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Neue Filmkritiken zu Kinostarts in der 15. KW des Aprils 2023 || UPDATE!

Kleine Moralgeschichte vorweg: Erst vor 40 Jahren wurde die psychische Reife in der Bundesrepublik neu geregelt und das Alter der Volljährigkeit von 21 Jahren abgesenkt, während man in der DDR schon seit 1950 mit 18 Jahren nicht mehr als minderjährig galt.



Zwei Nachträge: Vier Filme, fünf Filmbesprechungen!

Auch der neue Film von Emely Atef, der auf der 73. Berlinale seine Weltpremiere feierte drehte sich u.a. um die Problematik der Volljährigkeit. Er wurde von Chefkameramann Armin Dierolf meisterhaft in Szene gesetzt, erlangte aber dennoch keinen Preis des Festivals.

"IRGENDWANN WERDEN WIR UNS ALLES ERZÄHLEN" Liebesdrama von Regisseurin Emily Atef und ihrer Drehbuchautorin Daniela Krien. (Deutschland, 2023; 133 Min.) Mit Marlene Burow, Felix Kramer, Cedric Eich u.a. seit 13. April 2023 im Kino. Hier der Trailer:



Angelikas Filmkritik:

„Irgendwann werden wir uns alles erzählen“ ist der neueste Film der deutsch-französischen Regisseurin Emily Atef. Sie wurde als Tochter französisch-iranischer Eltern 1973 in Berlin geboren und zog dann aber schon als Siebenjährige mit ihrer Familie nach Los Angeles.

Als Regisseurin wurde Emily Atef durch ihren Film über Romy Schneider „Drei Tage in Quiberon“ bekannt, der schon 2018 auf der 68. Internationalen „Berlinale“ gezeigt wurde.

Drehbuchautorin dieses Film war schon damals Daniela Krien. Mit ihr zusammen entwickelt Emily Atef dann auch noch das Buch für ihren intensiven und berührenden Film, „Mehr denn je“, der von einer intensiven und tragischen Liebe erzählt und in dem die junge Vicky Krieps die Rolle der todgeweihten Hauptfigur spielt. Dieser zu großen Teilen in Norwegen gedrehte FILM sorgte 2022 in Cannes in der Filmfestival-Sparte »Un Certain Regard« unter dem französischen Titel „Plus que jamais“ für Furore.

Bei der diesjährigen 73. Berlinale wurde die dritte Zusammenarbeit von Emily Atef und Daniela Krien unter dem Titel „Irgendwann werden wir uns alles erzählen“ gezeigt und galt unter den fünf deutschen Filmen, die alle in der Kategorie „Wettbewerb“ gezeigt wurden, als die große Versprechung für einen der „Berlinale Bären“. Nur leider erhielt Emily Atefs Arbeit dann bei diesem Festival überhaupt keinen Preis.

„Er hätte ihn aber verdient gehabt!“ – So die Meinung vieler Zuschauer. Denn dieser Film wurde fast ungeduldig erwartet. Und das schon allein wegen Marlene Burow, die noch kürzlich in dem Film „In einem Land, das es nicht mehr gibt“ zum Publikums-Liebling geworden war. Aber vielleicht hielten die Juroren diesen Film von Emily Atef und Daniela Krien dann wohl doch für zu unmoralisch. Zumindest aber wurde immer wieder von einer „verbotenen Liebe“ gesprochen. Wieso eigentlich? Fand doch diese Liebe zwischen zwei erwachsenen Menschen statt. Zwischen der 18-jährigen Maria – sehr zart dargestellt von Marlene Burow – und dem doppelt so alten Henner – sehr leidenschaftlich gespielt – von Felix Kramer.

Diese Beurteilung, oder besser Verurteilung des Films kann als ‚an den Haaren herbeigezogen‘ gelten. Denn schließlich gilt man heutzutage in Deutschland ab 18 Jahren als volljährig. Und das galt auch schon in der Zeit der sogenannten „Wende“ so, in der dieser Film in Thüringen spielt. — Zur Erinnerung: In der DDR galt die Volljährigkeit mit 18 Jahren sogar bereits ab 1950. Und in der BRD (West-Deutschland) dann allerdings erst seit dem 22. März 1974.

Also in dieser undefinierten Atmosphäre der Wendezeit spielt „Irgendwann werden wir uns alles erzählen“. Das heißt in einer Epoche, in der es noch keine Lösung für die sogenannte Wiedervereinigung der beiden Länder „Westdeutschland“ und „Ostdeutschland“ gab und alles noch in der Schwebe war und niemand so recht wusste, wo es lang gehen sollte und vor allem niemand eine Idee hatte wie man sich politisch vereinigen könnte. Und die von der Leipziger Autorin Daniela Krien entwickelte Geschichte „Irgendwann werden wir uns alles erzählen“ zeigt halt genau diese Zeit in einer privaten Geschichte, die zeitgleich mit den großen politischen Veränderungen einhergeht.

Der Film spielt also im Sommer 1990 in der Noch-DDR in einem Dorf in Thüringen. Dort, gut 300 km südlich von Berlin, wirkt die Zeit wie stehen geblieben. Maria, zart und ziemlich verträumt, wohnt mit ihrem Freund Johannes, gespielt von Cedric Eich, auf dem Bauernhof seiner Eltern. Johannes, der seine Zukunft als Berufs-Fotograf sieht, ist ständig mit seiner Kamera unterwegs. Er versucht die Verträumtheit von Maria zu verstehen, die ihre Zeit vorwiegend Bücher lesend im Bett vertreibt — anstatt die Schule zu Ende zu bringen. Sie findet das Leben in Büchern zur Zeit der Wende spannender als die Wirklichkeit.

So fühlt sie sich auch zu dem doppelt so alten Henner (Felix Kramer) hingezogen, der den größten Hof im Ort hat und diesen stur so weiter betreibt wie in der Vor-Wende-Zeit. Maria imponiert die harsche Art dieses Eigenbrötlers, dessen zurückgezogenes Verhalten bei den anderen Dorfbewohnern Argwohn erregt — aber auch eine gewisse Neugier und Bewunderung bei so einigen Frauen. Sie finden ihn zwar versponnen, aber heimlich auch ziemlich attraktiv.

Maria begegnet diesem Mann eher zufällig in einem Moment als dessen Hunde sie laut und angriffslustig aus der Nähe von Henners Grundstück vertreiben wollen. Dessen erste Berührung von Maria, die eigentlich nur als eine Geste der Beruhigung für das zu Tode erschreckte Mädchen gemeint ist, durchfährt beide wie ein Schlag. Für einen vom Fernsehen mit-produzierten Film geht es tatsächlich bei beiden gleich ganz schön atemberaubend zur Sache. Sie fallen geradezu, beide total erregt, übereinander her. Selten wurde ein Mann so mutig nah und ohne jede Peinlichkeit so nackt und ästhetisch von einer Kamera dokumentiert. — Und schließlich geht es hier ganz sicher nicht um einen Pornofilm…

Kann eine solche Liebesgeschichte anders zu Ende gehen als mit dem Tod?

Doch dieses schnelle und erschreckende Ende gestalten die Drehbuchautorin Daniela Krien und die Regisseurin Emily Atef so unvorhersehbar drastisch, dass die Zuschauer total erschrocken zurück bleiben.

Angelika Kettelhack


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Vor dem folgenden Film wollen wir vorsichtig warnen, dass er aufgrund der österreichischen Mundart anfänglich etwas schwer verständlich sein könnte. Das gibt sich aber im Laufe des Werkes, denn sobald der Fuchs auftaucht wird weniger gesprochen, um das scheue Wildtier nicht zu verschrecken.

"DER FUCHS" Historisches Kriegs- und Jugenddrama von Adrian Goiginger um eine tiefe Freundschaft zwischen einem Soldaten und einem Fuchs. Nach einer wahren Begebenheit im Zweiten Weltkrieg. (Österreich / Deutschland, 2022; 118 Min.) Mit Simon Morzé, Marko Kerezovic, Joseph Stoisits u.a. seit 13. April 2023 im Kino. Hier der Trailer:



Ulrikes Filmkritik:

Franz Streitberger (Simon Morzé) wird 1919 im österreichischen Prinzgau geboren. Als kleiner Junge liebt er es draußen in der Natur zu sein. Es herrscht eine ziemliche Armut in seinem Elternhaus auf dem Lande, dennoch ist Franz ein glückliches Kind.

Doch dann, im Jahr 1927 wird er ohne Vorwarnung oder Erklärung aus seiner gewohnten Umgebung gerissen und schreit wie am Spieß. Sein Vater, ein armer Bergbauer (Karl Marcovics) möchte dass es ihm besser geht bei einem Großgrundbesitzer unten im Tal. Er soll ihm bei der Arbeit helfen und lernt dafür Lesen und Schreiben, was sein Vater nie gelernt hat. Für den Jungen hinterlässt die Trennung ein schweres Traumata. Als er volljährig ist verlässt er den Großgrundbesitzer und geht statt nach Hause zum Militär.

Franz hat sich zu einem wortkargen Einzelgänger entwickelt. In den Bergen wird er als Späher eingesetzt, er soll die Deutschen im Grenzgebiet beobachten. Am Vorabend des Frankreichfeldzuges findet der zurückgezogene Franz einen verwaisten Fuchswelpen, um den er sich fortan liebevoll kümmert und mit auf seine Touren für die Wehrmacht als Motorradkurier nimmt. Das Tier wird zu seinem ständigen Begleiter in den Krisengebieten. Der am nächsten Tag beginnende Kampf entscheidet die Zukunft für Deutschland in den nächsten 1000 Jahren. Diesmal müssen die Franzosen in die Knie gezwungen werden.

Franz hat sich mitsamt seinem Fuchs von der Truppe entfernt. Am Strand der Normandie trifft er einen Kameraden, während die Deutschen in Paris einmarschieren. Es gibt eine Zeit des Kampfes und eine Zeit der Heiterkeit. Mit seinem Motorrad ist Franz ziemlich gut vorangekommen, obwohl Leichen seinen Weg pflastern. Sein Fuchs ist immer noch bei ihm. Die Fürsorge für das Tier tut Franz emotional sehr gut.

Als der Fuchs in einen Hühnerstall rennt, muss Franz hinterher, um zwei Hühner vor ihm zu retten. Eine junge Bäuerin schießt drauf los, doch der Fuchs rennt weg, kommt aber wieder zurück. Streitberger repariert das Holztor der Bäuerin, das er eingetreten hat. Sie heißt Marie und ist Französin. Sie serviert ihm eine heiße Suppe und die beiden freunden sich an. Franz übernachtet in ihrem Haus. Als er sie nachts weinen hört, fängt er an zu singen. Er kennt es von Zuhause. Auch sein Vater fing immer bei traurigen Anlässen zu singen an. Anders konnte er seine Emotionen nicht zeigen.

Weil Franz sich längere Zeit von der Truppe entfernt hat wird er für 10 Tage eingesperrt. Zum Glück kann sein Fuchs bei Marie bleiben. Als er dem Hauptmann davon erzählt, hält der ihn für verrückt. Nach einiger Zeit zieht die Truppe als Sieger ab. Aber nicht zurück in die Heimat, sondern gen Osten. Weihnachten werden sie in Moskau sein.

Der österreichische Regisseur Adrian Goiginger erzählt die Geschichte seines Urgroßvaters der durch sein „Füchsle“ seine eigene Trauer überwinden lernt und emotional aufblüht. Der Krieg macht ihn eher zu einer passiven Figur, denn seine Gedanken sind ausschließlich bei seinem Tier und dessen Wohlergehen. Die Fürsorge und die Treue des Tieres haben Franz Wunde von damals ein wenig geheilt.

Goiginger hat die Geschichte sehr einfühlsam erzählt, und den Fuchs ganz niedlich ins Bild gesetzt. Von Kitsch keine Spur. Man folgt den beiden, Franz und Fuchs, voller Herzenswärme. Der Krieg geht weiter und Franz steht vor einer schmerzlichen Entscheidung.

Ulrike Schirm


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Der nachfolgende Film wurde von Kameramann Pierre Cottereau hauptsächlich im Studio gedreht, um die 1928 geborene Protagonistin nicht durch Außendrehs zu überanstrengen. Dank einer neuen immersiven Technik gelang es, die perfekte Illusion einer Taxi-Fahrt durch Paris zu erzeugen. Mit Hilfe mehrerer, übergroßer 4K-Monitore wurde die zuvor real gedrehte Taxifahrt auf das Auto projiziert, während der Himmel auf der Windschutzscheibe zusätzlich für hinreichende Beleuchtung im Innenraum sorgte. Das Ergebnis der nachgedrehten Studioaufnahmen ist eine Darstellungsqualität mit klaren präzisen Bildern, bei der man sich mitten im Geschehen fühlt.

Wir haben zu diesem Film zwei sehr unterschiedliche Filmbesprechungen erhalten, die wir unseren Lesern gerne beide wärmstens ans Herz legen möchten.

"IM TAXI MIT MADELEINE" Tragikomödie von Christian Carion um eine ältere Dame, die das Leben eines Pariser Taxifahrers grundlegend verändert. (Frankreich / Belgien, 2022; 91 Min.) Mit Line Renaud, Dany Boon, Alice Isaaz u.a. seit 13. April 2023 im Kino. Hier der Trailer:



Ulrikes Filmkritik:

Der Pariser Taxifahrer Charles (Dany Boon) soll eine ältere Dame aus der östlich gelegenen Gemeinde Bry-sur-Marne abholen. Eine längere Fahrt kommt dem verschuldeten Taxifahrer gerade gelegen. Seine Laune ist nicht die beste. Bei der Kundin handelt es sich um die 92-jährige Madeleine, gespielt von der wunderbaren Line Renaud.

Man sieht, wie sie zum letzten Mal ihr Haus abschließt. Ihr Ziel ist ein Pflegeheim auf der anderen Seite der Stadt. Eilig hat es die gepflegte Dame nicht. Sie will noch einmal die Orte sehen, die ihr Leben auf schicksalhafte Weise geprägt haben und so fährt der 46-jährige Charles mit ihr sämtliche Stationen ihres Lebens ab. Er muss haarscharf aufpassen, denn noch ein Verkehrsvergehen, kann ihn seinen Führerschein kosten.

Madeleine erzählt von ihrer ersten Liebe Matt, einem GI, ihrem ersten Kuss und dass er nach 3 Monaten wieder zurück in die USA ging und sie einen Sohn von ihm hat. Sie arbeitete in einem Theater, in dem sie für die Kostüme zuständig war. Es folgen so einige tragische Ereignisse, der Tod ihres Vaters in der Nazizeit, ihre Ehe mit Ray, der sie schlägt und vergewaltigt, auch vor den Augen ihres Sohnes Mathieu, von dem er nicht der Vater ist und der den Jungen gehasst hat. Es kommt der Tag, wo sie die Gewalt gegen sich und ihren Sohn nicht mehr ertragen wollte und sich auf verständliche Weise rächt, was eine langjährige Gefängnisstrafe für sie zur Folge hat, in den 1950ziger Jahren. Nur sie wurde bestraft , nicht ihr Mann.

Je mehr sie von sich preis gibt, desto interessierter hört ihr der Taxifahrer zu. Langsam taut er auf und erzählt ihr von seinen Problemen. Ihre Erinnerungen werden in relativ kurzen Rückblenden erzählt, die Hauptgespräche finden im Taxi statt. Man hört der alten Dame mit ihren leuchtenden blauen Augen fasziniert zu, denn sie gehört zu einer Generation, die dramatische Erlebnisse durchgemacht hat, die man sich heute kaum noch vorstellen kann. Es liegt auch an der stimmigen Chemie zwischen den beiden Hauptdarstellern, die schon in dem Film „Willkommen bei den Sch’tis“ zusammen vor der Kamera standen und Danny Boon die Regie führte. (2008).

Dieser Film ist auch eine Hommage an die gleichaltrige Schauspielerin Line Renaud, die in der Rolle der Madeleine einen ganzen, ziemlich harmonischen Tag mit dem Taxifahrer Charles erlebt, dem sie sogar raffiniert aus der Klemme hilft und auf ein erstaunlich berührendes Ende zusteuert.

Ulrike Schirm


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Elisabeth's Filmkritik zu "Im Taxi mit Madeleine"

"Une belle course" heißt der neueste Film des französischen Regisseurs und Schauspielers Christian Carion, dessen vielleicht bekanntester Film "Eine Schwalbe macht den Sommer" (2000) ist.

"Eine schöne Fahrt" wünscht sich die im deutschen Titel benannte Madeleine. Während der internationale Titel, "Driving Madeleine", eine Referenz an "Driving Miss Daisy" anklingen lässt, wählte der deutsche Verleih Studiocanal stimmiger: "Im Taxi mit Madeleine".

Charles, der Taxifahrer wird hier nicht auf seine Rolle als ebensolcher reduziert. Madeleine ist sein Fahrgast für eine einfache Strecke, die einen ganzen Tag in Anspruch nehmen wird. Eine Begegnung erleben wir hier, vielleicht aus unterschiedlichen Ecken des Lebens, die beide in der gemeinsam verbrachten Zeit zusammenschweißen wird. Hier wird nicht ein Lebensweg mit einem anderen aufgewogen, sondern beide Schicksale, so unterschiedlich sie sind, gleichwertig behandelt. Und dabei nimmt Carion das Publikum gleich mit auf diese "schöne Fahrt". Eine letzte schöne Reise.

Denn für Madeleine ist es ein Abschied. Von ihrem Zuhause, von ihrem bisherigen Leben. Sie hat aber so viel erlebt und so viel einstecken müssen, dass sie auch diesen Abschied nicht zu schwer nimmt. Aber diese letzte Taxifahrt darf gerne etwas länger ausfallen. Dabei lernen wir Charles, gespielt von Danny Boon, als nervösen Grantler kennen, dem so ziemlich alles auf den Straßen von Paris gegen den Strich geht. Er ist aus allerlei Gründen schwer genervt, als Madelaine zu ihm in den Wagen steigt. Danny Boon, das sollte erwähnt werden, gibt hier nicht den Komiker. Sein Spiel lotet seine Figur zwischen Wut und Verzweifelung, Ungeduld und Durchmoglertum, mürrisch Gescheiterten und doch mitfühlenden und gutherzigen Sentimentalisten aus. Typ grobe Schale, weicher Kern. Madeleine, gespielt von Line Renaud, ist vielleicht das genaue Gegenstück. Eine sehr alte, scheinbar gut situierte alte Dame, die zerbrechlicher wirkt, als sie es ist. Was in ihr steckt, wird der Film nach und nach offenbaren.

Sie soll nicht mehr alleine leben, sie soll in ein Seniorenheim. Dort wird sie erwartet. Dass die neue Adresse ihre letzten Tage streng durchtakten wird, merkt man schon an den Umstand, dass sie pünktlich zu erscheinen habe. Madeleine denkt gar nicht daran und bittet Charles immer wieder um noch einen Umweg. Das Publikum ahnt, dass hier Rückblenden einsetzen werden. Und so erzählt uns das Buch von Carion und Cyril Gely von einem harten und gewaltvollen Leben. Ein tragisches Dasein, das wäre noch untertrieben, aber ich möchte nichts vorwegnehmen. Das Drama bewegt sich auf zwei Zeitebenen und sowohl visuell, als auch darstellerisch, Madeleine wird in ihren jungen Jahren von Alice Isaaz gespielt, driften die beiden Ebenen stark auseinander. Während die Rückblenden, mehrere Jahrzehnte zwischen Nachkriegszeit und den 70ern abdecken, die Geschehnisse als Melodram vermitteln, wirkt die Jetztzeit realistischer. Carion wagt den Spagat sowohl die Perspektive einer Frau in einer Zeit zu vermitteln, als Frauen von Frauenrechten noch nicht einmal träumen konnten, als auch die aktuelle Krise in einer Zeit, in der die einfachen Leute längst nicht mehr vom Wohlstand träumen sollten. Dabei versucht das Filmteam die Vergangenheit im Filmstil der jeweiligen Epoche nachzuempfinden. Das ist vielleicht nicht immer ganz stimmig, aber das Wagnis muss man anerkennen.

Haupthandlungsort ist ein Taxi und es geht quer durch das heutige Paris und quer durch die europäische Geschichte. Dabei nimmt der Regisseur das Schicksal seiner Hauptfiguren ernst. Dass "Im Taxi mit Madeleine" dennoch eine Wohlfühlgeschichte sein will, nimmt man ihm gar nicht übel. Da überrascht das Ende vielleicht nicht, doch bis dahin die eine oder andere Entwicklung, die man in Wohlfühlfilmen so nicht erwartet.

Dass "Im Taxi mit Madeleine" trotz allem funktioniert ist seinen beiden Hauptdarstellern zu verdanken. Danny Boon und Line Renaud haben bereits bei "Willkommen bei den Sch'tis" gemeinsam, als Mutter und Sohn, vor der Kamera gestanden. Die Beiden haben eine Chemie, die auch über die kleinen Hürden im Drehbuch hinwegsehen lässt. Ihre gemeinsamen Szenen sind die Kinokarte wert. Versprochen.

Elisabeth Nagy


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"SUZUME" Bildgewaltiger Animefilm von Makoto Shinkai, der im Wettbewerb der diesjährigen 73. Berlinale lief und Japans größte Tragödie der Neuzeit thematisiert: Die atomare Katastrophe in Fukushima und ihre Folgen. (Japan, 2023; 122 Min.) Mit den Stimmen von Nanoka Hara, Hokuto Matsumura, Eri Fukatsu, Shota Sometani, Sairi Ito u.a. seit 13. April 2023 im Kino. Hier der Trailer:



Ulrikes Filmkritik:

Auf dem Weg zur Schule trifft die siebzehnjährige Suzume auf einen fremden, hübschen Studenten, Souta, der ihr die Worte entlockt: „Oh wie schön“. Er fragt sie nach dem Weg zu den Ruinen einer verlassenen Badeanstalt. Sie folgt ihm neugierig in diese verlassene Stadt und steht plötzlich vor einer magischen Tür im Becken, die sich als Eingang ins Jenseits entpuppt.

Hätte sie doch bloß nicht diese Tür geöffnet. Unwissentlich hat sie gleich zwei Fehler begangen. Sie hat einen Schlussstein entfernt und ist durch das Portal kurz ins Jenseits getappt, das eine Mischung aus Traumata – Ort und Minecraft – Nether World ist. Damit hat sie eine Folge von bedrohlichen Ereignissen in ganz Japan heraufbeschworen.

Der Schlussstein hat sich rasant in eine weiße Katze verwandelt. Souta arbeitet nämlich als „Schließer“, der dafür sorgt, dass die Türen und Portale zum Jenseits geschlossen bleiben, damit die Erdbeben auf keinen Fall ins Menschenreich kommen. Zu spät. Ein riesiger Wurm aus der Unterwelt bewegt sich in die Stadt und löst ein schweres Erdbeben aus. Zusammen mit Souta muss sie jetzt noch weitere Portaltüren in ganz Japan finden, um sie zu schließen und den Wurm daran zu hindern, weitere Erdbeben im Diesseits auszulösen. Diese sprechende, weiße Zauberkatze mit dem Namen Daijin, taucht plötzlich auf. Sie ist der sogenannte Schlussstein, in Katzengestalt, mit dem man die Portale wieder schließen kann. Nach ihrem Auftauchen verwandelt sich Souta in einen dreibeinigen, laufenden und sprechenden Kinderstuhl. Die Katze hat ihn verhext. Sie müssen jetzt dem niedlichen Kätzchen, das gar nicht so niedlich ist, wie es tut, folgen, denn es taucht immer dort auf, wo ein Erdbeben kurz vor dem Entstehen ist.

Suzume lebt bei ihrer Tante Tamaki auf der Insel Kjushu. Ihre Mutter ist schon vor vielen Jahren gestorben und den kleinen Kinderstuhl hat ihre Mutter damals für sie zusammen gebaut und dem jetzt ein Bein fehlt. Er ist für das Mädchen ein liebevolles Andenken an seine Mutter. Noch immer wird Suzume von einem Albtraum wach. Sie irrt als kleines Mädchen weinend durch ein zerstörtes Gebiet und sucht verzweifelt nach ihrer Mutter. Suzume möchte, wie ihre Mutter, Kranken- schwester werden. Es gibt den Moment, wo sie Souta mit nach Hause nimmt, um ihn zu verarzten. Er hat sich beim kraftvollen Schließen eines Portals verletzt. Sie hat sich auch ein bisschen in ihn verliebt. Gemeinsam macht sie sich mit ihm auf den Weg, um das Übel, das sie heraufbeschworen hat, wieder in Ordnung zu bringen, denn sie hat es ja verursacht.

Regisseur Makoto Shinkai („Your Name“) ist für seine lichtdurchfluteten, naturalistischen Szenerien bekannt. In seinem neuen Animationsfilm "SUZUME", nimmt er den Zuschauer mit auf eine bildgewaltige Reise. Es geht ihm um menschliche Momente , Naturgewalten, Regen und Sonne und um die kleine fiese Katze, die Souta verhext hat. Er verbindet mehrere Ereignisse und Geschichten, ohne dabei chronologisch vorzugehen. Er erzählt von dem Trauma eines jungen Mädchens, das seine Mutter verlor, von einem Superheldendrama und es geht um das zurückliegende Unglück um Fukushima, das auch an Hiroshima und Nagasaki erinnert. Das macht er mit viel Fantasie und weist dezent auf die gefährdete Umwelt hin. Es geht ihm auch darum, die Toten ehrfurchtsvoll zu ehren und zu betrauern und er findet dafür wunderschöne Bilder, gepaart mit einem gut gelungenen Score. Eine feinfühlige Mischung aus Roadmovie und Liebesgeschichte durchsetzt mit märchenhaften Mythenerzählungen. Eine bewegende Geschichte für Groß-und auch Klein, mit dem Ziel, großes Unheil zu verhindern. Anrührend.

Ulrike Schirm


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