Skip to content

Aktuelle Filmbesprechungen zu Kinostarts ab 20. April 2023

Mit einer Filmkritik zu "Roter Himmel" (Afire) von Christian Petzold, dem Großen Preis der Jury auf der 73. Berlinale 2023.



Nach dem der Goldene Bär für den besten Film der 73. Internationalen Filmfestspiele Berlin an die Produzent*innen des französischen Dokumentarfilmes "Sur l’Adamant" (On the Adamant) ging, blieb für Christian Petzolds überraschend gut gelungenen Spielfilm "Roter Himmel" (Afire) wenigstens noch ein Silberner Bär für den Großer Preis der Jury übrig.

"ROTER HIMMEL" höchst tragisches Drama von Christian Petzold über das Schreiben und Gelesenwerden sowie dem Liebenwollen und Nicht-schlafen-Können. (Deutschland, 2023; 102 Min.) Mit Thomas Schubert, Paula Beer, Langston Uibel u.a. seit 20. April 2023 im Kino. Hier der Trailer:



Angelikas Filmkritik:

„Kommst Du mit?“ fragt Nadja. — Und der ziemlich feiste und gelangweilt wirkende Leon antwortet: „Nein, die Arbeit lässt es nicht zu!“ Schon diese Antwort in „Roter Himmel“, dem neuesten Spielfilm von Christian Petzold, in dem Paula Beer als Nadja zum dritten Mal eine der Hauptrollen spielt, macht klar wie wichtig der neue Gast in einem Ferienhaus an der Ostsee die Arbeit an seinem zweiten Buch nimmt.

„Roter Himmel“ ist Christian Petzold’s sechster Spielfilm. Und der wurde auch in diesem Jahr wie auch schon alle seine vorherigen Filme wieder zur „Berlinale“ eingeladen und gewann dort in der Sektion „Wettbewerb“ den „Silbernen Bär“.

In „Roter Himmel“ geht es um vier junge Leute, davon ein Autor, ein Künstler und eine Literatur-Studentin sowie deren Freund, die per Zufall in einem Ferienhaus an der Ostsee zusammengewürfelt werden, da dieses Haus in der Nähe von Ahrenshoop aus Versehen doppelt vermietet wurde: Vier junge Leute müssen sich deshalb nun drei Zimmer teilen.

Leon, der angehende Schriftsteller, der tatsächlich schon ein Buch veröffentlich hat und sich mit seinem zweiten so schwertut, hatte alle Hoffnung auf ein ruhiges Ferienhaus gesetzt, das in einem Waldstück dicht an der Ostsee liegen sollte. Er wollte zusammen mit seinem ältesten Freund aus Kindertagen endlich Mal in Ruhe arbeiten können. Doch schon in den allerersten Szenen des Films zeigt sich seine Selbstüberschätzung.

Aber auch seine Rücksichtslosigkeit: Im Wagen auf der Fahrt durch den dichten Küstenwald zum Ferienhaus an der Ostsee schläft er gemütlich und lässt Felix - gespielt von Langston Uibel - allein den Weg durch den wild gewachsenen Wald suchen. Irgendwann kommen sie vom richtigen Weg ab und als das Auto seinen Geist aufgibt, müssen die beiden zu Fuss weiter gehen.

Selbstverständlich überlässt Leon das Tragen seiner drei Gepäckstücke seinem Freund Felix. Darunter ein Rollkoffer, der natürlich für den sandigen Weg durch den Wald nun gar nicht geeignet ist. Damit hat es sich Leon gleich mit den Zuschauern verdorben.

Als Leon und Felix dann endlich zum Ferienhaus finden, müssen sie entdecken, dass es nicht wie erwartet leer steht. In der Küche stapelt sich das dreckige Geschirr, eine nicht zu Ende gegessene Lasagne steht auf dem Tisch. Und noch viel unangenehmer: Zwei Weingläser in Sofa-Nähe lassen auf einen vergnüglichen Abend von zwei anderen schließen.

Ein Abend zwischen Nadja, der Literatur-Studentin, die in den Semester-Ferien an einem Eisstand eines der größten Hotels in Ahrenshoop ein wenig Geld verdient und dem DLRG-Bademeister vom Lebensretter-Aussichtsturm am Ostseestrand, deren nächtliches Gestöhne durch die dünnen Wände dringt.

Und als Leon begreift, dass er kein eigenes ruhiges Schlaf- und Arbeitszimmer haben wird, okkupiert er die Pritsche im Garten unter der Pergola für sich. Doch dann wird ihm sehr schmerzlich klar, dass diese offene Konstruktion auch kein Trost für ihn sein kann und ihm erst recht keinen Schutz und auch keinen ungestörten Schlaf geben wird. Er wird dort nicht einen einzigen Tag an seinem zweiten Buch weiterarbeiten können. Aber an den Strand will er auch nicht gehen. Dort sei es ihm zu heiß. Und nachts will er das silberne Wetterleuchten auf den Meereswellen ebenfalls nicht sehen.

Das einzige Schauspiel der Natur, das auch er wahrnimmt, sind die Asche-Flocken, die von den noch weit genug entfernten Bränden über das Ferien-Haus fliegen. - Das erschreckende Ende des Films soll aber hier noch nicht verraten werden.

Paula Beer spielt ihre Rolle als Nadja genauso natürlich und selbstverständlich wie schon in den beiden anderen Filmen von Christian Petzold, nämlich in „Transit“ 2018 und auch in „Undine“ 2020… Für Kamera und Montage waren auch für „Roter Himmel“ wieder Petzolds langjährigen Weggefährten Hans Fromm (Kamera) und Bettina Böhler (Montage) verantwortlich.

Zudem ist Christian Petzold auch mit vielen anderen guten Schauspielern enger befreundet. So auch mit Matthias Bandt. Der spielt in „Roter Himmel“ den Verleger, der Leons erstes Buch herausgegeben hat und für den der behäbige Jungschriftsteller sich tatsächlich mal nach Ahrenshoop bequemt hat, um für ihn ein Hotelzimmer zu besorgen, in dem schon Uwe Johnson genächtigt haben soll.

Seit 1981 lebt Christian Petzold in Berlin, wo er zunächst ein Studium der Theaterwissenschaften und Germanistik an der Freien Universität begann. Von 1988 bis 1994 studierte er dann an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin.

Die Drehbücher für seine Filme schrieb und schreibt Christian Petzold selbst, wobei er in vielen Fällen die Ideen auch mit Harun Farocki zusammen erarbeitete und weiterentwickelte. Farocki, der damals Lehrer an der dffb war, hatte einen wichtigen Einfluss für den Studenten Petzold. Dennoch blieb Christian Petzold gleichzeitig seinen eigenen Ideen treu: Während Farocki sich dem Realismus und dem politischen Kino zuwandte, widmete sich Petzold eher dem Zwischenbereich von Leben und Tod — und auch außergewöhnlichen Liebesbeziehungen.

Nach der Pandemie, die er selbst auch durchmachte, gestand er, Themen wie Liebe, Küssen und homosexuelle Liebe seien zu der Zeit nicht zu drehen gewesen. Er wolle Körper sehen usw… „Ich kann das nicht mit Covid-Masken machen. Ich will das realistisch inszenieren“.

Die Dreharbeiten zu „Roter Himmel“ begannen Ende Juni und endeten schon Mitte August 2022. Sie bezogen sich auf die große Hitzewelle von 2020 in Mecklenburg-Vorpommern, als immer wieder Waldbrände aufloderten, die auch Ortschaften bedrohten.

Angelika Kettelhack


+++++++++++++

Auch der nachfolgend besprochene Film, den jetzt der Salzgeber Verleih in die Kinos brachte, lief als Weltpremiere auf der 73. Berlinale 2023, allerdings nicht im Wettbewerb, sondern im Special Gala Programm als restauriertes Filmerlebnis in 4K-Qualität, behutsam neu gezeichnet und zum Teil erstmals koloriert mit 31 kurzen animierten Filmen von Vicco von Bülow (aka Loriot).

"LORIOTS GROSSE TRICKFILMREVUE" Liebevoll aufbereitete Animation von Regisseur Peter Geyer nach Ideen von Vicco von Bülow, einem bereits 2011 verstorbenen großen Humoristen. (Deutschland, 2023; 79 Min.) Mit den Sprecher*innen: Loriot, Roswitha Roszak, Wilhelm Bendow seit 20. April 2023 im Kino. Hier der Teaser:



Ulrikes Filmkritik:

Loriot, bürgerlich Bernhard-Viktor Christoph-Carl von Bülow, geboren am 12. November 1923 in Brandenburg an der Havel, gestorben am 22. August 2011 in Ammerland am Starnberger See, gilt als bedeutendster und vielseitigster deutscher Humorist des 20. Jahrhunderts.

Er wurde nicht nur durch seine Cartoons, sondern auch durch zwei höchst erfolgreiche Kinofilme „Ödipussi“ (1988) und „Pappa ante Portas“ (1991) berühmt. Sein Augenmerk lag immer auf der gestörten Kommunikation zwischen Menschen und ihrem aneinander vorbeireden, dem Spaß und der Spießigkeit.

Im Jahr von Loriots Geburtstag präsentieren Bettina und Susanne von Bülow zusammen mit dem Regisseur Peter Geyer dessen Cartoons in neuem Glanz: „Loriots große Trickfilmrevue“. 31 Trickfilme wurden in seinem Sinne digital aufgefrischt, neu gezeichnet, zum Teil zum erstmals koloriert und ins Kinoformat übertragen.

Seine Trickfilmklassiker sind dabei, sowie Cartoons, die man noch nicht unbedingt kennt. Jetzt kriegt man mit, dass der Fernsehbildschirm damals viel zu klein war. Schade, dass er dieses Revival nicht mehr miterleben konnte. Er wäre bestimmt sehr stolz gewesen.

Alle Figuren, die menschlichen und die tierischen werden von ihm mit seiner markanten Stimme gesprochen. Ebenso die Originalstimmen der Comedian Harmonists bis hin zu Helmut Schmidt.

Entstanden ist eine Hommage an einen großartigen Humoristen. (Zwei Herren im Bad, die Tücken eines Fernsehabends, ein zu hartgekochtes Ei, der sprechende Hund u.s.w.)

Ulrike Schirm


+++++++++++++

Vom nachfolgenden Film, der auf den Hofer Filmtagen im letzten Herbst seine Deutschlandpremiere feierte, hatten wir uns mehr Einblicke in die Geschichte des Kinos erwartet, zumal das alte Empire Filmtheater in „Empire of Light“ eine gut erhaltene Kulisse abgibt. Stattdessen sehen wir aber eine Romanze über eine Frau mit bipolarer Störung, die zum Rassismus-Drama gegen People of Color in den 1980er Jahre ausartet.

"EMPIRE OF LIGHT" Romantik-Drama von Sam Mendes das in den 1980er Jahren spielt (USA, Großbritannien, 2022; 116 Min) Mit Olivia Colman, Micheal Ward, Colin Firth u.a. seit 20. April 2023 im Kino. Hier der Trailer:



Ulrikes Filmkritik:

Ich sitze in einem Kino und sehe einen Film, der überwiegend in einem Lichtspieltheater läuft. Das hat man auch nicht alle Tage. Es handelt sich um einen prachtvollen Bau im Art-Deco-Stil, unweit eines herrlichen Strandes im englischen Küstenstädtchen Margate, das „Empire“, welches an die ganz große Zeit der Filmaufführungen erinnert, mit einst mehreren Leinwänden. Man darf nicht vergessen, dass früher das Kino der einzige Ort war, wo man Filme sehen konnte.

1980. Die alleinstehende Hilary Small (Olivia Colman) ist die erste, die den imposanten Bau betritt, man folgt ihr gerne durch den Bau, bis sie in ihrem Kartenhäuschen verschwindet, um ihrer Arbeit nachzugehen. Sie kümmert sich um die Geschäfte des Hauses und ihre Mitarbeiter, als da sind, der alte Filmvorführer Norman (Toby Jones), der etwas schräge Neil (Tom Brooke) und als Neuzugang die Punkerin Janine (Hannah Onslow).

Hilary selbst geht nie in die Filmvorführungen. Sie ist nur froh, im Kino ihrer Arbeit nachgehen zu dürfen, denn es dauert eine Weile, bis der Zuschauer merkt, dass sie unter einer bipolaren Störung leidet, weswegen sie einige Zeit in einer Klinik betreut wurde, was andererseits der Kinobesitzer Donald (Colin Firth) schamlos ausgenutzt. Obwohl er verheiratet ist, gibt es zwischen den beiden eine sexuelle Abhängigkeit, die Hilary stoisch über sich ergehen lässt. Nur ab und zu kriegt sie grundlose Wutanfälle, kurze Zeit später verhält sie sich jedoch, als sei nichts gewesen.

Eines Tages wird ein neuer Angestellter ihr vorgestellt. Es handelt sich um den jungen, hübschen dunkelhäutigen Afroeuropäer, Stephen (Micheal Ward), der Architektur studieren möchte. Sie zeigt ihm den gesamten Bau, auch die Räumlichkeiten im Dachgeschoss, ein ehemaliges Restaurant mit Meerblick, in dem noch ramponiertes Mobiliar rumsteht, das ansonsten aber ziemlich heruntergekommen ist. Durch die zerstörten Fenster fliegen Tauben ein und aus.

Es ist anrührend zu sehen, wie sich Stephen um eine verletzte Taube kümmert, indem er seine Socke auszieht, um ihren verletzten Flügel für die Heilung damit zu fixieren. Man kann verstehen, dass sich Hilary in ihn verliebt. Ihr Leben ist trostlos genug. Dass sie weitaus älter ist als der junge Schwarze, spielt zunächst keine Rolle. Treffen tun sich die beiden oben auf dem Dachboden, wo sonst keiner hingeht.

Doch die Zeit der Achtziger, in der Margarete Thatcher ein strenges Regiment führte und der Rassismus in seiner Blüte stand, bringen Unheil. Stephen wird von einer Truppe Skins verfolgt und diskriminiert. Sie kennen keine Scham, zerschlagen die Glastüren der Lobby und stürzen sich auf den jungen farbigen Mann.

Bond Regisseur Sam Mendes hat mit „Empire of Light“ ein biografisch geprägtes Drama gedreht, das von Herzen kommt und die Magie des Kinos als Kulisse nimmt. Sein Film ist in erster Linie eine Hommage an seine Mutter, die an einer bipolaren Störung litt und um die er sich besonders kümmern musste.

Erst in zweiter Linie ist der Film eine Hommage an das Kino, übertragen auf den Filmvorführer Toby Jones, der von seiner Arbeit regelrecht beseelt ist und es schließlich schafft, dass Hilary sich schlussendlich doch einmal ins Kino setzt, um sich einen Film anzusehen.

Gedreht in ruhigen Einstellungen und melancholischen Momenten und ein Abbild der damaligen Zeit als Mendes noch jung war, versehen mit einem gut ausgesuchten Retro-Soundtrack und hinreißenden Bildern des Kameramanns Roger Deakins. Auch Olivia Colman, die 2012 einen Oscar für „The Favourite“ erhalten hat, ist wieder großartig in ihrer Rolle.

Es ist aber auch ein sozialkritischer Film, denn es gibt eine Szene in der Hilary bei einer wichtigen Kinopremiere, bei der auch Donalds Ehefrau anwesend ist, ihren ganzen Mut zusammennimmt, selbst zum Mikrofon greift und lautstark Donalds sexuelle Übergriffe in voller Absicht öffentlich macht.

Ulrike Schirm


Anzeige