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Weitere Filmkritiken von der 20. + 21. Kalenderwoche 2023

Neu in dieser Woche eine Doku über die Fotografin und Aktivistin Nan Goldin. Nachreichen möchten wir von den Filmstarts letzter Woche ein beeindruckendes sozialkritisches Werk über "People of Colour".



Anfang März 2023 wurde die Fotografin und Aktivistin Nan Goldin in der Akademie der Künste Berlin mit dem Käthe-Kollwitz-Preis geehrt. Dazu gab es ( - wie wir hier schrieben - ) eine beeindruckende Ausstellung mit ihren Bildern sowie die Preview der Doku "All the Beauty and the Bloodshed" von Laura Poitras über Goldins Aktionen als Aktivistin gegen das Pharmaunternehmen der Familie Sackler, die leider erst diese Woche ihren offiziellen Kinostart feiert, da der Film zuvor noch beim Frauenfilmfestival Dortmund im Wettbewerb stand.

"ALL THE BEAUTY AND THE BLOODSHED" Biopic von Laura Poitras über die Fotografin und Aktivistin Nan Goldin. (USA, 2022; 127 Min.) Der Film, der auf dem 79. Filmfestival von Venedig als bester Dokumentarfilm mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet wurde, läuft seit 25. Mai 2023 bei uns in den Kinos. Hier jetzt der deutsch untertitelte Trailer:



Elisabeth's Filmkritik:

Venedig 2022. Der Wettbewerb war gewaltig. Neben "Bardo" aus Mexiko und "Tár" und "The Whale", jeweils USA, wurden auch der irische "The Banshees of Inisherin" oder der Argentinier "Argentinien, 1985" gezeigt.

Den Hauptpreis des italienischen A-Festivals, den Goldenen Löwen gewann trotzdem ein Dokumentarfilm: "All the Beauty and the Bloodshed" von Laura Poitras. "All die Schönheit und das Blutvergießen" heißt der Titel in der deutschen Entsprechung.

Von all den gefeierten und den hoch gehandelten Filmen kommt nun ausgerechnet dieser Film als letztes in die deutschen Kinos. Dabei hätte sich ein Start zum Beispiel Anfang März, als Nan Goldin den Käthe-Kollwitz-Preis 2022 der Berliner Akademie der Künste erhalten hatte, angeboten. Goldin warf stets einen direkten und ungekünstelten Blick auf all jene am Rande der Gesellschaft. Berlin war mehrere Jahre lang Wohnsitz der Künstlerin, die auch die heimische Subkulturszene in all ihrer queeren Herrlichkeit mit ihrer Kamera einfing.

Poitras, deren Dokumentarfilm über den Whitleblower Edward Snowden, "Citizenfour", sicherlich am bekanntesten ist und für den sie 2015 einen Oscar erhielt, schließt sich hier mit der Fotografin und Aktivistin Nan Goldin zusammen und überlässt ihr weitgehend auch die Zügel. So ist "All the Beauty and the Bloodshed" keine klassische Biografie. Vielmehr vermittelt der Dokumentarfilm Goldins sehr persönliche Sicht auf eine der größten Skandale der jüngeren US-amerikanischen Geschichte.

Der Film zeigt Goldins Kampf, zusammen mit Mitstreitern und Mitstreiterinnen, gegen die Pharma-Hersteller-Familie Sackler, deren "OxyContin", zugelassen als Schmerzmittel im Jahr 1996, das wohl bekannteste Präparat der Zeit war. Die Firma Purdue Pharma, das den Sacklers gehörte, schnitt mit ihrer aggressiven Vermarktung des Mittels eine tödliche Schneise in die amerikanische Gesellschaft. Nan Goldin war eine von Millionen Betroffenen. Wie so viele bekam sie das Mittel Oxycodon gegen die Schmerzen nach einer Verletzung verschrieben und wurde in kürzester Zeit abhängig.

Als Aktivistin setzte Nan Goldin dort an, wo sich der Pharma- und der Kunst-Markt überschneiden. Die Familie Sackler hatte sich stets als Wohltäter feiern lassen. Trotz des Wissens um die Nebenwirkungen galt "Profit" vor "Verantwortung". Mit dem angehäuften Reichtum konnte man dann gnädig seinen elitären und vermeintlichen Kunstsinn in Szene setzen. Universitätsgebäude und Museumshallen trugen fortan den Namen Sackler. Die Institutionen, die auf dergleichen Spenden angewiesen sind, sperrten sich lange, diese ungesunde Symbiose aufzukündigen. Inzwischen sind die Namen der Sacklers längst entfernt, denn die Sacklers fielen auf diesem Markt der Mäzenatin in Ungnade. Das ist zu nicht unerheblichen Teil ein Erfolg der Bewegungen wie "P.A.I.N.", mit der Nan Goldin kämpfte. Gegründet 2017 steht die Abkürzung für "Prescription Addiction Intervention Now" ("Verschreibungspflichtige Suchtintervention jetzt").

Poitras Verdienst ist es nun, die schwierige Biografie Nan Goldins neben diesen Kampf von David gegen Goliath zu setzen, derart, dass eine Parallele zwingend erscheint. Parallelen findet der Dokumentarfilm auch, wenn er die Zeit der Aids-Krise mitaufnimmt, eine Zeit, die Nan Goldin auch fotografisch begleitet hatte. Natürlich wähnt sich auch das Publikum auf der richtigen Seite und die Rollen von Gut und Böse sind, im Nachhinein klar verteilt, und doch ist wichtig, zu zeigen, wie der Blick auf diese Krise ausfällt, wenn er aus dem inneren Kreis der Betroffenen kommt.

"All The Beauty and the Bloodshed" wurde auch für einen Oscar nominiert. Dass dann doch ein anderes Thema, das fern der heimischen Krise, und in scheinbar sicherer Entfernung gewann, nämlich die Biografie von Nawalny, ist eine bittere Pointe. Ob nun mit oder ohne der ultimativen Filmadelung, ist Poitras Film einer, der ist, weil er sein muss. So wie Nan Goldin sich nie zur Künstlerin aufgeschwungen hat, sondern sich künstlerisch und eben auch aktivistisch betätigen muss.

Elisabeth Nagy


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Der US-Amerikaner Robert De Niro ist einer der bekanntesten Schauspieler mit italienischen Wurzeln, weshalb er ziemlich oft in Gangster- und Mafioso-Filmen zu sehen ist, obwohl er auch schon manche Erfolge in Komödien vorweisen kann. Ob sein aktuelles Kinostück ebenso dazu gerechnet werden darf, oder einfach nur peinlich ist, darüber klärt uns Ulrike Schirm in ihrer Filmbesprechung auf.

"UND DANN KAM DAD" Komödie von Laura Terruso über einen Schwiegervater, der seinem Sohn einen Heiratsantrag vermiest. (USA, 2022; 89 Min.) Mit Sebastian Maniscalco, Robert De Niro, Kim Cattrall u.a. seit 25. Mai 2023 im Kino. Hier der Trailer:



Ulrikes Filmkritik:

Komödien zu besprechen, ist gar nicht so einfach. Was der eine lustig findet, kann dem anderen nur ein gequältes Lächeln hervorlocken und umgekeht. Auch der berühmte Satz: „Humor ist, wenn man trotzdem lacht“, hört sich mehr nach Trost an.

De Niros neuer Film "Und dann kam Dad", erinnert sofort an die zweiteilige Komödie “Meine Braut, ihr Vater und ich“, die am Anfang der 2000er Jahre mit Robert De Niro und Ben Stiller in den Hauptrollen zu sehen war.

Sebastian (Sebastian Maniscalco) ist verliebt und wird zum ersten Mal bei der reichen Familie seiner Freundin eingeladen. Er will den Besuch nutzen, um seiner Ellie (Leslie Bibb) einen Heiratsantrag machen. Als Ellie ihm vorschlägt, seinen Vater Salvo (Robert DeNiro) mitzubringen, ist er absolut nicht begeistert und rechnet mit einer Peinlichkeit nach der anderen. Ellie lässt aber nicht locker und sein Dad, ein italienischer Einwanderer, dem ein Friseursalon gehört, hat mit dem Lifestyle reicher Leute nichts am Hut und so kann es durchaus sein, dass es zu Missverständnissen und zu italienischen Flüchen kommt, die sein Vater so liebt und sich die elitäre Familie, samt Ellie, von ihm abwendet. Denn nichts ist wichtiger für Sebastian, als bei der stinkreichen Familie Collins und das ausgerechnet am 4. Juli, einem Feiertag, auf den die Amis nichts kommen lassen, einen guten Eindruck zu machen. Für Sebastian entsteht eine anstrengende Zitterpartie, denn sein Vater ist obendrein auch noch sehr geizig.

Die Idee zu diesem Culture Clash stammt vom Co-Autor und Hauptdarsteller Sebastian Maniscalco, der seine eigenen Erfahrungen in diesem Drehbuch verarbeitet hat, die so einige Jahre zurückliegen, so scheint es zumindest, denn die Klischees und die Witze, die hier zum Tragen kommen, sind ziemlich altmodisch und absolut nicht neu und bleiben recht familienfreundlich.

Letztendlich ist „Und dann kam Dad“ eine vorhersehbare Klamotte, mit unbeabsichtigter, heruntergelassener Hose von zwei Söhnen einer Hotelbesitzer-Familie, der eine ein verweichlichter Naturliebhaber, der andere ein kokain-schnupfender Helicopter-Pilot.

Der Regisseurin Laura Terruso ist es nicht gelungen, das Ganze zu modernisieren. Auch ein De Niro kann die müden Gags durch seine Anwesenheit nicht verbessern. Als Mutter, tritt Kim Catrall auf und sorgt für eine Wiedersehensfreude, auf jeden Fall bei ihren Fans. Man kann es ruhig vorwegnehmen: Das Ende ist sehr familienfreundlich und harmonisch anzuschauen, am besten in einem Freilichtkino, mit einem Glas gekühlten Weißwein, an einem lauen Sommerabend.

Ulrike Schirm


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Zu guter Letzt, wie oben angekündigt, ein Nachtrag von letzter Woche über einen Film, der beim Sundance Independent Filmfestival Anfang des Jahres den großen Preis der Jury gewonnen hatte.

"A THOUSAND AND ONE" Drama von A.V. Rockwell über eine Mutter aus Harlem, die nach Beendigung einer Haftstrafe ihren kleinen Sohn aus der Pflegefamilie stielt, um mit ihm wieder zusammen zu sein. (USA, 2022: 116 Min). Mit Teyana Taylor, Josiah Cross, William Catlett u.a. seit 18. Mai 2023 vereinzelt im Kino. Hier der Trailer:



Elisabeth's Filmkritik:

Der Titel bezieht sich auf eine Hausnummer. Ein Haus, ein Zuhause. Was gehört zu einem Zuhause? Familie, Kinder, Liebe. Die Regisseurin A.V. Rockwell, die 2018 mit ihrem Kurzfilm "Feathers" auf sich aufmerksam machte, erzählt in ihrem Langspielfilmdebüt von einer Mutter und ihrem Sohn. Dabei umspannt sie eine Zeit der Umbrüche.

New York City ist hier nicht nur Handlungsort, sondern Hauptdarsteller oder auch Gegenspieler. Die Entwicklung der Stadt läuft nebenher. Aus den Nachrichten erfahren wir, woran sich ein älteres Publikum vielleicht nur noch dunkel erinnert und was hier wahrhaftig an die Oberfläche drängt. Rudy Giuliani, Bürgermeister von New York City von 1994 bis 2001, war ein Verfechter der Law-and-Order-Politik, er räumte sozusagen auf. Die Kriminalität sollte mit Nulltoleranzmaßnahmen gedrückt werden. Während sich Teile der Bevölkerung sicherlich sicherer fühlten ob der Maßnahmen, waren andere Bevölkerungsgruppen, besonders auch in Harlem, wo Rockwell ihre Geschichte verortet, verstärkt Polizeigewalt ausgesetzt. Verschärft wurde die systematische Gewalt besonders gegen die Gruppen der Afroamerikaner und Latinos unter Giulianis Nachfolger Michael Bloomberg.

"A Thousand and One" begleitet Inez, gespielt von der Sängerin, Tänzerin und Schauspielerin Teyana Taylor, aus dem Knast in ein Leben der Chancenlosigkeit. Zu viele Details sollen hier gar nicht aufgeschlüsselt werden.

Rockwell stellte ihren Film dieses Jahr in Sundance als Weltpremiere vor und gewann prompt den Grand Jury Prize, den Hauptpreis in der Dramatic Sektion. Nicht nur wählte sie eine relevante Geschichte, sondern sie legte den Finger in eine alte Wunde, ohne gleichzeitig den Zeigefinger zu heben. Sie entwickelte ein Porträt, dass während viele Filme idealisierte Figuren und Situationen verhandeln, ohne falsche Töne von wahrhaftigen Figuren erzählt, deren Probleme wirklich Probleme sind. Dabei hält sie sich mit Wertungen zurück und entwickelt die Figuren aus sich heraus. Ihr Debüt ist ein Zeitporträt einer Stadt und ihren abgedrängten Bewohnern, die sich durch alltägliche Schikanen und Gentrifizierung ihres Zuhauses nie sicher sein konnten.

Inez steht vor dem Nichts. Aus diesem Nichts baut ihre Figur etwas auf. Obwohl das Leben ihr Steine in den Weg legt, obwohl Giulianis Stadtpläne mehr und mehr Menschen wie sie ins Abseits drängt.

Zuerst ist Inez auf der Suche nach Terry (Aaron Kingsley Adetola, später Aven Courtney und Josiah Cross), ihrem sechsjährigen Jungen, der in einer Pflegefamilie untergebracht ist, die ihm keine Familie sein will und kann. Als der Junge nach einem Unfall im Krankenhaus landet, entführt sie ihn von der Station und damit beginnt die eigentliche Handlung dieses Familienporträts. Die Entführung selbst ist ganz klar eine Straftat. Niemand interessiert sich aber für den Verbleib eines schwarzen Jungen. Allerdings sind die Konsequenzen einer Biographie unter dem Radar enorm. Was das Kind nicht abschätzen kann, ist Inez durchaus bewusst. Sie stellt jedoch die Fürsorge für das Kind ihren Bedürfnissen voran, bis ihr Wille, es gut zu machen, alles wieder in Frage stellt.

Einfach ist es nicht für sie. Natürlich nicht. Sie hatte selbst nie eine Familie. Die Fürsorge muss sie erst lernen. Umso resoluter kämpft sie für das Heranwachsen eines Kindes, dem sie die bestmögliche Bildung zukommen lassen möchte, als auch für ihr persönliches Glück und ihre Vorstellung von Familie, welches sie vielleicht bei Lucky (William Catlett) findet, der bei ihr einzieht und auch bereit ist, zu einer Vaterfigur zu wachsen. Rockwell findet einen fast dokumentarischen Blick auf die Stadt. Mit jedem Zeitsprung, mit dem sie ihre Figuren zuerst Mitte der 90er Jahre bis in die 2000er immer wieder einfängt, hat sich auch die Stadt weiterentwickelt. Rockwell stellt ihre Figuren geradezu in Opposition mit dieser Entwicklung. Das Leben dieser Figuren ist ein Leben trotz der Entwicklung, im täglichen Kampf gegen den systematischen Rassismus und einer Politik, die ihresgleichen aus der Stadt und der Stadtplanung eliminieren will. Gleichzeitig ist "A Thousand and One" trotzdem eine Liebeserklärung an New York City, eben nur ohne eine falsche Glorifizierung.

Die Erzählung von Inez, Lucky und Terry ist eine von 1001er Geschichten, die um ihre Existenz und um ihre Würde kämpfen. "A Thousand and One" ist ein großartiges, facettenreiches Debüt, A.V. Rockwell eine Entdeckung.

Elisabeth Nagy


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