Wieder mehr Kinobesuche - unsere Filmkritik in der 51. KW 2024
Die Zahl der Kinobesuche in Deutschland ist nach dem Ende der Covid-19-Pandemie und der damit einhergehenden Beschränkungen wieder um fast ein Viertel gestiegen.
![](/blog//uploads/komm_ins_Kino.gif)
Die Zahl der Kinobesuche in Deutschland erreichte im vergangenen Jahr rund 95,7 Millionen, ein Plus von 23 % im Vergleich mit 2022, teilte das Statistische Bundesamt mit. Damit ging im Schnitt jeder in Deutschland lebende Mensch im Laufe des Jahres 2023 im Schnitt 1,1-mal ins Kino. Allerdings habe die Zahl noch spürbar unter dem Niveau vor der Pandemie gelegen: 2019 wurden 118,6 Mio. Kinobesuche gezählt. Aktuelle Zahlen von 2024 liegen noch nicht vor, sie werden erst im Februar 2025 veröffentlicht.
Es ist abzusehen, dass 2024 für die Kinos in Deutschland ein durchwachsenes Jahr endet, mit etwas schlechteren Zahlen als im letzten Jahr, denn 2023 war ein echtes Spitzenjahr, sagte Peter Dinges, Vorstand der Filmförderungsanstalt (FFA). In den ersten sechs Monaten wurden an den Kinokassen rund 41,9 Mio. Tickets verkauft - 2023 waren es im gleichen Zeitraum rund 45,2 Mio. Kinokarten.
EINE ERKLÄRUNG FÜR ALLES Drama von Gábor Reisz, welches ein Porträt der ungarischen Gesellschaft aus drei Perspektiven zeichnet. (Ungarn / Slowakische Republik, 2023; verkürzt von 151 Min. auf 127 Min.) Mit Gáspár Adonyi-Walsh, Istvan Znamenak, András Rusznák u.a. seit 19. Dezember 2024 im Kino. Hier der Trailer:
![](/blog//uploads/komm_ins_Kino.gif)
Die Zahl der Kinobesuche in Deutschland erreichte im vergangenen Jahr rund 95,7 Millionen, ein Plus von 23 % im Vergleich mit 2022, teilte das Statistische Bundesamt mit. Damit ging im Schnitt jeder in Deutschland lebende Mensch im Laufe des Jahres 2023 im Schnitt 1,1-mal ins Kino. Allerdings habe die Zahl noch spürbar unter dem Niveau vor der Pandemie gelegen: 2019 wurden 118,6 Mio. Kinobesuche gezählt. Aktuelle Zahlen von 2024 liegen noch nicht vor, sie werden erst im Februar 2025 veröffentlicht.
Es ist abzusehen, dass 2024 für die Kinos in Deutschland ein durchwachsenes Jahr endet, mit etwas schlechteren Zahlen als im letzten Jahr, denn 2023 war ein echtes Spitzenjahr, sagte Peter Dinges, Vorstand der Filmförderungsanstalt (FFA). In den ersten sechs Monaten wurden an den Kinokassen rund 41,9 Mio. Tickets verkauft - 2023 waren es im gleichen Zeitraum rund 45,2 Mio. Kinokarten.
EINE ERKLÄRUNG FÜR ALLES Drama von Gábor Reisz, welches ein Porträt der ungarischen Gesellschaft aus drei Perspektiven zeichnet. (Ungarn / Slowakische Republik, 2023; verkürzt von 151 Min. auf 127 Min.) Mit Gáspár Adonyi-Walsh, Istvan Znamenak, András Rusznák u.a. seit 19. Dezember 2024 im Kino. Hier der Trailer:
Elisabeths Filmkritik:
Ábel Trem (Gáspár Adonyi-Walsh) ist 18. Noch sehr unbedarft und kindlich. Er ist das erste Mal richtig verknallt. Schade nur, dass die Liebe, die er empfindet, nicht erwidert wird. Janka (Lilla Kizlinger) ist in ihren Geschichtslehrer Jakab Maár (András Rusznák) verknallt. Der allerdings zieht gleich eine rote Linie, als sie sich ihm in jugendlichem Ungestüm offenbart.
Mit 18 steht einem die Welt offen. Alles ist möglich. Mit 18 interessiert einem aber die Liebe und die unmögliche Liebe, die so schmerzt, wie man das noch gar nicht erlebt hat, mehr als eine Zukunft, die man sich nicht vorstellen kann. Besonders, wenn man keinen Plan hat. Ábels Vater György (István Znamenák, dessen erste Filmrolle übrigens die in dem epochalen "Die Zeit bleibt stehen" als aufsässiger Jugendlicher war) hat sehr wohl einen Plan und sein Sohn, dessen Phlegma ihm wohl bekannt ist, möge bitte ein gutes Abitur ablegen. Das sei ja wohl das Mindeste.
Gábor Reisz hat mit "Eine Erklärung für alles" seinen dritten Spielfilm, nach zwei sehr persönlichen, fast autobiografischen Filmen, "Aus unerfindlichen Gründen" (im Original "VAN valami furcsa és megmagyarázhatatlan", 2014, im Verleih von déjà-vu) und "Falsche Poesie" ("Rossz versek", der Film lief 2019 auf dem Filmfest Hamburg), in Venedig vorgestellt, damals noch in einer längeren Schnittfassung, und dafür den Venice Horizons Award für den Besten Film gewonnen.
Nicht unerwähnt sollte man lassen, dass "Eine Erklärung für alles" keine ungarische Förderung bekommen hat. Mit seinen ersten beiden Filmen hat Reisz sich zwar in die Herzen der Zuschauenden gespielt, aber das ungarische Filminstitut hat seine folgenden Filmpläne als nicht förderungswürdig eingestuft. Deren Urteil wollte man sich jetzt gar nicht erst aussetzen und hat mit minimalem Budget und Förderung aus der Slowakei gearbeitet. Angesichts dessen, dass Reisz hier durchaus Ross und Reiter (Orbán!, Gyurcsány!) beim Namen nennt, eine verständliche und vorausschauende Entscheidung.
Obwohl seine Geschichte über Ábel, eine vermurkste Abitur-Prüfung und deren politische Vereinnahmung seitens der nationalen Presse, die aus einem lauen Lüftchen einen Sturm provoziert, in dem er politisch tief gespaltenen Ungarn Seiten angespielt hat, deren Resonanz das internationale Publikum nicht wahrnehmen wird, funktioniert der Film gerade, weil die Figuren so treffend herausgearbeitet sind, ebenso, vielleicht jedoch anders. Die Spaltung, die sich in Ungarn über lange Zeit vertieft hat, ist aber auch in anderen Ländern nicht mehr nur ein böses Märchen.
Bereits im Titel klingt an, was der durchaus treffende deutsche Titel: "Erklärung für alles", nicht mittransportieren kann. "Magyarázat mindenre" heißt der ungarische Filmtitel. Erklären heißt auf ungarisch "megmagyarázni". Sozusagen etwas ins Ungarische setzen. Das Ungarische bedeutet dann, besonders in diesem Fall, für jeden etwas anderes. Ein Utensil hat den veritablen Shitstorm, der sich um die Familie Trem und dem Geschichtslehrer der Schule entlädt, ausgelöst.
Ábel war in seinem einzigen guten Anzug zur Abiturprüfung gegangen. Und dort hat er den Mund nicht aufgekriegt. Er hat keine Ahnung vom Thema, er kein Interesse, er kriegt nichts raus. Er fällt durch. Dabei versucht die Prüfungskommission ihm zu helfen. Dem Jungen ist beim besten Willen nicht zu helfen. Dem Geschichtslehrer rutscht es dann so raus. Ábel trägt auf seinem Anzug noch die Kokarde vom letzten Nationalfeiertag. Warum, fragt der Lehrer.
Die Kokarde, ein ursprünglich militärisches Abzeichen, hält in Ungarn eine besondere Rolle. Der aus einem Band in den Nationalfarben gesetzte Kreis mit zwei Enden, ist ein nationales Symbol für die Revolution von 1848. In Ungarn trägt man diese Kokarde in Erinnerung an 1848 nur am 15. März, einem nationalen Feiertag. Auf keinen Fall trägt man sie an einem anderen Tag.
Erst in unserer Zeit hat die "Politik" aus dem nationalen Symbol ein nationalistisches Symbol, sprich Bekenntnis, gemacht. So spielt es durchaus eine Rolle, wann man dieses Abzeichen trägt. Der liberale Lehrer, der natürlich weiß, dass Ábel aus einem rechtsnationalen Familienumfeld kommt, könnte also durchaus voreingenommen sein. Ábel hat sich allerdings keine Gedanken darüber gemacht. Ihm ist die politische Konnotation auch herzlich egal. Es ist gerade seine Rolle, die sich in dieser Spaltung nicht positionieren möchte, die hier für die Filmfiguren wie auch das Publikum, diverse Fässer aufmacht. Und wenn man inzwischen dazu übergegangen ist, die Kokarde gar nicht mehr zu tragen, dann ertappt man sich doch dabei, die folkloristischen Lieder, die als Chor eingefügt sind, mitzusummen, weil man sich der Musik kaum entziehen kann.
Gábor Reisz, der das Drehbuch zusammen mit Éva Schulze verfasst hat, die nicht nur als Produzent und als Dramaturgin bekannt ist, sondern eine ganze Riege der führenden ungarischen Regisseure durch das Studium geführt hat (nicht nur Reisz, sondern auch Ferenc Török oder Kornél Mundruczó), führt die Figur einer jungen, ehrgeizigen Journalistin ein, die aus Siebenbürgen nach Budapest kam, und es unbedingt schaffen will. Etelka (Rebeka Hatházi, die übrigens auch für das Kostümbild zuständig war) hat einen Pressetermin versemmelt und versucht das jetzt wieder mit einer noch besseren Story glatt zu bügeln. Da kommt der Spin, dass ein Abiturient durch die Prüfung gefallen sei, weil er die Kokarde getragen hat, gerade recht.
Reisz löst den Konflikt nicht auf. Es gibt ja auch keine Lösung. Nicht 2023, nicht 2024, noch lange nicht. Er stößt aber eine Auseinandersetzung mit dem Thema, was uns spaltet und was uns verbindet, an. Es war wohl nicht seine Absicht einen politischen Film Für-und-Gegen zu drehen. Auch wenn der Film in gewissen Kreisen als "Oppositionsfilm" betitelt wird, als "Propaganda", war Reisz' Bestreben, eine Annäherung der Positionen zu fördern. Man möge miteinander reden. Darum stellt er auch keine Position in den Vordergrund. Er gibt den Figuren Ecken und Kanten, positive und negative Eigenschaften.
Die Rezeption auf dem Filmfestival Venedig ist durchaus nicht vergleichbar mit den Stimmen, die sich in Ungarn mit dem Film beschäftigen. Wobei in Ungarn, wo immerhin ca. 77.000 Kinotickets verkauft wurden (im Vergleich: der nationalistische Biografie-Film über Semmelweis, den Ungarn bei den Oscars eingereicht hatte, hatte knapp 360.000 Tickets abgesetzt), man möge sich die Einträge auf der Filmbewertungsseite Letterboxd übersetzen lassen, in denen zahlreiche Spin-Offs um die Nebenfiguren kreiert werden.
"Eine Erklärung für alles" schafft es, dass man sich gerade mit dem Vater György, ein Anhänger von Orbáns Fidesz-Politik, unterhalten möchte. Oder dem Schuldirektor und der Sekretärin, die den politischen Irrwitz irgendwie organisatorisch managen müssen. Vielleicht kommt nur die Stimme von Janka etwas kurz, die nicht nur ausspricht, was ihr auf der Seele liegt, statt zu schweigen, sondern auch Ehrlichkeit und Anstand einfordert.
Elisabeth Nagy