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Vier neue Filmkritiken zu aktuellen Kinostarts in der 10 KW 2025

Unter den aktuellen Kinostarts sind neben zwei Animationsfilmen auch ein Blockbuster von Bong Joon-ho, Regisseur von „Parasite“, der seine Deutschlandpremiere mit Robert Pattinson auf 75. Berlinale feierte.



"DAS KOSTBARSTE ALLER GÜTER" Animationsfilm von Michel Hazanavicius über eine jüdischen Vater im zweiten Weltkrieg, der eines seiner Kinder vor dem Holocaust retten will. (Frankreich / Belgien 2024, 81 Min.) Mit den Stimmen von Dominique Blanc, Grégory Gadebois, Denis Podalydès und Jean-Louis Trintignant in der Originalfassung. Ab 6. März 2025 im Kino. Hier der Trailer:



Elisabeths Filmkritik:

Es war einmal. Ein Märchen. Ein Märchen über die Kraft der Menschlichkeit in Zeiten der Unmenschlichkeit. Eine Zeit, die weit weg scheint, so dass wir in Märchen erzählen können. Michel Hazanavicius ("The Artist") hat sich dem Jugendroman von Jean-Claude Grumberg mit dem Titel "Das kostbarste aller Güter" angenommen. Das Drehbuch hat Hazanavicius mit Grumberg zusammen verfasst.

Es ist tiefster Winter. Ein Zug rattert durch die Landschaft. Wo die Geschichte spielt, wird nicht in den Mittelpunkt gestellt, aber aus dem Zusammenhang ist dem Publikum bald bekannt, wohin dieser Zug fährt. Die Handlung könnte sich auch in Frankreich so abgespielt haben, aber wir sind in Polen. Ein Baby wird aus diesem Zug geworfen. Eine Frau findet dieses Kind und nimmt es an sich. Für sie ist dieses Kind ein Geschenk, denn sie hat keine Kinder, nur einen grummeligen Ehemann. Der ist nun gar nicht begeistert. Das Kind könnte, auch wenn sie noch so abgelegen leben, eine Gefahr für sie sein. Entweder er oder das Kind, so lautet sein Ultimatum.

Diese Geschichte handelt von Menschlichkeit, von Hingebung, von Mut. Diese Eigenschaften tragen die Figuren zwar in sich, aber auch das Gegenteil ist ihnen nicht fremd. Sie wachsen an ihren Aufgaben. Ihre Liebe, ihre Hingebung und ihr Mut entwickelt sich erst. Denn es sind hartherzige Zeiten und die Arbeitskollegen und die Nachbarn gehorchen einem Diktat von oben. Die, die da in Zügen durch die Landschaft fahren, die sind der Feind. Ein Narrativ, dass inzwischen wieder so allgegenwärtig ist, dass man mit den Erzählern dieses Märchens hofft, dass Menschen fähig sind, sich zu verändern.

Und so ist es eine einfache Frau, die ihr Kind verloren und die Gott um eine gute Gabe angefleht hatte, die dieses Geschenk, dieses Kind, nicht wieder hergeben möchte. Es ist ihr Herz, das spricht, während ihr Mann, ein Holzfäller, dem Kind die Güte abspricht. Es stamme von herzlosen Kreaturen. Auch der Holzfäller wird sich irgendwann dem tapsigen Kind nicht entziehen können. Es braucht nur etwas Zeit. Das Märchen zeigt, dass es Mangel an Wissen und Kenntnis ist, die Ablehnung und auch Grausamkeit begünstigt. Dabei macht die Handlung es den Figuren auch nicht leicht. Denn, so heißt es, für jede Gabe, die man erhält, muss man auch etwas geben. Oder auch, man muss etwas verlieren, um etwas zu gewinnen.

Die Geschichte erzählt auch von der Herkunft des Kindes. Das Publikum weiß, wohin dieser Zug fährt, und es weiß um das Schicksal der Reisenden. Der Fokus liegt hier auf dem Vater, der sein Kind dem Ungewissen überreicht, auf die vage Hoffnung hin, dass die Figur, die er im Schnee zu sehen glaubte, das Kind findet und es an sich nimmt. Mit dem Verlust seiner Familie möchte er gar nicht weiterleben. Doch der Tod macht einen Bogen um ihn. So erfahren wir von zwei Schicksalen, die sich parallel entwickeln, die sich annähern. Mehr soll hier gar nicht verraten werden. Dabei ist es dem Regisseur wichtig, dass der Holocaust nicht im Mittelpunkt steht, sondern nur den Rahmen gibt.

Hazanavicius, der aus einer jüdischen Familie kommt, die aus dem polnisch-litauischen Gebiet stammt, lässt Leerstellen in der Geschichte, die die Zuschauenden selbst füllen. Schmerz und Hoffnung liegen hier dicht beieinander. Hazanavicius übt sich in Zurückhaltung. Er gibt dem Pathos keinen Raum. Er erzählt von dem Leben seiner Figuren, ohne sie einem aufgesetzten Ende preis zu geben.

Die einfache, reduzierte Gestaltung der Bilder in Animationen ist übrigens in dem traditionsreichen Studio im ungarischen Kecskemét erarbeitet worden. Kecskmétfilm ist vielleicht einigen noch von der Serie und dem Film "Wasserspinne - Wunderspinne" bekannt. Zu den neueren Auftragsarbeiten aus dem deutschen Raum gehören "Lauras Stern" oder "Der kleine Eisbär". Ungarische Filmförderung hat der französisch-belgische Film jedoch nicht erhalten. Auch die Dialoge sind spärlich. Es ist ein visueller Film. Die Narration, in der deutschen Fassung von Jürgen Prochnow, wird im Original von dem inzwischen verstorbenen Jean-Louis Trintignant eingesprochen.

"Das kostbarste aller Güter" ist sicherlich ein Herzensprojekt. Die Uraufführung fand in Cannes statt. Auch das Animationsfestival Annecy hatte den Film im Programm. In Deutschland hatte das Filmfest Hamburg den Film ins Programm genommen.

Elisabeth Nagy


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"FLOW" oscarprämierter Animationsfilm von Gints Zilbalodis über das Abenteuer einer Katze in einer Flutkatastrophe, der ohne Dialoge auskommt. (Belgien / Lettland / Frankreich, 2024; 84 Min.) Ab 6. März 2025 im Kino. Hier der Trailer:



Elisabeths Filmkritik:

"Flow" erzählt von einer Katze, einem Hund, einem Lemuren, einem Wasserschwein, einem Vogel. Sie sitzen alle in einem Boot und trotzen dem Wasser, das steigt und steigt und steigt. Die Animationsstil erscheint grob. Grob im Vergleich, was das Hollywood verwöhnte Publikum so kennt. Das macht nichts, schnell hat man vergessen, dass man hier nicht jeden Grashalm einzeln erkennt. So eigen ist der Animationsstil, so fantasievoll, so poetisch.

"Flow" erzählt von einer Reise, einer Reise voller Hürden, denn die so bunt zusammengewürfelte Gruppe von Tieren kämpft gegen mächtige Elemente und somit um ihr Leben.

Dabei fängt alles so verspielt an. Eine noch sehr junge Katze mit großen Augen tollt über die Wiese, bis sie an ein Rudel Hunde gerät, die in ihr halbe Widersacher, halb Spielball sehen und sie jagen. Die Katze rettet sich in ein verlassenes Haus. Doch die Menschen sind nicht mehr da. Sie tauchen auch nicht auf und somit fällt kein einziges Wort. Warum es keine Menschen gibt, ob die Geschichte in einer unbestimmten Zukunft spielt, das wird nicht erklärt und ist auch gar nicht wichtig. Es gibt nur das Jetzt, immer nur das Jetzt. Keine Hintergrundstory, kein Ziel, das es zu erreichen gilt.

Zuerst staunt man über die Werkstatt in dem verlassenen Haus, über die zahlreichen Schnitzarbeiten, die unterbrochen in ihrer Entstehung herum liegen. Vielleicht sieht die Katze aber auch, wie sein Spiegelbild, die Welt mit den eigenen Augen in der alles nach Katze aussieht. Plötzlich kommt das Wasser. Viel Wasser. Eine Flut. Die Wiese wird überschwemmt und auch das Haus steht bald unter Wasser und das Wasser wird immer mehr. Der lettische Regisseur Gints Zilbalodis setzt mit "Flow" dort an, worüber er in seinem Kurzfilm "Aqua" von 2012 erzählt hatte: Von einer Katze, die sich vor Wasser fürchtet.

Ein Boot schwimmt vorbei, ein Wasserschwein sitzt darin, die Katze kann sich in das Boot retten. Bald sind sie auch nicht mehr nur zu zweit. Das Wasser treibt das Boot. Wie wird es weitergehen? Die Reise trägt sie durch Höhen und Tiefen, und selbst die versunkenen Städte wirken wie reine Poesie und kein bisschen wie Dystopie.

Dabei sind die Themen übertragbar. Das Wasserschwein gilt als faul, der majestätische Vogel als arrogant, die Hunde im Rudel als aggressiv, der Lemur ist ein gierig und mag sich von seiner Beute nicht trennen. Diese Elemente bringen die Handlung voran und lehren sowohl die Figuren etwas als auch ein junges und nicht nur ein junges Publikum.

Eine kleine schwarze Katze eroberte das lettische Herz und bald darauf die Festivals dieser Welt. Als lettischer Film, der für einen internationalen Oscar eingereicht worden ist, eroberte er auch die Herzen der Academy.

Dabei hat "Flow" nicht etwa den internationalen OSCAR gewonnen, sondern er hat in seiner Hauptkategorie, in der für den besten Animationsfilm den Preis erhalten, obwohl "Flow" keine Geschichte auszeichnet, die von A nach B verläuft. Vielmehr entwickelt sich die Handlung assoziativ.

Zilbalodis öffnet eine Welt, die vielen Ländern ähnelt. Mal wähnt man sich in Europa, dann in Fernostasien. Doch wo die schwarze Katze und ihre Gefährten gerade sind, das spielt keine Rolle. Die Fantasie, die durchaus verspielt, durch die Geschichte trägt, überträgt sich auch auf das Publikum. Ganz sicherlich auch, weil die Tiere hier Tiere bleiben dürfen und keine vermenschlichten Züge annehmen. Zilbalodis erzählt dem Publikum nicht durch seine Figuren etwas, sondern mit ihnen. Wir erkennen die Grundzüge der Tiere, sie bleiben sich aber stets treu.

"Flow" feierte sein Debüt in Cannes. Auf dem traditionellen Animationsfilmfestival in Annecy gewann der kleine Film über das große Wasser nicht nur den Jury-, sondern auch den Publikumspreis. Die französisch-belgische Koproduktion gewann auch den César für den besten Animationsfilm. Auch den Europäischen Filmpreis in dieser Kategorie konnte "Flow" für sich verbuchen. Die Liste ist lang, man möchte sagen, glaubt diesen Juries. "Flow" ist fantasievoll und besonders, er ist klug und aufmerksam.

Katzen wird nachgesagt, dass sie Einzelgänger sind, dass sie ihren eigenen Kopf haben. In dieser Geschichte über eine Flut und einer Gruppe von Tieren ist die schwarze Katze zwar unsere Bezugsfigur, aber diese muss sich, obwohl sie den anderen misstraut und diese als Gegener wahrnimmt, öffnen und lernen ihnen trotz der Unterschiede zu vertrauen, um gemeinsam zu überleben. Dabei muss sich keines der Tiere ändern, sondern nur seine Stärken ausspielen. Dieser Film könnte somit kaum aktueller sein. "Flow" ist eine hübsche Parabel und noch viel mehr.

Elisabeth Nagy


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"DIE UNERWÜNSCHTEN - Les Indesirables" sozialkritisches Drama aus dem Jahr 2023 von Ladj Ly um die schwelenden Konflikte mit Migranten bei der Sanierung eines heruntergekommenen Stadtteils. (Frankreich / Belgien, 2023; 105 Min.) Mit Anta Diaw, Alexis Manenti, Aristote Luyindula u.v.a. ab 6. März 2025 im Kino. Hier der Trailer:



Axels Filmkritik:

Für seinen zweiten Spielfilm bleibt Ladj Ly in der Pariser Banlieue – und erzählt eine gänzlich andere Geschichte. Am besten betrachtet man „Die Unerwünchten – Les Indésirables“ als gelungene Ergänzung zu seinem Debüt „Die Wütenden – Les Misérables“, das 2020 bei uns im Kino lief.

In ihm erzählt er die Geschichte von drei Zivilpolizisten und, nachdem ein Löwenjunge aus einem Zirkus gestohlen wird, einer etwas aus dem Ruder laufenden Schicht, Dabei entsteht das gelungene Porträt von einem Stadtviertel in Paris, in dem sich die sozialen Probleme ballen und die Stimmung ständig kurz vor dem Siedepunkt ist.

In „Die Unerwünschten – Les Indésirables“ konzentriert er sich auf die städtische Angestellte Haby Keita (Anta Diaw) und den Arzt Pierre Forges (Alexis Manenti). Er wird, nachdem der Amtsinhaber überraschend stirbt, von seiner Partei zum Bürgermeister befördert.

Beide leben in verschiedenen Welten. Sie lebt in Les Grands Bosquets, kennt die Bewohner seit ihrer Kindheit und hilft ihnen. Sie ist eine von ihnen.

Er lebt in seiner noblen Vorstadtvilla und kennt den sozialen Brennpunkt »Les Grands Bosquets« letztendlich nur aus den Schlagzeilen der Tageszeitung. Politik ist, auch wenn sie hier noch auf lokaler Ebene praktiziert wird und Pierre keine Ahnung von der Politik hat, ein Teil des Lebensstils des etablierten Bürgertums. Es ist keine Notwendigkeit, sondern ein Hobby, bei dem man sein soziales Engagement beweisen kann. Wie dieses Engagement dann mit eigenen Interessen verknüpft ist, zeigt Ladj Ly in „Die Unerwünschten“.

Zwischen den Geschichten von Haby und Pierre herrscht ein Ungleichgewicht, das sich durch den ganzen Film zieht. Sie ergänzen sich nicht, sondern stehen sich im Weg. Ihre Geschichte ist formal ein klassisches Sozialdrama und eine dichte Milieustudie im Ken-Loach-Stil. Seine Geschichte ist dagegen ein Politdrama, die Geschichte eines Mannes, der von der Macht verführt wird. Das ist formal aufklärerisches und die Herrschenden anklagendes Polit-Kino, wie man es aus den siebziger Jahren und von Regisseuren wie Constantin Costa-Gavras kennt.

Dabei ist Pierres Geschichte die eindrucksvollere. Ladj Ly zeigt, wie aus einem politisch unbedarften Arzt ein menschenverachtendes Monster wird. (Trump lässt grüßen!) Von seinen Parteifreunden wird er in den Job gestoßen, um die Zeit bis zur Wahl zu überbrücken. Er ist ein Übergangs- und Verlegenheitskandidat, von dem nur erwartet wird, dass er keine großen Fehler macht.

Aber dann will er das Werk seines Vorgängers fortsetzen und das Leben der Menschen in dem Viertel verbessern. Darunter versteht er reaktionäre und ausländerfeindliche Aktionen, die immer noch gerade so legal sind. So lässt er das schon seit Ewigkeiten baufällige Banlieue-Mietshaus, in dem arme Einwanderer leben, an Weihnachten räumen, weil der Bau angeblich akut einsturzgefährdet sei.

Das ist zwar Nonsens, aber so kann er seine unnötig gemeine Aktion mit Wohltätigkeit und Besorgnis um die Menschen tarnen. Was nach der rücksichtslos durchgeführten Räumung mit den auf der Straße sitzenden Mietern passiert, ist ihm egal. Außerdem ist so der Weg frei für ein schon lange geplantes Bauprojekt. Bislang konnte es nicht verwirklicht werden, weil die Mieter nicht ausziehen wollten.

In Pierres Geschichte zeigt Ladj Ly, wie Politik funktioniert, wie aus einem halbwegs anständigen Mann ein eiskalter Rechtspopulist wird. Seine Untaten ummantelt er mit Wohltätigkeit. Dabei entwickelt er ein auch seine Parteikollegen überraschendes politisches Talent und Bosheit beim Durchsetzen seiner Ziele.

Bei einer ihrer Begegnungen entschließt Haby sich spontan, gegen ihn zu kandidieren. Ihre Familie wanderte aus Mali ein. Sie ist in dem Viertel verwurzelt, weil sie dort lebt und arbeitet, und alle kennt. Sie ist, auch ohne es zu ahnen, die gute Seele des Viertels. In dem Moment ist es nur eine in ohnmächtiger Wut getane Ankündigung, auf die zunächst keine Taten folgen. Auch später wird ihr Wahlkampf mehr mitgeschleppt als konsequent erzählt. Offensichtlich interessiert Ladj Ly sich nicht für diese eigentlich interessante Geschichte. So bleibt Habys Geschichte vor allem eine nah an den Menschen erzählte Milieustudie.

Beide Geschichten bieten Stoff für einen guten Film. Beide Geschichten könnten auch in einem Film gut erzählt werden, wenn die richtigen Momente ausgewählt würden und die richtige Balance zwischen Haupt- und Nebengeschichte gefunden würde. In „Die Unerwünschten“ stehen sie sich im Weg. Zu vieles wird angerissen und dann nicht richtig weitererzählt. Das macht „Die Unerwünschten“ nicht zu einem schlechten Film, sondern zu einem Film, der besser hätte sein können. Sehenswert ist er trotzdem und eine gelungene Ergänzung zu seinem Debüt „Die Wütenden“, die man am besten in einem Double Feature ansehen sollte.

Axel Bussmer (kriminalakte.org)


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"MICKEY 17" sozialkritische Sci-Fi-Action-Komödie vom südkoreanischen "Parasite"-Regisseur Bong Joon-ho um einen doppelten Menschenklon, der nicht mehr sterben will; basierend auf dem Roman „Mickey 7“ von Edward Ashton aus dem Jahr 2022. (USA / Südkorea, 2025; 139 Min.) Mit Robert Pattinson, Naomi Ackie, Steven Yeun u.a. ab 6. März 2025 im Kino. Hier der Trailer:


Synopsis:
In Bong Joon-hos Sci-Fi-Satire "Mickey 17" meldet Robert Pattinson sich freiwillig, um als mehrfach geklonter Mann einen lebensfeindlichen Planeten zu erforschen. Als sogenannter »Expendable«, also entbehrlicher Mitarbeiter, ist Mickeys Job bei der Kolonialisierung der fremden Welt mit zahlreichen Gefahren verbunden. Deshalb steht in seinem Vertrag, dass im Falle seines Todes ein neuer Körper generiert wird, in dem nur Mickeys Erinnerungen größtenteils intakt bleiben, denn Mickey stirbt auf seinen Missionen häufig... Doch als zwei seiner Kopien unerwartet gleichzeitig am Leben sind, bedeutet das Ärger.

Elisabeths Filmkritik:

Wer würde nicht gerne unliebsame Politiker ins Weltall schießen? Kenneth Marshall, gespielt von Mark Ruffalo, hat Großes vor und den Hang zum Größenwahn. An seiner Seite Ylfa, gespielt von Toni Colette, mit ähnlichen Zügen ausgestattet. Wer darin Parallelen sieht, liegt vielleicht gar nicht falsch. Wobei Regisseur Bong Joon-ho angibt, die Figur des Marshall nicht von einem, sondern von mehreren geschichtsträchtigen Regierungsoberhäuptern abgeschaut zu haben.

In "Mickey 17", nach Edward Ashtons Roman "Mickey 7" (auf Deutsch: Mickey 7 - Der letzte Klon), geht es nur zum Teil um die Besiedelung eines fernen Planeten, genannt Niflheim, auf dem die Eiszeit herrscht, oder auch, ein Planet jenseits der Klimakrise. Bong Joon-ho bleibt seinen Themen Gesellschafts- und Klassenkritik treu, der Fokus liegt auf den sozial niederen Ständen. Um die Holzklasse bei so einem interplanetaren Flug. Oder noch weiter drunter.

Hauptfigur ist ein armer Tropf. Mickey Barnes (Robert Pattinson) hat nicht nur nichts, er hat wohl auch die falschen Freunde. Prompt sitzen ihm und seinem Kumpel Timo (Steven Yeun) Geldeintreiber im Nacken, gegen die kein Kraut und keine Flucht etwas ausrichten kann. Mickey und Timo nehmen das nächste Flugzeug. Nein, sie heuern auf dem nächsten Raumschiff an. Das Ziel ist egal. Aber Mickey liest das Kleingedruckte nicht. Er hat sich als »Expendable« verpflichtet. Das heißt, er wird fürs Grobe gebraucht. Er ist Versuchskaninchen und Kanonenfutter. Die Option, dass er dabei drauf geht, ist Sinn seiner Aufgabe. Sobald er im Dienste der Arbeit kaputt gespielt wurde, wird Mickey aus dem 3D-Drucker aus Abfall neu gedruckt und sein Bewusstsein aus dem Rechner neu implementiert. Der Mensch ist hier ultimativ nur ein Klumpen Dreck. Ein Prozess, der streng verboten ist, der darum irgendwo Fernab ausexperimentiert werden soll.

So ist also Mickey eine Abfolge von Mickeys und Bong Joon-ho ist sich nicht zu schade dafür, die Reihe der ersten Inkarnationen humoresk zusammenzusetzen. Die Handlung setzt ein, als das Raumschiff endlich an seiner Destination angelangt ist und Mickey und Timo das Terrain erkunden sollen. Dabei fällt Mickey auf dem unwirtlichen Planeten in eine Gletscherspalte. Sein Kumpel macht sich noch nicht einmal die Mühe, ihn daraus zu retten. Mickey ist halt eine unendliche Ressource. Doch in der Gletscherspalte leben die Wesen des Planeten. Kugelige Asseln, die in Rudeln leben. Sie töten den Eindringling nicht, sondern stupsen ihn ins Freie. Mickey schafft es zurück zum Schiff, doch dort trifft er bereits auf Mickey 18. Die Konfrontation mit sich selbst weckt ihn aus einer entmündeten Ohnmacht und setzt einen Prozess der Selbsterkenntnis und dem Ringen um Individualität in Gang. Oder auch, in ihm erwacht die Eifersucht, weil Mickey 18 mit seiner Freundin Nasha (Naomi Ackie) angebandelt hat.

Warum es nur einen Expendable an Bord gibt? Warum man das Verbot des Klonens aushebelt, aber die Regel, dass es keine zwei Exemplare gleichzeitig geben darf, nicht? Bong Joon-ho geht es um etwas anderes, denn sein reichlich actionreicher Film ist eher mit Science-Fiction garniert sowie mit einer Love-Story als ein tiefer schürfendes Drama. Satire ist es allemal. Streckenweise sogar witzig. Wobei hier der Humor gefährlich nahe am Horror schrubbt.

Während das Publikum sich über die quasi als Slapstick inszenierten Experimente an Mickey vergnügen kann, der dies mit stoischer Ergebenheit erträgt, führt er uns unsere auf Armut und Ausbeutung aufgesetzte Wohlstandsgesellschaft geradezu vor. Oder denkt jemand an die verfügbare Masse der für uns gesichtslosen Arbeiter, die die seltenen und giftigen Ingredienzen eines smarten Handschmeichlercomputergerätes zu Tage befördern? Das nur ein Beispiel. Die Masse der entrechteten Arbeiter ist dabei so groß, dass sich ein Klonen erübrigt. Für die Gedanken und Gefühle dieser Austauschbaren interessiert sich keiner. Somit ist das Prozedere, Mickey immer wieder mit seinem Bewusstsein auszustatten, geradezu human.

"Mickey 17" wurde international in der Special Gala Sektion der Berlinale vorgestellt. Eine Sektion, die dem Festival auch etwas Glamour und Stars geben möchte. Der Hauptdarsteller Robert Pattinson in der Rolle von Mickey in zigfacher Ausfertigung, sorgte für Aufregung am Roten Teppich. Er trägt aber auch den Film auf seinen Schultern. Da war der Film allerdings schon lange aus der Produktionsphase raus und hatte schon einige Startverschiebungen auf dem Buckel.

Gedreht wurde 2022 mit wohl denkbar kurzer Vorproduktionsphase. Der Science-Fiction-Roman von Edward Ashton erschien erst 2022. Allerdings hatte der Autor Bong Joon-ho vorab sein Manuskript zugeschickt. Bong Joon-ho letzter Spielfilm, "Parasite", lief 2019 im Wettbewerb von Cannes. Die Geschichte von einer prekären Gruppe, die sich bei einer reichen Familie einnistet, ist bereits ein Genre Mix und in erster Linie eine Kritik am Klassenverhältnis. Dafür gab es in Cannes die Goldene Palme und schließlich auch den Oscar. Seitdem hatte man auf den neuen Bong Joon-ho gewartet und ein nächster Film soll auch schon in der Mache sein.

"Mickey 17" hat bei seinem Berlinale-Auftritt gemischte Reaktionen ausgelöst. Bong Joon-ho könne seiner Science-Fiction keine klare Kontur geben. "Mickey 17" ähnelt "Snowpiercer" und sei unter anderem gleichzeitig eher eine Parodie auf "Dune". Die Figuren, die durchaus laut Regisseur den Ceaușescus oder den Marcos nachempfunden sein können, ähneln natürlich eher einem Donald und einer Ivanka und kommen gegen die Realsatire kaum an.

"Mickey 17" hat durchaus seine Momente und ein paar wirklich interessante Frauen-Figuren. Mehr aber auch nicht.

Elisabeth Nagy


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