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Kinostart »Die Ermittlung« mit Prädikat besonders wertvoll

Die Deutsche Film- und Medienbewertung (FBW) hat zwei aktuelle Kino-Werke, die sich mit dem Nazi-Gräuel befassen, mit dem Prädikat besonders wertvoll ausgezeichnet - eine neue DDR-Komödie mit Sandra Hüller dagegen nicht!



Die früher als Filmbewertungsstelle (FBW) in Wiesbaden bekanntgewordene Behörde hat zwei jetzt kürzlich im Kino gestartete Werke, die sich mit dem Nazi-Gräuel befassen, mit dem Prädikat besonders wertvoll ausgezeichnet.

Eigentlich gehört in diese Kategorie auch der im Februar 2024 angelaufene großartige Film "The Zone of Interest" von Jonathan Glazer über den Kommandanten des Konzentrationslagers Auschwitz. Der britische Regisseur war 2004 schon einmal von der FBW ausgezeichnet worden. Trotz der deutschen Hauptdarsteller Sandra Hüller und Christian Friedel steckten bei der von uns am 29. Februar 2024 besprochenen internationalen Produktion jedoch keine deutschen Gelder, weil an dem Film nur die USA, Polen und Großbritannien beteiligt waren, sodass der Film von der FBW leider nicht berücksichtigt werden konnte.

Vor gut 14 Tagen lief jedoch das von der FBW ausgezeichnete Historiendrama "FÜHRER UND VERFÜHRER" an. Der Film von Joachim A. Lang spannt einen Bogen über das Leben und Wirken von Hitlers Propagandaminister Joseph Goebbels und vermischt historische Aufnahmen mit nachinszenierten Handlungen. Auch wenn die Idee der Verdeutlichung der Nazi-Propaganda durch Spielfilmszenen gut gemeint war, so krankt der Film in unserer Kritik vom 12. Juli 2024 an dem übereifrigen und nicht ganz überzeugenden Schauspiel von Robert Stadlober als Darsteller von Goebbels. Vieleicht liegt es auch an der Mischung zwischen Dokumentation und fiktionalem Re-Enactment, das uns erheblich störte, weil das Re-Enactment unweigerlich an billig gemachte Vorabendserien der privaten Fernsehsender erinnert.

Ganz aktuell in dieser Woche ist mit RP Kahls Inszenierung "DIE ERMITTLUNG", einer Verfilmung des 1965 uraufgeführten, gleichnamigen Theaterstücks von Peter Weiss, dafür aber ein überzeugendes Werk in den Kinos gestartet, das die Protokolle aus dem ersten Frankfurter Auschwitzprozess für das Kino kongenial aufbereitet und dafür ebenfalls von der FBW mit dem Prädikat besonders wertvoll ausgezeichnet wurde.

"DIE ERMITTLUNG" vierstündiges Gerichtsdrama von Rolf Peter Kahl (genannt RP Kahl) über die juristische Aufarbeitung der Nazi-Gräueltaten im Konzentrationslager Auschwitz. (Deutschland 2024 | 241 Min.) Mit Rainer Bock, Clemens Schick, Bernhard Schütz u.a. seit 25. Juli 2024 vereinzelt im Kino. Hier der Trailer:



Ulrikes Filmkritik:

"Die Ermittlung" ist ein „Oratorium in 12 Gesängen“.
Das 1965 von Peter Weiss uraufgeführte Stück beinhaltet den Auschwitzprozess gegen das Wachpersonal des Konzentrationslagers, der in Frankfurt/Main zwischen Dezember 1963 und August 1965 stattfand. In seinem Stück ordnet Weiss die Fakten in 11 Themengebiete, den Oratorien oder Gesängen:

Gesang von der Rampe, Gesang vom Lager, Gesang von der Schaukel, Gesang von der Möglichkeit des Überlebens, Gesang vom Bunkerblock, Gesang vom Zyklon B, Gesang von den Feueröfen, Gesang vom Unterscharfführer Stark, Gesang von der Schwarzen Wand, Gesang vom Ende der Lili Tofler, der Gesang von Phenol u.s.w.

Mit seinen Zuordnungen rekonstruiert Weiss den Weg und das Leiden bis hin zum Tod der Inhaftierten im Konzentrationslager. Er versucht anhand der Aussagen von Angeklagten, Zeugen, Richtern und Verteidigern die Gründe auszuloten, wie es in Auschwitz, wo Menschen zu Güteklassen eingeteilt wurden, zu einer Verdinglichung* der Menschen kommen konnte, wodurch sie sowohl zu Tätern als auch zu Opfern wurden.

Vor fast 60 Jahren fand die Uraufführung im Deutschen Theater in Berlin statt. Es lag Weiss viel daran - zwanzig Jahre nach Kriegsende - mit seinem grandiosen Text gegen die Verdrängung und Tabuisierung dieser schrecklichen Tatsachen in der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft, vorzugehen.

Nun wurde der gleichnamige Ensemblefilm unter der Regie von RP Kahl mit 60 Schauspielern, weiblich und männlich, die den Text von Peter Weiss Wort für Wort auswendig gelernt haben, filmisch umgesetzt, mit der Nüchternheit in einer minimalistischen Kulisse. So lenkt nichts von den einzelnen Protagonisten und ihren Texten ab.

Als Zeugen treten auf: Christiane Paul, Nicolette Krebitz. Andreas Pietschmann, Peter Schneider und Tom Wlaschia. Richter: Rainer Bock, Verteidiger: Bernhard Schütz, Ankläger: Clemens Schick.

Es werden nochmals die Auschwitz-Prozesse, bei denen Weiss damals selbst anwesend war anhand von Protokollen und seinen eigenen bewegenden Aufzeichnungen zum Leben erweckt.

Man folgt der Adaption des Stücks mit langsam ansteigender Wut. Nicht einer von den Tätern hat auch nur einen Funken Reue gezeigt. Man lauscht ergriffen den Aussagen der Zeugen besonders denen der Zeuginnen. Und schwankt zwischen Trauer und Entsetzen. Man muss sagen, die Schauspieler verfügen über Ihr Handwerk. Es wird nichts übertrieben, der Ton bleibt ruhig und die Körpersprache ganz normal. Jeder von ihnen weiß, mit seinem Text sachlich umzugehen. Dass der Regisseur eine kleine Änderung vorgenommen hat, verstärkt das Ganze noch. Statt der auf neun reduzierten Zeugen, führt er im Film 28 vor, die anonym aus dem Hintergrund hervortreten und so bekommen die Opfer noch einige Stimmen und Gesichter mehr. Alles, was grauenvoll war, wurde zum Normalfall. Niemand wehrte sich, alle wussten, dass es sinnlos war. Ihnen wurde das Denken regelrecht abgenommen.

Wir leben leider in einer Zeit, in der man über das Thema viel mehr sprechen sollte, denn es gibt inzwischen wieder zu viele irre Leugner. Das neu interpretierte Werk ist ein beeindruckender und fesselnder Film geworden. Ich habe nicht den geringsten Impuls verspürt, das Kino vorzeitig zu verlassen, trotz der 4 Stunden Länge, mit kurzer Pause. (Die Berlinale 2024 wollte den Film nicht haben.)

Ulrike Schirm


* Der Begriff Verdinglichung geht zurück auf Hegel und Feuerbach und wird von Marx, Lukács, Adorno und anderen Theoretikern verwendet. Er bezeichnet in der marxistischen Theorie die Verkehrung des Verhältnisses von arbeitsteilig füreinander produzierenden Menschen in ein versachlichtes Verhältnis von Waren zueinander.

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Im Jahr 2022 wurde auf dem Festival des Deutschen Films in Ludwigshafen am Rhein Natja Brunckhorsts feinfühliger Debütfilm „Alles in bester Ordnung“ für ihr einfühlsames Menschenbild einer Außenseiterin ausgezeichnet.

Zwei Jahre später folgte im Juni 2024 auf dem Filmfest München mit der Premiere von "Zwei zu Eins" ihr neuestes Werk nach einer wahren Begebenheit in der DDR, das zwar mit viel Witz, aber auch mit etwas zu viel blühender Fantasie im Drehbuch ausgeschmückt wurde, wodurch der Film nicht nur an glaubwürdig verliert, sondern auch immer mehr ehemalige Bürger des zweiten deutschen Staates verärgert, die inzwischen über den Klamauk westdeutscher Produktionen nicht mehr lachen wollen.

"ZWEI ZU EINS" Komödie von Natja Brunckhorst über eine Patchworkfamilie und ihre Nachbarn in der DDR, die 1990 Millionen Ost-Mark aus einem Bergwerksstollen klauen, um sie in letzter Minute vor der Wiedervereinigung gewinnbringend in D-Mark zu tauschen. (Deutschland, 2024 | 116 Min.) Mit Sandra Hüller, Max Riemelt, Ronald Zehrfeld u.v.a. seit 25. Juli 2024 vereinzelt im Kino. Hier der Trailer:



Ulrikes Filmkritik:

Sommer 1990 in Halberstadt DDR. Die Wiedervereinigung ist noch nicht ganz vollendet. Maren (Sandra Hüller) ihr Lebensgefährte Robert (Max Riemelt) und Volker, der aus dem Westen zurückgekehrte Vorgänger von Max (Ronald Zehrfeld), beobachten wie ein Lastwagen nach dem anderen in einem Riesenschacht verschwindet, der längst stillgelegt war. Neugierig überlegen sie, was die da wohl wollen.

Ein befreundeter Wachmann, Markowski (Peter Kurth), der für die NVA arbeitet, nimmt das Risiko auf sich und nimmt die drei mit in die unterirdischen Tunnel- und Stollenanlage in der, wie sich herausstellt, die Banknoten der DDR eingelagert werden. Sie sind der Auffassung, dass sie das Recht haben, zu sehen, was der Staat vor ihnen versteckt.

Nun ist Eile angesagt. In wenigen Tagen verlieren die Berge von Geldscheinen ihren Wert, weil die Frist für den Umtausch der DDR-Währung in D-Mark (Zwei zu Eins) abläuft. Es ist die letzte Möglichkeit Geld zu tauschen. Und so klauen Maren, ihre Freunde und Nachbarn heimlich Millionen von Ostmark und teilen das Geld untereinander auf, um es in D-Mark zu wechseln.

Sie entwickeln einen Plan, wie sie aus diesem unvorhergesehenen Geldsegen Kapital schlagen können und kommen auf einige skurrile Ideen. Besonders jetzt, wo sie plötzlich von ungewohnter Arbeitslosigkeit bedroht sind. Kurioserweise tauchen zwischen dem Berg von Scheinen ausgediente zweihunderter und fünfhunderter auf, die vorher nie ausgeliefert wurden. Die Halberstädter sind ziemlich wütend und fühlen sich betrogen über die Tatsache, dass das angebliche Volkseigentum zu einer wertlosen Konkursmasse wurde.

Angespornt von dem Gedanken, wenigstens jetzt noch schnell für eine ihnen zustehende Gerechtigkeit zu sorgen.

Der Film beruht in Ansätzen auf wahren Tatsachen. Das wertlose Geld sollte in dem unterirdischen Stollen nach und nach verrotten. Man wusste, dass heimlich Geld entwendet wurde, aber nicht in welchen Maßen und auch nicht von wem. Es ging hinter den Kulissen ziemlich chaotisch zu. Auch die Westdeutschen nutzten die Gelegenheit für krumme Geschäfte, entwickelten kriminelle Gedanken, beruhend auf Geldgier und Betrug, was bis heute nicht aufgeklärt wurde.

Natja Brunckhorst hat daraus eine unterhaltsame Sommerkomödie gemacht, verbunden mit bitterer Wahrheit und man kann es ruhig spoilern: Ihr Zusammenhalt und ihre Gemeinschaft haben zu einem glücklichen Ende geführt.

Ulrike Schirm


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"AVERROES & ROSA PARKS" Dokumentarfilm von Nicolas Philibert. (Frankreich, 2024 | 143 Min.) Hier der Trailer:



Ulrikes Filmkritik:

Mit "Averroes & Rosa Parks" bringt der Dokumentarfilmer Nicolas Philibert den Mittelteil seiner Trilogie über Betreuungseinrichtungen für psychisch kranke Menschen in der zentralen psychiatrischen Gruppe von Paris - nach der Premiere im diesjährigen Berlinale Special der 74. Internationalen Filmfestspiele - jetzt auf unsere Kino-Leinwände.

Schon im ersten Teil "Auf der Adamant" zeigte er einen außergewöhnlichen Ort, ein Bootshaus auf der Seine, wo psychisch beeinträchtigte Patient*innen an unterschiedlichen Kreativ-Therapien teilnehmen können und somit Zuspruch und Hilfe erhalten. Für seine Dokumentation gewann er auf der 73. Berlinale 2023 den Goldenen Bären.

Nun dokumentiert er das Pariser Krankenhaus Esquirol Hospital mit seinen zwei psychiatrischen Abteilungen, benannt nach dem andalusischen Philosophen und Hofarzt Averroès und der US-amerikanischen Bürgerrechtlerin Rosa Parks.

Das Haus ist eine riesige quadratische Anlage mit einer schönen Grünfläche. Die Patient*innen wohnen dort wie in einer Wohngemeinschaft und sind total frei. Sie können kommen und gehen, wann und wie sie wollen. Wer Wert darauflegt, kann sich koscheres Essen liefern lassen. Das Gebäude liegt nicht weit entfernt von der „Adamant“ und wer will kann das Schiff weiterhin besuchen und nach Lust und Interesse zwischen vielen Kursangeboten wählen.

Ein wichtiger Teil der Besserung ist die Medikamenteneinnahme. Für jeden einzelnen gibt es eine Individualpflegerin, falls es mit der Einnahme Schwierigkeiten geben sollte.

Am wichtigsten sind natürlich die intensiven Gespräche mit den einzelnen Menschen und ihren unterschiedlichen Erkrankgungen. Es ist erstaunlich wie ernsthaft und reflektiert einige von ihnen vor einer Kamera über ihr Befinden reden können. Die Arbeit der Pfleger und Psychiater ist auf einem einfühlsamen Niveau. Ein 34-jähriger Mann ist nunmehr seit 14 Jahren dort in psychischer Therapie. Um ihm noch besser helfen zu können, schlägt man ihm vor, vorübergehend in einer Gastfamilie zu wohnen.

Ein anderer beklagt sich, dass ständig über Krankheiten geredet wird, aber es kein Ort zum Atmen gibt. Leider ist das bei der Hospitalisierung üblich. Es fehlt oft an Freiheit und Zuneigung. Andere klagen über die Einnahme von Medikamenten, die ihrem Körper nicht guttut. Viele Aussagen hängen mit Verzweiflung zusammen. Man spürt deutlich, dass den behandelten Ärzten jeder ihrer Anvertrauten sehr am Herzen liegt und ihr Ziel letztendlich darin liegt, dass sie ein selbstständiges Leben ohne Krankenhausaufenthalt führen können. Ein Wunsch, der oft sehr lange dauert.

Einige verspüren des nachts Ängste und haben böse Erscheinungen, denen bietet man ein Doppelzimmer an, dass sie sich nicht allein fühlen. Eine andere ist aggressiv, aber auch ängstlich und bezeichnet die Psychologen als Idioten, obwohl diese ihre Arbeit mit viel Geduld, Einfühlungsvermögen und Humor ausüben. Dann sind da auch jene, die von schrecklichen Erinnerungen geplagt sind und besondere Hilfe benötigen.

Gott sei Dank kursiert heutzutage kaum noch der Begriff von Irrenhaus mit Elektroschocks. Auch wenn die Doku einige heftige Szenen von Patienten und Patientinnen beinhaltet, handelt es sich nicht um Verrückte in negativem Sinn. Die meisten, die hier zu Wort kommen sind unglücklich oder einsam, vom Leben überfordert und kommen ohne Hilfe nicht mehr zurecht.

Ein Dankeschön an Regisseur Nicolas Philibert, der uns mit seinem Film Einblick in die Welt derer gibt, deren Heilungsweg oft recht lange dauert und hoffentlich mit einem lohnenden Ziel endet. Ein Dankeschön auch an die Patienten in dem Care-Center, die sich nicht vor der Kamera scheuen, über ihre Krankheiten ganz offen zu reden.

Ulrike Schirm


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