Skip to content

Diesen November starten so viele Filme im Kino wie nie zuvor in den letzten Wochen

Zu den 2015 verübten Anschlägen auf den Pariser Musikclub BATACLAN lief bereits im Oktober mit "November" ein Film aus der Sicht der Polizei an. Nun folgt ein Film über direkt Betroffene.



"MEINEN HASS BEKOMMT IHR NICHT" Drama von Kilian Riedhof über die Pariser Terroranschläge 2015 (Deutschland / Belgien / Frankreich, 2022; 103 Min.) Mit Pierre Deladonchamps, Zoé lorio, Camélia Jordana, Thoms Mustin u.a. seit 10. November 2022 im Kino. Hier der Trailer:



Ulrikes Filmkritik:
(Ein Facebook-Post, der um die ganze Welt geht. Geschrieben von Antoine Leiris an die Pariser Attentäter 2015)

In der Nacht des 13. Novembers 2015 ändert sich für Antoine Leiris (Pierre Deladonchamps) alles.

Es ist ein ganz normaler Abend. Seine Frau Hélène und ein gemeinsamer Freund haben beschlossen, im Club Bataclan ein Konzert zu besuchen. Antoine kümmert sich um den siebzehn Monate alten Sohn Melvil, bringt ihn ins Bett und liest ihm noch eine Geschichte vor. Antoine und Melvil (Zoé lorio) werden Hélène (Camélia Jordana) nie wieder sehen. Sie gehört zu den Opfern des perfiden Anschlags. Nach Tagen der Ungewissheit kann er die Leiche seiner Frau identifizieren. In dieser Nacht starben 130 Menschen und 700 wurden zum Teil schwer verletzt. Als er aus dem Leichenschauhaus zurückkehrt, passiert etwas ganz Großartiges. Antoine setzt sich an seinen Computer und schreibt sich folgenden Text von der Seele:

„Am Freitagabend habt ihr das Leben eines ganz besonderen Menschen gestohlen. Die Liebe meines Lebens. Die Mutter meines Sohnes. Aber meinen Hass bekommt ihr nicht. Ich mach euch nicht das Geschenk euch zu hassen. Ich habe sie gesehen. Sie war genauso schön wie am Freitag, als sie das Haus verließ. Mein Sohn und ich, Antoine Leiris.“

Die Attentäter, an die er sich direkt wendet, nennt er „tote Seelen“. Dieser offene Brief, den er auf Facebook postet, wird noch in derselben Nacht zigtausendfach geteilt und geht viral um die ganze Welt. „Le Monde“ veröffentlicht ihn auf der Titelseite.

Der Journalist Antoine Leiris wird über Nacht zu einem unbeabsichtigten Nationalhelden. Sehr viel später erzählt er in seinem Buch, wie er es geschafft hat, die Liebe zu seinem Sohn nicht von dem Hass gegen die Attentäter beeinflussen zu lassen, sondern, dass die Liebe über den Hass siegt.

Bilder des Attentats werden nicht gezeigt. Statt dessen bleibt der Film ganz nah bei Vater und Sohn und der Zuschauer wird zum Begleiter ihrer Trauer, die sich in herzzerreißenden Bildern abspielt. Überwiegend wurde in der Wohnung gedreht, die zu einem Rückzugsort wird, in die sich Antoine verschanzt.

Besonders schmerzhaft ist es, mitanzusehen wie schwer es ihm fällt, den Sarg für seine Frau auszusuchen und sich um das Begräbnis zu kümmern, was bei seiner Schwägerin Unverständnis auslöst. Man spürt förmlich, wie schwer es ihm ebenso fällt, den Alltag mit seinen Anforderungen, zu bewältigen. Auch die gutgemeinte Hilfe der Kita-Mütter lehnt er ab. Sie bringen für ihn und Melvil mit Liebe zubereitete Suppe vorbei. Es braucht wohl eine lange Zeit, um diesen Schock zu verarbeiten und befreit einem Neubeginn entgegenzusehen. Ein Film, der trotz allen Schmerzes Mut macht. Antoines Brief ist ein Beweis dafür.

Regisseur Kilian Riedhof hat mit seinen Filmen „Gladbeck“ und „Der Fall Barschel“ bewiesen, dass er ein besonderes Talent für die Inszenierung nationaler Tragödien hat, wobei die Anschläge in Paris nicht nur ein nationales Trauma sind, sondern die gesamte westliche Welt betrifft, deren Werte man zerstören will.

Ulrike Schirm


+++++++++++++

"IL BUCO – ein Höhlengleichnis" historisches Drama von Michelangelo Frammartino (Deutschland / Frankreich / Italien, 2021; 93 Min.) Spezialpreis der Wiener Viennale. Mit Paolo Cossi, Jacopo Elia, Denise Trombin u.a. seit 10. November 2022 im Kino. Hier der Trailer:



Ulrikes Filmkritik:

Das zwischen Nord und Süd gespaltene Italien der 60ziger-Jahre bildet den Hintergrund dieses ungewöhnlichen und schönen Films.

Noch heute besteht ein großes Gefälle zwischen dem industriereichen Norden und dem bäuerlichen Süden. Während eine Gruppe von Höhlenforscher*innen von Mailand nach Kalabrien kommt, um eine der tiefsten Höhlen der Welt zu erkunden und mit den Kindern in den engen Gassen spielt, sitzen die Dorfbewohner in einer Bar vor dem Fernseher, wo eine Reportage über den grandiosen Bau eines Mailänder Hochhauses gezeigt und beklatscht wird. Der Wolkenkratzer als Synonym für Kapitalismus. Staunend beäugt man wie gut gekleidete Männer und Frauen wie eingesperrte Ameisen ihre Arbeit verrichten.

Die Expedition bleibt von den Bewohnern eines kleinen Nachbardorfes unbemerkt. Nur der alte, einsame Hirte, der seine Tier hütet, beobachtet die jungen Leute von der Pollino Hochebene aus und beginnt sich mit ihnen zu beschäftigen, bis er von den Dorfbewohnern liebevoll bis zu seinem Tod behütet wird.

700m tief ist die unterirdische Schlucht die nur durch eine schmale Öffnung in der Erdoberfläche zu entdecken ist. Die Lebensgefahr ist der ständige Begleiter der jungen Forscher. Dokumentationsartig, ohne Dialoge und in langen Einstellungen stellt Michelangelo Frammartino die ungewöhnliche Höhlenexpedition 1961 im Pollino dar. Die Tonspur besteht fast nur aus Naturtönen. Anstelle von Dialogen hören wir Tropfen und statt Gesichter sehen wir Schatten. In langen Einstellungen wirken seine gleichnishaften Bilder wie eine Meditation über den Einklang zwischen Mensch und Natur.

„Il Buco“ ('Das Loch') – Ein Höhlengleichnis ist ein Drama, das ohne belehrende Erzähler und kitschige Musik, in wunderschönen Bildern, letztendlich zeigt, dass es die Erde ist, die uns ernährt. Die Innenaufnahmen der Höhle sind spektakulär und erforderten so einige technische Vorbereitungen. Frammartino und sein Filmteam brauchten nach einem Drehtag etwa vier Stunden, um auf die Erdoberfläche zurückzukehren.

Ein atmosphärisch dichtes aber auch außergewöhnliches Drama, mit atemberaubenden Naturbildern Kalabriens.

Ulrike Schirm


+++++++++++++

"MRS. HARRIS UND EIN KLEID VON DIOR" Tragikomödie von Anthony Fabian (Großbritannien / Ungarn / Kanada / Frankreich / USA / Belgien, 2022; 116 Min.) Mit Lesley Manville, Isabelle Huppert, Lambert Wilson u.a. seit 10. November 2022 im Kino. Hier der Trailer:



Ulrikes Filmkritik:

London 1957: Es war einmal eine verwitwete Putzfrau, Ada Harris, deren Ehemann noch Jahre nach dem Krieg als vermisst gilt. Ansässig ist sie in einer Kellerwohnung. Bei einer ihrer Kundinnen entdeckt sie ein Ballkleid von Christian Dior, ein Traum aus Spitze und Tüll. Sie ist hin- und weg und beschließt, jeden Penny für ihren Traum, solch ein Kleid zu besitzen, zurückzulegen.

500 Pfund kostet so eine Robe. Zufällig gewinnt sie eine nette Summe bei ihrem Einsatz auf der Hunderennbahn. Ein guter Freund, Archie, arbeitet im dortigen Wettbüro. Als dann auch noch ein Regierungsbeamter bei ihr klingelt und verkündet, dass ihr eine Summe an Staatsschulden zusteht, die sie nun als Witwenrente ausgezahlt bekommt, auch ein Ring ihres Mannes ist dabei, kommt sie ihrem Traum näher und fliegt nach Paris.

Ihre Nachbarin und Freundin Vi redet ihr gut zu. Sie schläft in ihrer ersten Nacht auf einer Parkbank. Am nächsten Tag bringt sie ein „Penner“ zum Modeimperium Dior. Und schon gibt es die ersten Probleme. Die arrogante, biestige Direktrice Madame Colbert (Isabelle Huppert), die entsetzt über das Erscheinen dieser einfachen Frau ist, macht keinen Hehl daraus, ihr den Weg nach draußen zu zeigen.

Es hat sich schnell herumgesprochen, dass eine Putzfrau eine Robe von Dior kaufen will. Als sie dann auch noch erfährt, dass sie mindestens eine Woche in Paris verweilen muss, bis die Maßanfertigung eines Kleides abgeschlossen ist, wird ihr etwas mulmig, denn sie hat weder die Zeit noch das Geld.

Doch die quirlige Frau hat Glück. Sie lernt einen reichen, verwitweten Adligen (Lambert Wilson), der von ihrer Bodenständigkeit beeindruckt ist, kennen und der ihr hilft. Durch seine Hilfe besetzt sie jetzt bei der Modenschau auch noch den Stammplatz einer reichen Kundin. Mrs. Harris entscheidet sich für das Modell „Versuchung“. Auch ein trauriges Model, Natascha, hilft ihr die Wartezeit zu überbrücken. Nur Madame Colbert bleibt noch abweisend.

Hinter den Kulissen sieht man ihre Bekanntschaft mit dem Marquis und seinem Hund „Nesquick“ nicht so gerne. Als sie zu spät zur Anprobe kommt, was man ihr verübelt, weigert sich der Schneider, ihr Kleid fertig zu stellen. „Wie wollen sie das Kleid mit dem Leben füllen, was es verdient?“, fragt er sie. „Dior erschafft Kleider für wunderschöne Frauen und soll jetzt mitansehen, wie alte Schabracken darin auftreten?“

1982 überzeugte schon Inge Meysel in einem Fernsehspiel nach dem Roman von Paul Gallico in ihrer Paraderolle der Mrs. Harris. Und nun erlebt Lesley Manville („The Crown“) in Paris mit ihrer Schlagfertigkeit und ihrem eisernen Willen: „Leb deinen Traum“, ein märchenhaftes Glück, angesiedelt in der Nachkriegszeit. Ein Feel-Good-Movie, mit einer bezaubernden Lesley Manville, dass einen gutgelaunt, in den weniger märchenhaften Alltag entlässt.

Ulrike Schirm


+++++++++++++

"BEAUTIFUL BEINGS" Sozialdrama von Gudmundur Arnar Gudmundsson. (Island / Dänemark / Schweden / Niederlande / Tschechien, 2022; 123 Min.) Mit Birgir Dagur Bjarkason, Áskell Einar Pálmason, Viktor Benóný Benediktsson u.a. seit 10. November 2022 im Kino. Hier der Trailer:



Ulrikes Filmkritik:
(Der isländische Film erzählt von Jugendlichen aus prekären Verhältnissen)

Der 14-jährige schüchterne Balli (Áskell Einar Pálmason) wird brutal gemobbt und zusammengeschlagen. Seine Jacke wird in die Toilette gestopft. Der Junge musste im Krankenhaus verarztet werden. Die Medien berichten über seinen Fall und die ansteigende Gewalt unter Jugendlichen in den Städten von Island.

Balli ist ein Einzelgänger. Seine Mutter ist drogenabhängig, sein Stiefvater, der ihm ein Auge ausgeschossen hat, hockt im Knast. Nirgends findet er Halt. Das Haus in dem er lebt ist total verwahrlost. Seine Mitschüler Addi (Birgir Dagur Bjarkason), Konni (Victor Benóný Benediktsson) und Siggi (Snorri Rafn Frímannsson) tyrannisieren ihn nach der Schule. Sie nennen seine Behausung „Pennerbude“.

Kein Wunder, dass sich Balli umbringen will. Alle Türen im Haus sind eingeschlagen. Seine Mutter ist für einige Tage nicht da. Die drei Kumpel, unter denen es eine Rangordnung gibt, stromern herum, betrinken sich, nehmen Drogen und gehen nachts im Freibad schwimmen. Vor lauter Langeweile tauchen sie bei Balli auf, der sowieso meistens alleine ist, machen sich breit und beschimpfen ihn als stinkendes Inzestopfer.

Auch sie kommen aus prekären Familienverhältnissen. Addi ist noch der vernünftigste von ihnen. Ihm tut Balli leid und er sucht seine Nähe. Sie nehmen ihn jetzt des Öfteren mit, was bei dem geschundenen Jungen ab und zu für ein Lächeln sorgt. Addis Mutter hat eine starke Beziehung zur Esoterik und auch Addi verfügt über ein übernatürliches Element, indem er Dinge voraus träumt. In Island ist Esoterik ein Teil der Kultur. Es bildet sich so etwas wie ein Hauch von Freundschaft. Die vier Jungen kommen alle aus kaputten Familien, sind groß geworden mit dem Gefühl von Unerwünschtheit und suchen untereinander Unterstützung und Halt. Irgendwie versuchen sie ihren eigenen Weg zu finden. Konni ist der mit der größten Gewaltbereitschaft.

Als Ballis Stiefvater aus der Haft entlassen wird, ist es Addi, der spürt, dass etwas Schlimmes bevorsteht. Gemeinsam versuchen die vier Jungen eine Katastrophe zu verhindern.

Die Szenen in denen das schmächtige Mobbingopfer gequält und gedemütigt wird gehen tief unter die Haut. „Beautiful Beings“ ist ein bedrückendes aber auch fesselndes Sozialdrama über Grausamkeit, Schmerz und Enttäuschung und die Unfähigkeit der Erwachsenen zu helfen und ihrer Gleichgültigkeit. Auch die Eltern sind oftmals Opfer ihrer Schwächen, Trennungen oder unerfüllten Träumen und sehen hilflos mit an, was um sie herum passiert. Ein Teufelskreis.

Regisseur Gudmundur Arnar Gudmundsson, der aufgrund eigener Erfahrung weiss, worüber er erzählt. Sein Coming-of-Age-Drama bewegt sich zwischen der fatalen Auswirkung von emotionaler Kälte und dem versteckten Wunsch nach Freundschaft und Anerkennung, der so schwer für diese Jugendlichen zu verbalisieren ist. Gudmundssons Empathie für sie ist deutlich zu spüren. Er gibt der Hoffnung eine Chance. Addi hat wenigstens seine Traumbilder um seine Vorahnungen zu verarbeiten.

„Beautiful Beings“ hatte seine Welturaufführung in der Panorama-Sektion der 72. Berlinale und ist Teil der Vorauswahl für den Europäischen Filmpreis 2022.

Ulrike Schirm


+++++++++++++

Die Filmbesprechungen zu "MRS. HARRIS UND EIN KLEID VON DIOR" sowie zu "BEAUTIFUL BEINGS" folgten wie angekündigt als Nachtrag im Laufe des Abends.

Im BAF-Blog gehts am Sonntag bereits weiter mit den Gewinnern zahlreicher Filmfestivals.

Anzeige

Trackbacks

Keine Trackbacks

Kommentare

Ansicht der Kommentare: Linear | Verschachtelt

Noch keine Kommentare

Kommentar schreiben

Standard-Text Smilies wie :-) und ;-) werden zu Bildern konvertiert.
Die angegebene E-Mail-Adresse wird nicht dargestellt, sondern nur für eventuelle Benachrichtigungen verwendet.

Um maschinelle und automatische Übertragung von Spamkommentaren zu verhindern, bitte die Zeichenfolge im dargestellten Bild in der Eingabemaske eintragen. Nur wenn die Zeichenfolge richtig eingegeben wurde, kann der Kommentar angenommen werden. Bitte beachten Sie, dass Ihr Browser Cookies unterstützen muss, um dieses Verfahren anzuwenden.
CAPTCHA

Formular-Optionen

Kommentare werden erst nach redaktioneller Prüfung freigeschaltet!