kann.

Wie hat Deine französische Mutter es geschafft, ständig neue Sprachen zu lernen? Zuerst in Deutschland. Dann in Holland. Und dann auch noch Spanisch in Argentinien?

Auf Deutsch hat sie kaum mit mir geredet. Holländisch nie. Und Spanisch hat sie nur mit schwerem Akzent gesprochen — so wie übrigens meine ganze Familie.

Und wie hat sie es eigentlich geschafft in der relativ reichen Familie Deines Vaters eine Position zu finden?

Das Thema des Films ist doch ein anderes: „Wie gehen wir mit Geschichte um? Wie gehen wir mit Gedächtnis um? Wie mit unseren Memoiren, mit den Erzählungen der Eltern und Großeltern? Und wie gehen wir auch physisch mit dem Material um, wie etwa den Fotos, die uns überlassen wurden. Und noch ausschlaggebender war in diesem Fall ja auch noch das 8mm-Filmmaterial. Als ich an-fing, mir das anzuschauen, wurde mir sofort klar: Das ist zu brüchig. Ich mache das kaputt wenn ich das jetzt durch den Projektor jage. Deshalb habe ich erstmal alles digitalisieren lassen. Und dann hat mich das Material wirklich begeistert.

Weiß man, wer das gedreht hat?

Wahrscheinlich mein Vater. Die Filmrollen waren ja alle noch in solchen Kästchen wie Du in meinem Film sehen kann. Das war ein ziemlicher Aufwand das alles möglichst zeitrichtig, zeitgenau hintereinander zu kleben und dann erst zum Digitalisieren zu bringen. — Ich war aber sehr froh als ich das alles gesehen habe, was ich ja noch nicht kannte und nicht wusste in welcher zeitlich richtigen Abfolge der Geschichten ich das ordnen musste.

Ja, und dann die damaligen Fotos. Die hatten ja noch bewusst zackig beschnittene Ränder. Die sind ja auch ein Zeichen der vergangenen Zeit. Wieder etwas, das man beachten muss.

Ja, und mein Kameramann Frido Feindt meinte: „Wir brauchen unbedingt Kopien dieser Fotos.“
Und die neuen Kopien hatten dann natürlich exakt gerade beschnittene Ränder. Aber ich konnte mir eine spezielle Kinder-Schere von einem Freund leihen. Im Film sieht man ja wie ich die Fotos so nach und nach – wie damals üblich – beschneide.

Hast Du irgendwann erkannt, dass Du entlang der Geschichte Deiner Eltern auch Deine eigene damalige Geschichte erzählen konntest?

Nein, tue ich nicht! Es ist nicht meine Geschichte. Es sind immer nur Momentaufnahmen von meiner Schwester und mir aus der Kinderzeit. Echt, diese ganzen privaten Zugänge sind nicht das, was mich interessiert hat. Aber das, was mich interessiert hat, ist die Biographie dieser Frau zu benutzen, die meine Mutter ist. Auch um zu erzählen wie man mit Geschichte umgehen kann, um daraus etwas anderes zu machen.

Mir geht es vielmehr um – jetzt sage ich ein großes Wort – um das Kunstwerk, um das Werk, um das Essay. Es hätte ja auch ein geschriebenes Essay sein können. Aber da ich Filmemacherin bin, finde ich es viel spannender sich mit diesen Bildern auseinander zu setzen. Manches ist ja auch zusätzlich bei den Dreharbeiten in Chalon-sur-Saône gefunden oder erfunden worden: Die Bäume oder die Fabrik. Das ist alles Erfindung. Meine Mutter war ja nie in einer Fabrik. Sie war auch nicht in diesem Foto-Museum. Das hat mit ihrer eigenen Geschichte nichts zu tun.

Womit hat es denn zu tun? Mit Frauen-Arbeit?

Nein. – Oder doch: Fabrik hat ja mit Frauen-Arbeit zu tun. Ich sage damit ja nur, wenn sie in ihrer Stadt geblieben wäre – vielleicht hätte sie dann dort in dieser Fabrik gearbeitet. — Alles eine volle Vermutung. Musste ja nicht so sein… Aber ich gehe in dieses Foto-Museum weil mich die Geschichte dieses Fotografen interessiert und frage mich ob meine Mutter überhaupt wusste, dass dieser Fotograf der berühmte „Sohn“ von Chalon-sur-Saône ist.

Alles Annahmen, alles Vermutungen. Alles erfundene Geschichten. Also eigentlich wie wenn Du einen Spielfilm machst. Ja! — Eine Erzählung. Und so geht der ganze Film. Da gibt es Momente und Teile, die sehr stark an dem Leben, an der Geschichte von Marie Louise Chatelaine angedockt sind weil es ihre Geschichte ist. Aber ganz viel ist Fantasie. Einfach der Versuch eine Geschichte zu erzählen. Wie geht man mit Geschichte um? – Das ist es eigentlich ! — Es ist wirklich ein Essay. Dafür sind eben die vorgefundenen Dinge der Ausgang.

Aber es geht ja doch von vorgefundenem Material aus, das von Dir persönlich bearbeitet wird. Das ist dann schwierig für den Zuschauer sich immer wieder zu sagen: „Nein, das ist ja nur eine Erzählung!“

Muss er ja auch nicht. Du kennst mich. Aber der Zuschauer kennt mich nicht… Und die Menschen gucken sich diesen Film an und können damit etwas anfangen und dann auf sich zurück beziehen, auf ihren eigenen Umgang mit Geschichte, die etwas mit Emigration und Exil zu tun hat. Und sie können sich durch den Film besinnen.

Wie schaffst Du es, dass so viele Leute — die nur entfernt etwas zu tun haben mit der Geschichte, die Du erzählen willst — Dich und Dein Team mit offenen Armen empfangen und Euch sofort in Ihre Wohnungen einladen?

Erstens hatten wir in jedem Land eine Person, die für uns die Situation vorgefühlt hat und die auch an Orte gegangen ist, wo ich drehen wollte und die dort die Möglichkeiten recherchiert hat. Aber manchmal bin ich auch nur hingegangen, habe geklingelt und erklärt was ich vorhabe… Und die meisten Menschen haben „Ja“ gesagt weil sie empfunden haben, dass dieser Dreh wichtig wäre.

Man bezeichnet übrigens diese Menschen, die die vorgefundenen Möglichkeit überprüfen, als „Fixer“. Das Wort finde ich furchtbar. Aber sie sind sehr nützlich. — Allerdings bekommen auch sie nicht immer eine positive Antwort.

Aber zum Beispiel in Holland, wo sich meine Eltern auf einer Insel in einem kleinen Haus versteckt hatten, wurden wir sofort reingelassen. Und Du hast im meinem Film sehen können, wie sie die Fotos, die wir ihnen zeigten, sofort nachgestellt haben. Das war deren Idee. Nicht meine.

Und ich fand es sehr spannend, dass Menschen sehr gern Geschichten sehen und hören mit denen sie sich identifizieren können. Wir waren ja ein ganz kleines Team: Johann Feindt, ein Tonmann (und später eine Tonfrau), ich und dieser Termin-Fixer. Da ich ja Fotos und Adressen hatte, war das Suchen indirekt bekannter Orte sehr spannend weil man ja nicht wissen kann, was einen heute – nach so vielen Jahren – an dieser Stelle überraschen wird. Es eröffnen sich ja dann noch ganz andere Wahrheiten. Auch die Geschichte des letzten Hauses wo Malou als geschiedene Frau gelebt hat, ist spannend. Das leere Haus wurde nach ihr von Streitkräften der argentinischen Militärdiktatur beschlagnahmt. Und die heute dort wohnende Familie, die auf der Straße lebte, hat das Haus später einfach besetzt. Man versteht dann was für komplizierte Geschichten sich hinter den offiziellen Geschichten verbergen. Im dem Haus meiner Großeltern in Untergrombach im Landkreis Bruchsal lebt heute eine türkische Familie… Also immer und überall deutet sich auch politische Geschichte an.

Die Fragen stellte Angelika Kettelhack, Mitbegründerin des Berliner Arbeitskreis Film e.V. (BAF)

Weitere Filmkritiken zu Kinostarts Anfang Dezember 2022 folgen in den nächsten Tagen.

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