Unsere Empfehlungen zu drei aktuellen Kinostarts ab 12. September 2024
Start eines herausragenden Dokumentarfilms und zweier Tragikomödien in der 37. Kalenderwoche 2024.
"PETRA KELLY - Act Now!" Dokumentation von Doris Metz über die 1992 getötete deutsche Politikerin Petra Kelly, die maßgeblich an der Gründung der deutschen Grünen Partei beteiligt war und auch international als Friedens-, Umwelt- und Menschenrechtsaktivistin zu den bedeutendsten politischen Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts zählt. Seit 12.09.2024 bundesweit im Kino. (Deutschland, 2024, 104 Min.) Mitwirkende: Luisa Neubauer, Otto Schily, Lukas Beckmann, John Kelly, Cora Weiss, Milo Yellow Hair, Eva Quistorp, Ina Fuchs, Stimme: Nina Kunzendorf. Hier der Trailer:
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"EZRA - Eine Familiengeschichte" Tragikomödie von Tony Goldwyn nach einem Drehbuch von Tony Spiridakis. (USA, 2023; 102 Min.) Mit Bobby Cannavale, William A. Fitzgerald, Rose Byrne, Robert De Niro u.a. seit 1. September 2024 im Kino. Hier der Trailer:
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"TREASURE - Familie ist ein fremdes Land" Tragikomödie der Regisseurin Julia von Heinz über eine in New York lebende jüdische Journalistin, die auf einer Reise nach Polen - zu den Orten des Holocausts - nach verloren gegangenen Erbstücken sucht. (Deutschland / Frankreich, 2024; 112 Min.) Mit Lena Dunham, Stephen Fry, Zbigniew Zamachowski u.a. seit 12. September 2024 im Kino. Hier der Trailer:
"PETRA KELLY - Act Now!" Dokumentation von Doris Metz über die 1992 getötete deutsche Politikerin Petra Kelly, die maßgeblich an der Gründung der deutschen Grünen Partei beteiligt war und auch international als Friedens-, Umwelt- und Menschenrechtsaktivistin zu den bedeutendsten politischen Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts zählt. Seit 12.09.2024 bundesweit im Kino. (Deutschland, 2024, 104 Min.) Mitwirkende: Luisa Neubauer, Otto Schily, Lukas Beckmann, John Kelly, Cora Weiss, Milo Yellow Hair, Eva Quistorp, Ina Fuchs, Stimme: Nina Kunzendorf. Hier der Trailer:
Elisabeths Filmkritik:
Petra Kelly war in erster Linie überzeugte Aktivistin in der Friedensbewegung, in Themen des Umweltschutzes und der Menschenrechte. Sie war eine der Gründenden der Partei Die Grünen. Sie nahm den Namen ihres Stiefvaters, einem in Deutschland stationierten US-Offiziers, an, und siedelte später mit der Familie in die USA. Es war in den USA, dass sie mit Politik in Berührung kam. Als Studentin organisierte sie politische Seminare und positionierte sich gegen den Vietnamkrieg und für die Bürgerrechtsbewegung. Ihren politischen Werdegang, ihre Ausrichtung auf soziale Themen, kennen heute vielleicht nur noch Politikinteressierte.
Doris Metz ("Schattenväter", 2005 und "TRANS - I Got Life", 2019) schlägt eine Brücke von einer Rosa Luxemburg zu Petra Kelly und der Fridays For Future-Aktivistin Luisa Neubauer. Luisa Neubauer ist in der Riege der Interviewten die Wild Card. Weder Zeitgenossin noch Wegbegleiterin. Doch schon der Zusatztitel "Act Now!" verweist auf den aktuellen Sprachgebrauch, auf den Aktivismus der aktuellen Zeit.
Das ist vielleicht auch ein Kritikpunkt, den man einbringen sollte. Das Porträt Petra Kellys hat das gar nicht nötig. Luisa Neubauer wußte erst nicht, warum sie sich für eine "längst verstorbenen Frau" interessieren sollte. Jede Generation baut auf der vorherigen auf und wenn man wahrnimmt, mit welcher Vehemenz und nicht grundlos die "jungen Leute von heute" die Versäumnisse der "älteren Generation" anprangern, dann mag man anmerken, dass es vor soundso viel Jahren nicht anders war. Am erschreckendsten ist in diesem Porträt vielleicht, dass in der politischen Weltlage (kurz vor dem Weltkrieg), die Probleme der Menschenrechte und die Rolle der Frauen schon damals dringende Themen waren, in denen wir auch heute noch nicht viel weitergekommen sind.
Doris Metz, lange Jahre als Journalistin tätig, hat Petra Kelly noch selbst erleben können. Sie war für eine Generation, die gegen verkrustete Strukturen und einem Raubbau an Natur aufbegehrte, eine Hoffnungsfigur. Der Geist dieser Hoffnung schimmert durch dieses Porträt und macht es relevant und zugänglich. Die Regisseurin baut durchaus auf Vorwissen. Sie behandelt ihre Hauptfigur respektvoll, fast schon andächtig. Metz stellt dabei die private Seite der Politikerin in den Vordergrund. Ihre Verbindung zu ihrer Großmutter bekommt ebenso Raum, wie der schmerzliche Verlust ihrer Schwester.
Das Porträt, dass viel Material aus dem Archiv enthält, wird von Interviews getaktet. Dabei hat Doris Metz die Interviewpartner sorgfältig gewählt. Hier ist weniger mehr. Zu den Interviewten gehört Otto Schily, aber auch Lukas Beckmann. Wir erfahren vieles im Gespräch mit ihrem Halbbruder, der Material aus dem Familienarchiv beisteuert. Richtig und wichtig ist, dass der Film "Petra Kelly" ihre Beziehung zu Gerd Bastian nicht als Liebesgeschichte präsentiert. Hier wird nicht einmal im Ansatz zugelassen, dass Bastian über den Tod hinaus eine Deutungshoheit bekommen könnte. Vielmehr wird gezeigt, wie unwürdig man mit dem Mord an ihr umgegangen ist, auch indem man eine Trauerfeier für Täter und Opfer gemeinsam ausrichtete. Ein Fehler, wie ihr ehemaliger Weggenosse zugibt.
Das Porträt fühlt sich Petra Kelly verpflichtet und keiner politischen Ausrichtung. Ihre Kritik an der Entwicklung, die die Partei der Grünen einschlug, kommt zur Sprache. Wie auch die Untätigkeit angeprangert wird, ihr bei der Hetze, die gegen sie geführt wurde, beizustehen. Wenn es denn eine Leerstelle gibt, dann ist es doch wieder Gerd Bastian, der nicht wollte, dass sie nach der Wendezeit in ihre Stasi-Akten schaut. Zumindest die Angehörigen hätten das Recht auf Akten-Einsicht. Hier deutet Doris Metz nur an, was bisher nicht zu belegen ist. Spekulation hilft aber nicht weiter. Die politischen Strömungen bleiben auch etwas zu sehr am Rand. Doch eins ist sicher, Petra Kellys Person, ihr Werdegang, ihr Einfluss auf die politische Landschaft, ihr Wirken auf aktivistischer Seite, sollte auch heute noch präsent sein.
Elisabeth Nagy
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"EZRA - Eine Familiengeschichte" Tragikomödie von Tony Goldwyn nach einem Drehbuch von Tony Spiridakis. (USA, 2023; 102 Min.) Mit Bobby Cannavale, William A. Fitzgerald, Rose Byrne, Robert De Niro u.a. seit 1. September 2024 im Kino. Hier der Trailer:
Elisabeth Filmkritik:
Die deutsche Tobis macht eines richtig: den US-amerikanischen Film mit dem schlichten Titel "Ezra", erweitert der Verleih mit dem Zusatz "Eine Familiengeschichte". Im besten Sinn ist diese Geschichte um den 11jährigen Ezra genau das. Der Regisseur Tony Goldwyn ("Betty Anne Waters" von 2010, sonst hauptsächlich als Darsteller bekannt und hier auch in einer Nebenrolle zu sehen) und der Drehbuchautor Tony Spiridakis setzen die Handlung um ein Kind im Autismus-Spektrum nicht direkt in den Mittelpunkt. Vielmehr lernen wir hier die Eltern und den Großvater kennen, die alle auf ihre Art und Weise mit den Herausforderungen des Alltags umgehen.
Es ist Vater Max, gespielt von Bobby Cannavale, der die Handlung vorantreibt. Er hat ein inniges Verhältnis zu Ezra (William Fitzgerald), doch der Junge lebt bei seiner Mutter Jenna (Rose Byrne), die inzwischen eine neue Beziehung eingegangen ist. Eigentlich ist die Aufteilung klassisch. Spaß mit dem Vater, das tägliche Kleinklein bleibt an der Mutter hängen, deren Sorgen man leicht als Helikoptermutterschaft missdeuten könnte. Tony Spiridakis begeht aber nicht den Fehler, den Figuren nur gegensätzliche Erziehungsvorstellungen mitzugeben. Die Sorge um das Kind steht bei beiden Elternteilen klar im Vordergrund. Man versteht die Nöte der Mutter, die nicht nur ihr Kind beschützen, sondern auch noch die Unzulänglichkeiten des Kindskopfes von Vater ausbügeln muss. Der Vater wiederum mag an seinem Sohn die Notwendigkeit einer auf das Kind zugeschnittenen Betreuung nicht wahrhaben. Er kümmert sich um seinen Sohn, aber nicht immer auf die richtige Art. Es treffen hier zwei Sorge-Ansätze aufeinander, die nicht vereinbar scheinen. Die Mutter möchte ihren Sohn in einer für ihn beschützenden Welt wissen. Der Vater wiederum möchte seinen Sohn in eine neurotypische Welt integrieren und ihn für das, was auf ihn zukommt rüsten.
Max, aus seiner Sicht wird die Handlung weitgehend erzählt, ist hier kein Held. Er ist ein kleiner, mehr oder weniger erfolgreicher Comedian, der seinen Sohn auch gerne in den Stand Up-Clubs dabeihat, sozusagen als Glücksbringer. Dabei ist Ezra auch Inspiration zu seinem Act auf der Bühne. Aus Sicht der Mutter ist es ein Unding, ein Kind nachts in Bars zu schleppen. Schluss mit lustig ist, als Max mal wieder austickt und daraufhin ein Kontaktverbot zu dem Kind verhängt wird. Die Ereignisse an sich sollen hier gar nicht nacherzählt werden. Ein Ereignis führt zum anderen und in der Folge entführt Max seinen Sohn. Wie gesagt, sowohl Mutter als auch Vater wollen das Beste für das Kind, das einfach ist, wie es ist.
Mit der Entführung, die man durchaus nachvollziehen kann, setzt sich eine Lawine in Gang. Jenna möchte nicht alles noch schlimmer machen, aber sie kann nicht auf Max Rücksicht nehmen, sondern muss ihren Sohn nach Hause holen. Für Max ist das die Chance, Ezra besser kennenzulernen. Denn auch als Vater hat er nicht verinnerlicht, dass sein Sohn nicht ist, wie er ihn haben möchte. In dem Sinne ist diese Familiengeschichte ein Roadmovie zu der Erkenntnis, was sein Sohn braucht beziehungsweise nicht braucht. Dabei steht auch die Verfassung des Vaters im Raum, der mit seinem Vater, gespielt von Robert de Niro (der übrigens auch entsprechende Erfahrungen als Vater eines autistischen Kindes hat), ein schwieriges Verhältnis hat.
Tony Spiridakis hat das Buch über eine lange Zeit entwickelt. Als Vater eines autistischen Kindes flossen persönliche Erfahrungen in die Geschichte mit ein. Bei der Besetzung von Ezra galt es, einen Darsteller zu finden, der Autismus nicht spielen muss. William Fitzgerald ist neurodivers und durfte auf seine Figur Einflüssen nehmen. Bei der Besetzung und der Crew versuchte man Personen zu finden, die ebenso Erfahrungen mitbringen. Darüber hinaus bat man immer wieder um Feedback in der Community.
Das Team von "Ezra" versuchte den Spagat, Autismus authentisch in einem Film dazustellen, wohlwissend, dass viele im Publikum nur die einschlägigen Klischeerollen im Kopf haben, und trotzdem einen sowohl komischen als auch dramatischen Unterhaltungsfilm zu drehen. Auch wenn das nicht immer gelingt, spürt man, mit wie viel Herz die Geschichte um diese Familie erzählt wird.
Elisabeth Nagy
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"TREASURE - Familie ist ein fremdes Land" Tragikomödie der Regisseurin Julia von Heinz über eine in New York lebende jüdische Journalistin, die auf einer Reise nach Polen - zu den Orten des Holocausts - nach verloren gegangenen Erbstücken sucht. (Deutschland / Frankreich, 2024; 112 Min.) Mit Lena Dunham, Stephen Fry, Zbigniew Zamachowski u.a. seit 12. September 2024 im Kino. Hier der Trailer:
Ulrikes Filmkritik:
„Treasure – Familie ist ein fernes Land“ beschreibt die Sprachlosigkeit zwischen einem Vater, der den Holocaust erlebt hat und seiner Tochter, die von seinen tragischen Erlebnissen fast nichts weiß.
Die jüdische Journalistin Ruth (Lena Dunham), von ihrem Vater Edek, (Stephen Fry) liebevoll „Ruthi“ genannt, hat sich von New York auf die Suche nach der verlorenen Zeit gemacht. Ihr Vater hat als kleiner Junge den Holocaust erlebt und ist bis heute noch traumatisiert. Ruth weiß nur, dass ihre Eltern aus Polen stammen und Auschwitz überlebt haben. Die Mutter ist erst kürzlich verstorben.
Es war nicht einfach, Edek davon zu überreden mit ihr an jene Orte zu reisen, die alte Wunden bei ihm wieder aufreißen würden. Widerwillig kommt er mit. Dass er jedoch seinen Flug verpasste, kam bestimmt nicht von ungefähr. In Warschau angekommen, weigert er sich in einen Zug zu steigen. Lieber heuert er den Taxifahrer Stefan (Zbigniew Zamachowski) an, der Vater und Tochter in seinem Mercedes nach Lodz bringen soll, wo Edeks Eltern gelebt haben.
Vor dem Krieg hatten sie eine Fabrik in Polen. Ruth will unbedingt das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau besuchen, doch ihr Vater schlägt ihr einen Ausflug ins Chopin Museum vor. Orte, die ihm zu schmerzhaft sind, will er meiden, denn eigentlich ist er nur mitgekommen, um „Ruthi“ zu beschützen.
Ihr Weg gemeinsamer führt über Warschau, wo die Eltern ins Ghetto gesperrt wurden, weiter nach Lodz in eine Wohnung, die den Großeltern gehörte und wo die Mutter früher gelebt hat. Sie ist zwar bewohnt aber inzwischen eine verkommene Bruchbude geworden. 1940 mussten die Eltern die Wohnung räumen.
Angeblich war die Wohnung leer als die jetzigen Mieter einzogen. Doch Ruth will unbedingt das Innere sehen und Edek entdeckt dort so einige persönlichen Gegenstände wieder, darunter auch altes Porzellan, das Ruths Eltern gehörte. Um es zu erwerben, bietet sie eine Unsumme. Widerwillig rückt der jetzige Bewohner die Sachen raus, nachdem Ruth mit einem jungen Dolmetscher an ihrer Seite noch einmal zurückkam.
Sie fahren weiter zum Friedhof, doch es gibt kein Familiengrab, denn die Leichen der Konzentrationslager Ausschwitz Birkenau wurden restlos in Krematorien und Massengruben verbrannt. Die 36-jährige Ruth erinnert sich, dass ihre Mutter nachts oft wach wurde, weil sie deshalb Albträume hatte.
Erek fährt nun doch mit Ruth nach Auschwitz. Sie hat einen Guide gebucht. Die Polen bezeichnen Auschwitz als ein Museum, obwohl es ein Todeslager ist. Erek findet die Stelle, wo er von seiner Frau getrennt wurde, dort, wo die Gleise endeten.
Bewusst bringt Edek etwas komödiantisches mit in seine Rolle. Man begreift schnell, dass er seine Tochter vor dem Schmerz, den er in sich trägt, unbedingt beschützen muss. Auch Ruth hat so einige „Macken“, was ihre Essgewohnheiten betrifft. Hier trifft das Sprichwort zu: „Was sich neckt, das liebt sich“.
Mit viel Verständnis für die beiden Hauptfiguren erzählt Julia von Heinz nach Lily Bretts Roman „Zu viele Männer“ die Geschichte einer Annäherung und gegenseitiger Kabbelei, dem Brechen eines Schweigens und einem überraschendem Geschenk des Vaters an die Tochter am Ende dieser aufwühlenden Reise. Allein die beiden Hauptdarsteller sind ein Geschenk für diesen vielschichtigen und berührenden Film über das Trauma Holocaust, der im Jahr 1991 spielt, in einem von Armut gezeichnetem Land.
Ulrike Schirm