Vom Kinderfilm bis zum Gerichtsdrama - Unsere Filmkritiken in der 44. KW 2023
Filmbesprechungen zu TITINA, ANATOMIE EINES FALLS, LA SINGLA und aus der Vorwoche TORI & LOKITA, ein sozialkritisches Werk der Dardenne Brüder.
"TITINA - Ein tierisches Abenteuer am Nordpol" Animationsabenteuer für Kinder und Erwachsene von der norwegischen Regisseurin Kajsa Næss ergänzt mit historischen SW-Realfilm-Aufnahmen. (Norwegen, 2022; 92 Min.) Mit den Stimmen von Jan Gunnar Røise, Kåre Conradi, John F. Brungot bzw. deutschen Synchronsprechern. Seit 2. November 2023 im Kino. Hier der Trailer:
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"ANATOMIE EINES FALLS" ein Krimidrama von der französischen Regisseurin Justine Triet über die ungeklärte Todesursache des Ehemanns einer deutschen Autorin, das auf den diesjährigen Filmfestspielen von Cannes die Goldene Palme gewann. (Frankreich, 2023; 151 Min.) Mit Sandra Hüller in einer Paraderolle sowie mit Swann Arlaud, Milo Machado Graner u.a. seit 2. November 2023 im Kino. Hier der Trailer:
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"LA SINGLA" Dokumentation von Paloma Zapata über die 1948 geborene, legendäre gehörlose Flamenco-Tänzerin Antoñita Singla, die als "beste Flamenco-Tänzerin der Welt" gefeiert wurde, aber auf der Höhe ihrer Kunst spurlos verschwand. (Spanien / Deutschland, 2023; 95 Min.) Mit Antoñita Singla und Helena Kaittani, seit 2. November 2023 in ausgesuchten Kinos zu sehen. Hier der Trailer:
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"TORI & LOKITA" Sozialdrama der Gebrüder Jean-Pierre & Luc Dardenne über junge illegale Einwanderer aus Afrika, das tragisch endet. (Belgien / Frankreich, 2022; 89 Min) Mit Pablo Schils, Joely Mbundu, Alban Ukaj u.a. seit 26. Oktober 2023 im Kino. Hier der Trailer:
"TITINA - Ein tierisches Abenteuer am Nordpol" Animationsabenteuer für Kinder und Erwachsene von der norwegischen Regisseurin Kajsa Næss ergänzt mit historischen SW-Realfilm-Aufnahmen. (Norwegen, 2022; 92 Min.) Mit den Stimmen von Jan Gunnar Røise, Kåre Conradi, John F. Brungot bzw. deutschen Synchronsprechern. Seit 2. November 2023 im Kino. Hier der Trailer:
Elisabeths Filmkritik:
Eine kleine Terrier-Hündin unternahm einmal eine Reise in die Arktis. Das ist sicherlich nur eine Fußnote in der Enzyklopädie der Entdeckungsreisen. Die Geschichte, die die Drehbuchautoren Kajsa Næss und Per Schreiner erzählen, hat sich so oder so ähnlich tatsächlich zugetragen. Titiana war eine streunende Hündin in den Gassen der italienischen Hauptstadt, als sie dem Ingenieur Umberto Nobile zulief, der sie bei sich aufnahm. Nobile baute "fliegende Schiffe" (Zepelline). Es war der norwegische Polarforscher Roald Amundsen, der, nachdem er schon den Südpol mit seiner Mannschaft als Erster erreicht hatte, sich dem Nordpol aus der Luft nähern wollte. Für eine Expedition per Luftschiff fragte er Nobile an, der eines seiner Flugobjekte umbaute, so dass dieses 1926 unter dem Namen "Norge" zum Nordpol aufbrach. Nobile war sicherlich nur der Kapitän und Ingenieur, der zusammen mit Amundsen auch noch diesen Flecken Erde erkunden wollte, aber seine Leistung war schließlich keine, die man so beiseiteschieben sollte.
Es war eine Zeit der Entdeckungen und es war eine Zeit der Wettläufe. Wer als Erster etwas entdeckt und vollbringt, dem fliegen Anerkennung und Ruhm zu. Um es kurz zu machen, Nobile und Amundsen stritten sich um den Ruhm. Den Namen Amundsen kennt vielleicht heute auch nicht mehr jedes Kind, aber von Umberto Nobile haben noch viel weniger Leute gehört. Dabei sind beide Namen eng verknüpft. Die norwegische Regisseurin Kajsa Næss erzählt in ihrem Animationsfilm, übrigens nach sehr erfolgreichen Kurzfilmen ihr Langspielfilmdebüt, von der Reise, die diese beiden Forscher gemeinsam unternommen haben und von der Konkurrenz zwischen den beiden. Immer wieder baut Næss Archivaufnahmen von Amundsen, Nobile und auch seinem Hund mit ein, so dass das Publikum die doch so einfach wirkende Geschichte einordnen kann. Denn die Erzählperspektive ist die der kleinen Hündin. Titina kümmert sich nicht um Ruhm und ihr ist sicherlich auch egal, ob sie sich auf einem Luftschiff über der Arktis oder in den italienischen Gassen befindet. Sie ist eine unparteiische Beobachterin.
Die Animation ist klar und flächig, aber sehr detailreich. Kajsa Næss fängt sowohl die italienischen Städte, die norwegischen Häfen und die arktische Landschaft wunderbar ein. Ihr Film lief zum Beispiel auf dem tschechischen Filmfest Zlín, das sich dem Kinder- und Jugendfilm verschrieben hat und wo die Kinderjury "Titina" in ihrer Kategorie ausgezeichnet hat. Auch das sächsische Kinderfilmfest Schlingel in Chemnitz hatte den Film im Programm und das Internationale Trickfilmfestival Stuttgart führte "Titina" sogar im Hauptwettbewerb. Næss zeigt die Rivalitäten, aber zeigt die Hauptfiguren in all ihrer Komplexität, ihren unterschiedlichen Ambitionen und Intentionen. Bei ihr sind diese historischen Figuren keineswegs Helden, sondern widersprüchliche Menschen mit Fehlern und Kanten. Und gerade dadurch gibt sie ihnen etwas sehr Menschliches.
Der Animationsfilm "Titina" ist ein Abenteuerfilm für kleine und große Zuschauende. Es geht vordergründig um Entdeckerdrang und Konkurrenz. Dazu kommt noch eine Prise Nationalstolz für eine norwegische Leistung oder eben für eine italienische Leistung. Denn nicht nur bei Fußball-Weltmeisterschaften oder Olympischen Spielen gilt es als Nation über andere zu triumphieren. Dieser Aspekt wird durchaus mit eingebaut. Und so macht sich der im Streit unterlegene Nobile zu einer zweiten Expedition auf, um die Reise zu wiederholen.
Sein Flugschiff heißt nun "Italia". Es ist keine Geschichte des Erfolges, es ist vielmehr eine behutsame Erzählung, was Eitelkeit und der Drang besser, schneller, Erster zu sein, mitunter kostet. Für einen Hund spielt all das keine Rolle. Und auch Amundsen wollte dem einstigen Freund in der Not beistehen. Wer die Geschichte nicht kennt, dem werde ich sie auch nicht verraten. So viel sei dennoch gesagt, "Titina" erzählt von einer Expedition, aber auch von einem Zusammenhalt, vom Bedauern und vom Verzeihen. Themen, die zumeist vernachlässigt werden.
Elisabeth Nagy
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"ANATOMIE EINES FALLS" ein Krimidrama von der französischen Regisseurin Justine Triet über die ungeklärte Todesursache des Ehemanns einer deutschen Autorin, das auf den diesjährigen Filmfestspielen von Cannes die Goldene Palme gewann. (Frankreich, 2023; 151 Min.) Mit Sandra Hüller in einer Paraderolle sowie mit Swann Arlaud, Milo Machado Graner u.a. seit 2. November 2023 im Kino. Hier der Trailer:
Reginas Filmkritik:
Es ist faszinierend, Sandra Hüllers Minenspiel in "Anatomie eines Falls" zu beobachten. Hinter ihrem scheinbar distanzierten Antlitz blitzen sekundenschnell immer wieder heftige Emotionen auf: Ärger, Wut, Angst, aber auch Freude und Zärtlichkeit. Dann scheint ihr Gesicht wieder zu versteinern: sie ist diese kühle, undurchschaubare Schriftstellerin, angeklagt wegen Mordes an ihrem Ehemann.
"Anatomie eines Falls" ist ein Gerichtsdrama, ein Prozessthriller, aber auch ein Beziehungsdrama. Bis zum Schluss bleibt offen, was wirklich geschah und wie es geschah. Je mehr der Zuschauer erfährt, desto unsicherer wird er. Sandra Hüller, ambivalent und vielschichtig, ist die ideale Besetzung für diese Rolle.
Justine Triet, Regisseurin
„Sie ist jemand, der jeden künstlichen Dialog in einer Realität verankert, die durch sie geschieht. Oder sie lehnt ihn ab und wirft ihn mir ins Gesicht. Es ist auf jeden Fall sehr lebendig; sie verteidigt ihren starken Standpunkt, sie drückt jegliche Regung durch jede Faser ihres Körpers aus. Sie prägt einen Film gefühlsmäßig wie kaum eine andere Schauspielerin. Am Ende der Dreharbeiten hatte ich das Gefühl, dass sie mir einen Teil von sich gegeben hatte, wirklich. Eine fantastische Einmaligkeit, die nicht zu wiederholen ist.“
Sandra Hüller spielt Sandra Voyter, eine erfolgreiche deutsche Autorin, die mit ihrem Mann Samuel und ihrem 11-jährigen Sohn Daniel in einem abgelegenen Chalet in den französischen Alpen lebt. Gleich zu Beginn erfährt der Zuschauer, wie es um die Ehe zwischen Sandra und Samuel steht. Während die bekannte Schriftstellerin einer Studentin unten im Haus ein Interview gibt und ein bisschen mit ihr flirtet, werkelt Samuel, Dozent und erfolgloser Schriftsteller, oben im Dachstuhl am Ausbau des Hauses. Plötzlich ertönt ohrenbetäubender Musiklärm, Samuel spielt „P.I.M.P.“ des Rappers 50 Cent in Dauerschleife und macht jegliche Konversation unmöglich, das Interview wird abgebrochen.
Einige Zeit später macht Sohn Daniel nach einem Spaziergang mit seinem Hund Snoop eine furchtbare Entdeckung: sein Vater liegt blutüberströmt im Schnee vor dem Haus, Samuel ist tot. Ist er vom Balkon des Dachbodens gestürzt, war es ein Unfall, oder Selbstmord oder war es Mord?
Justine Triet, Regisseurin
„Ich wollte einen Film über die Zerrüttung einer Paarbeziehung realisieren. Die Idee war, ausgehend vom Sturz eines Körpers vom Scheitern eines Paares zu erzählen, von einer Liebesgeschichte.“
Der Titel ist bewusst zweideutig "Anatomie eines Falls": das kann den Fall oder Sturz aus dem Fenster meinen, aber auch den Fall vor Gericht – wie so einiges in diesem Film bleibt die Interpretation dem Zuschauer überlassen.
Schuld oder Unschuld? Fast zwei Drittel der Szenen spielen im Gerichtssaal, Zeugen, Sachverständige und Psychoanalytiker beleuchten den Fall von allen Seiten, Staatsanwalt und Verteidiger liefern sich scharfe Duelle, alle Möglichkeiten werden durchgespielt. Das könnte ermüdend sein, ist es aber nicht dank der präzisen und ausgeklügelten Dramaturgie des Films. Dazu kommt ein hervorragendes Schauspielerensemble, neben Sandra Hüller als Sandra überzeugen unter anderen Samuel Theis als Samuel, Milo Machado Graner als Sohn Daniel, und Swann Arlaud als Sandras Anwalt und Freund.
"Anatomie eines Falls" gewann dieses Jahr bei den Filmfestspielen in Cannes den höchsten Preis des Festivals: die Goldene Palme als bester Film. Es ist erst das dritte Mal, das eine Frau in der Geschichte des Festivals mit der Goldenen Palme ausgezeichnet wurde.
Triet ist bekannt für ihre Porträts starker, autonomer Frauen. Schon ihre früheren Werke wie "Victoria" (2016) und "Sibyl" (2019) handeln von erfolgreichen Frauen, Frauen im Konflikt zwischen ihrer Familie und ihrem beruflichen Erfolg.
In "Anatomie eines Falls" spitzt Justine Triet diesen Konflikt zu. Sandra fordert für sich Zeit und sie nimmt sich Raum für ihre Arbeit und ihre Karriere. Dagegen erscheint Ehemann Samuel eher schwach, erfolglos als Schriftsteller, unzufrieden mit seiner Rolle, psychisch labil. Triets Kernthema ist das Infragestellen der traditionellen Rollenverhältnisse im 21. Jahrhundert.
Justine Triet, Regisseurin
„Es ist ein Film über das Paar und über die Aufteilung der Zeit. Das Kind steht im Mittelpunkt dieser Ein – und Aufteilung. Und was schuldet man sich als Paar? Was gibt man einander? Ist ein gegenseitiges Geben und Nehmen möglich? Das sind Fragen, die mich beschäftigen und deren Behandlung im Kino oft fehlt. Hier ist Sandra Voyter eine anerkannte Schriftstellerin, ihr Mann ist Professor und unterrichtet ihren Sohn zu Hause, während er selbst versucht, einen Roman zu schreiben. Das archetypische Schema eines Paares existiert hier nicht, die Rollen sind vertauscht. Ich zeige eine Frau, die ein Ungleichgewicht schafft, indem sie sich ihre Freiheit nimmt und nach ihren Wünschen lebt. Gleichberechtigung in der Partnerschaft ist eine wunderbare Utopie, aber sehr schwer zu erreichen, und Sandra beschließt, zu nehmen, ohne zu fragen, wohl wissend, dass sie sonst leer ausgeht. Diese Haltung verleiht eine Form von Macht und ist auch zu hinterfragen. Und der Film tut nichts anderes als das: Er hinterfragt“.
Das virtuos angelegte Drehbuch entwickelte Triet gemeinsam mit Drehbuchautor Arthur Harari. Es geht um die Abgründe einer Ehe, um zerstörtes Vertrauen, Schuldgefühle, berufliche Konkurrenz, Eifersucht.
Schicht für Schicht deckt der Film die Probleme der Familie auf, entprivatisiert das Leben der Beteiligten. Der Zuschauer erfährt, dass Sohn Daniel mit vier Jahren einen Unfall hatte, sein Augenlicht ist irreparabel beschädigt. Samuel gibt sich die Schuld an dem Unfall. Statt Daniel wie besprochen abzuholen, hatte er seinen Sohn in die Obhut einer Babysitterin gegeben. Auch Sandra machte ihn für den Unfall verantwortlich.
Staatsanwalt und Zeugen wie Samuels Therapeut zeichnen Sandra als karrierebesessene, rücksichtslose Frau ohne Skrupel, die sich nicht einmal scheute, eine zentrale Idee im Manuskript ihres Mannes für ihr eigenes Buch zu nutzen.
Die Rekonstruktion der Ereignisse läuft vor allem in Tonrückblenden ab, nur beim letzten großen Streit des Paares am Vorabend vor Samuels Tod greift Triet auf eine visuelle Rückblende zurück.
Justine Triet, Regisseurin
„Das Fehlen von Rückblenden war von Anfang an mein Wunsch. Ich mag das in Filmen nicht, und vor allem wollte ich, dass das Wort im Mittelpunkt steht, das alle Aufmerksamkeit auf sich zieht, alles durchdringt. So funktioniert ein Prozess: Die Wahrheit verschwindet, es gibt eine riesige Leere und man hat nur das Wort, um selbige zu füllen. Die einzigen Ausnahmen, die wir uns erlaubt haben, sind durch die Tonebene entstanden. Und in Wirklichkeit sind diese Ausnahmen keine Rückblenden: In der Streitszene handelt es sich um eine Tonaufnahme, die sich plötzlich im Bild ausdrückt, es gibt also durch den aufgenommenen Ton einen Sprung von der Vergangenheit in die Gegenwart. Der Ton ist fast mächtiger als das Bild, wie ich finde. Es ist gleichzeitig reine Gegenwart und geisterhaft.“
Ist Sandra Voyter eine Mörderin? Oder ist sie unschuldig angeklagt? Irgendwann wird diese Frage zweitrangig. Justine Triet führt vor, dass es möglicherweise keine absolute Wahrheit geben kann – die Frage nach Wahrheit und Lüge, Schuld oder Unschuld sich relativiert, wenn subjektive Wahrnehmungen, Bedürfnisse und Weltanschauungen aufeinanderprallen wie in diesem unvereinbarem Konflikt des Paares.
Sandra Hüller nimmt diese Ambiguität in ihr Spiel auf, bis zuletzt ist ihre Figur nicht wirklich zu entschlüsseln. Das ist große Schauspielkunst, die Hüller auf ganz andere Weise auch in einem zweiten Film dieses Jahr in Cannes bewies. In "The Zone Of Interest" von Jonathan Glazier, spielt sie Hedwig Höß, die Ehefrau des Auschwitz-Kommandanten Rudolf Höß. Dieser Film wurde mit dem zweitwichtigsten Preis in Cannes ausgezeichnet, dem großen Preis der Jury.
Hüller war der Schauspiel-Star in Cannes, dass sie nicht mit dem Darstellerpreis geehrt wurde, liegt an den Regularien des Festivals. Ein Wettbewerbsbeitrag darf in Cannes nur einmal prämiert werden. Das Filmfest Hamburg ehrte sie vor knapp einem Monat als herausragende europäische Schauspielerinnen mit den Douglas Sirk-Preis – und ich bin sicher, dass Sandra Hüller dieses Jahr beim Europäischen Filmpreis als beste Schauspielerin ausgezeichnet wird.
"Anatomie eines Falls" – ein Gerichtsdrama, ein psychologisch und philosophisch fundierter Beziehungsfilm – spannend und hintergründig bis zur letzten Minute. Das Urteil über Schuld oder Unschuld überlässt der Film dem Zuschauer. Übrigens: Neben der goldenen Palme gab es doch noch einen zweiten Preis für den Film in Cannes. Daniels Blindenhund, „Snoop“, wurde mit der Hunde-Palme geehrt, inoffiziell, versteht sich, aber hundertprozentig verdient!
Regina Roland (filmkritik-regina-roland.de)
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"LA SINGLA" Dokumentation von Paloma Zapata über die 1948 geborene, legendäre gehörlose Flamenco-Tänzerin Antoñita Singla, die als "beste Flamenco-Tänzerin der Welt" gefeiert wurde, aber auf der Höhe ihrer Kunst spurlos verschwand. (Spanien / Deutschland, 2023; 95 Min.) Mit Antoñita Singla und Helena Kaittani, seit 2. November 2023 in ausgesuchten Kinos zu sehen. Hier der Trailer:
Ulrikes Filmkritik:
Wenn Antoñita Singla die Bühne betrat, tat sie das, ohne die Musik zu hören. Sie wuchs in einer Roma-Familie auf, in einem Vorort von Barcelona. Ihre Art zu tanzen hat etwas Aufrichtiges und zugleich traurig-tragisches, als würde sie sich von einem Grauen befreien.
1948 kam sie gehörlos in einem Armenviertel auf die Welt, ohne das Sprechen zu lernen. Ihre Liebe gehörte den Tieren. Als sie 14 war spielte sie in einem Film „Los Tantos“ die Julia, ein Adaption des Theaterstücks „Romeo und Julia“. Die meisten Schauspieler waren Einwohner des Viertels. Der Film war erfolgreich und wurde sogar für den Oscar nominiert. La Singla war seit dem beliebt. Aber weltweit berühmt wurde sie als 17-Jährige als das gehörlose Mädchen den Flamencotanz völlig neu erfindet.
Sie stampft über die Tanzfläche als schreit sie vor Schmerzen. Den Rhythmus hat sie im Blut, findet ihn rein gefühlsmäßig, ein kreatives Genie. Das Publikum wird regelrecht in ihren Bann gezogen. Immer wieder spricht man von ihrer Qual, die sie im Tanz in die Welt schreit. Sie wurde von Olaf, einem deutschen Galeristen und Jazzfan in einer Bar entdeckt. Er machte sie zum Star.
Auf einem Foto sieht man ihn mit Billie Holiday. Antoñita tanzte für Intellektuelle und berühmte Künstler. Sie tanzte im Rhythmus des Jazz und feierte Triumphe. Ging mit Ella Fitzgerald auf Tournee, tanzte für Dali und trat im berühmten Olympia in Paris auf. Auch Jean Cocteau war von ihr begeistert: „Sie spuckt Feuer aus ihrem Mund und löscht es mit ihren Füßen“, sagte er.
Zehn lange Jahre lang tourte sie mit den Flamenco Gitano durch Europa. Sie war die Hauptattraktion der Show. Keiner hat so einen kraftvollen Blick wie sie. Und dann, ja dann war sie auf einmal verschwunden und geriet Jahrzehnte in Vergessenheit. Ein halbes Jahrhundert später macht sich eine junge Frau aus Sevilla, Elena, auf die Suche nach Antoñita, nachdem sie sie im Internet gesehen hat und zutiefst beeindruckt war.
Jetzt kann Elena ihre Recherche starten und die spannende Geschichte der "La Singla" wunderbar, in Bild und Ton erzählen.
50 Jahre später entdeckt die spanische Filmemacherin Paloma Zapata Archivmaterial über Antoñita (in deutsch auch Antonia genannt) und ist sofort fasziniert. Eine spannende und leidenschaftliche Spurensuche beginnt.
Regisseurin Paloma Zapata:
„La Singla ist kein Film über Flamenco. Auch nicht über die Gemeinschaft der Roma und auch nicht über die Gemeinschaft der Gehörlosen, obwohl diese Themen vorkommen. La Singla ist eine universelle Geschichte über eine außergewöhnliche Persönlichkeit, die die Welt mit ihrem geheimnisvollen und intensiven Blick, ihrer außergewöhnlichen Art, Flamenco-Kunst auszudrücken und zu fühlen und mit ihrer herzzerreißenden Geschichte zu bewegen, zu hypnotisieren und zu fesseln.“
Ulrike Schirm (ulriketratschtkino.wordpress.com)
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"TORI & LOKITA" Sozialdrama der Gebrüder Jean-Pierre & Luc Dardenne über junge illegale Einwanderer aus Afrika, das tragisch endet. (Belgien / Frankreich, 2022; 89 Min) Mit Pablo Schils, Joely Mbundu, Alban Ukaj u.a. seit 26. Oktober 2023 im Kino. Hier der Trailer:
Unsere Kurzkritik:
Die belgischen Filmemacher Jean-Pierre & Luc Dardenne sind für ihre sozialkritischen Filme ebenso bekannt wie der Regisseur Ken Loach aus Großbritannien. Dessen neuester Film "The Old Oak" mit einem ähnlichen Thema über oft unerwünschte Einwanderer startet übrigens bereits in drei Wochen am 23. November 2023.
Doch wir wollen nicht vorgreifen, obwohl die unterschiedlichen Geschichten ähnlich tragisch enden.
In Tori & Lokita, dem Film der Dardenne Brüder, lernen sich die jugendliche Lokita und der elfjährige Tori (bemerkenswerte Debüts von Joely Mbundu und Pablo Schils), zwei junge Einwanderer aus Afrika, auf der Flucht nach Europa kennen. In Belgien angekommen, geben sie sich als Geschwister aus, für die illegal eingereiste Lokita die einzige Chance für eine Aufenthaltsgenehmigung.
Das unzertrennliche Paar arbeitet in einer billigen Trattoria, verkauft nachts zusätzlich Drogen für den Koch. Doch bald werden die Behörden skeptisch – ein DNA-Test soll Klarheit schaffen. So lassen sie sich auf einen Deal mit dem Pizzabäcker ein: Sie sollen sich um eine Cannabisplantage kümmern, im Gegenzug gibt es Papiere für etwas ältere Lokita und Geld. Doch dann läuft alles nicht wie geplant und in einem Strudel aus Not und Kriminalität wird die innige Freundschaft der Wahlgeschwister mehr und mehr auf die Probe gestellt, denn die etwas naive Lokita gerät in die Fänge einer kriminellen Bande, der sie nicht allein entrinnen kann. Der clevere kleine Tori spürt sie zwar auf und findet einen möglichen Ausweg, doch das Schicksal meint es nicht gut mit den Beiden. Die Sprach- und Ortsunkenntnisse werden zum Verhängnis.
Von den zweifachen Palme-d'Or-Gewinnern Jean-Pierre und Luc Dardenne ("Zwei Tage, eine Nacht"; "L’enfant") kommt die Geschichte zweier jugendlicher Einwanderer, die am Rande der Gesellschaft ums Überleben kämpfen. Ausgezeichnet mit dem Sonderpreis zum 75. Jubiläum der Filmfestspiele von Cannes 2022, ist das neueste humanistische Drama der Brüder Dardenne ein herzzerreißender Thriller, der einen schonungslosen Blick auf die Probleme junger Migrant*Innen und Enteigneter wirft.
Es ist vielleicht nicht ihr stärkster Film, doch das Thema der illegalen Einwanderung, das gerade in den Medien und in der Politik hochkocht, wird her zum Stoff einer dramatischen Geschichte von ausgebeuteten Kindern, die leider nicht ganz abwegig ist und den Zuschauer*innen zu denken geben sollte.
W.F.