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Fünf herausragende Arthouse-Kinostarts und eine deutsche Komödie in der 4. KW 2023

Während manche Verleiher für Filme der Berlinale bereits werben, versuchen andere noch schnell ihre Werke der letzten Saison in die Kinos zu bringen, bevor das Berliner Publikum sich nur noch auf die Filmfestspiele konzentriert.



Mit der anstehenden Verleihung der OSCARS® für die besten Filme aus 2022 ist am letzten Donnerstag ein Favorit aus Belgien in den deutschen Kinos gestartet, den man nur als herausragende Regieperle bezeichnen kann.

"CLOSE" ein berührendes Drama über Freundschaft und Verlust von Lukas Dhont (Belgien, Niederlande, Frankreich, 2022; 105 Min.) Mit Eden Dambrine, Gustav de Waele, Émilie Dequenne, Léa Drucker u.a. seit 26. Januar 2023 im Kino. Hier der Trailer:



Ulrikes Filmkritik:

Rémi und Léo sind enge Freunde, die ganz viel Zeit miteinander verbringen. Sie tollen durch üppige Blumenfelder auf dem belgischen Land, die von Léos Eltern bewirtschaftet werden, verbringen die Nächte oft gemeinsam, mal bei dem einen, mal bei dem anderen, schmiegen sich gern aneinander und schmieden Pläne, was sie mal machen, wenn sie groß sind. Léo will in die Ferne reisen, Rémis verspricht mit ihm zu gehen. Zwei unbefangene Teenager-Jungen, sogenannte „Best Friends“, verbunden in einer innigen Freundschaft, die viel lachen und sich mit einer unbefangenen Selbstverständlichkeit in den Arm nehmen. Auch die Eltern der beiden erfreuen sich an ihrer Freundschaft. Rémis Mutter bezeichnet Léo sogar als ihren Herzenssohn. Léo steckt voller Phantasie, erfindet Geschichten und Spiele, Rémi ist etwas zurückhaltend, spielt mit Hingabe auf seiner Oboe, wenn er übt, darf ihm nur Léo zuhören.

Nicht ohne Grund, ist der Titel des Films "CLOSE". (Nah). Nicht nur ihre Freundschaft drückt sich durch ihre Nähe zueinander aus, auch die Kamera ist ganz nah bei den beiden Jungen, die ein großartiges Schauspieler-Debüt liefern. Gustav de Waele und Eden Dambrine.

Als die beiden Dreizehnjährigen von der Grundschule aufs Gymnasium wechseln, stellt am ersten Tag ein Mädchen fest, dass sie enger wirken als nur gute Freunde. Anscheinend gibt es in der Schule keinen Platz für eine derartig innere Verbundenheit zwischen zwei Jungen. Léo streitet es sofort ab und geht auf Distanz zu Rémi. Er will nicht mehr mit ihm zur Schule radeln, sich nicht mehr treffen und meldet sich in einer Eishockeymannschaft an. Er übt sich jetzt in Männlichkeit. Rémi versteht nicht, warum sein Freund plötzlich so anders ist, er versucht um die Freundschaft zu kämpfen, denn er leidet unter Léos schlagartiger Ablehnung. Es kommt zu einer unvorhergesehenen Katastrophe, die alles verändert. Rémis Gefühlswelt ist völlig durcheinander. Léos Versuch, sich auf einmal neu zu orientieren, hinterlässt tiefe Wunden.

Mit einer unglaublichen Präsenz verkörpert der junge Eden Dambrine die Figur des Léo, ohne viel Worte, sondern mit einer stillen Wahrhaftigkeit, die nicht nur herzzerreißend ist, sondern auch total glaubhaft.

In Cannes gab es für dieses berührende Drama den großen Preis der Jury. Nun geht der Film für Belgien ins Oscarrennen.

"CLOSE" ist der zweite Film des Belgiers Lukas Dhont. Schon mit "GIRL" (2018) hat er bewiesen, mit welcher Feinfühligkeit er sich besonderen Figuren annähert, wie dem 15-jährigen Transmädchen*, das unbedingt Ballerina werden will und nicht warten kann, bis sie für eine geschlechtsumwandelnde Operation alt genug ist. Auch bei diesem Schicksal über zwei Jungs blieb er ganz nah an seinen Protagonisten.

Ein Interview mit dem Regisseur ist für digital Abonnenten des Tagesspiegels hier nachzulesen.

*Transmädchen: (eine Person, die mit körperlich männlichen Ausprägungen geboren wurde, sich aber als weiblich identifiziert)

Ulrike Schirm


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"MIDWIVES" Dokumentarfilm von Hnin Ei Hlaing über zwei Hebammen, die sich der strengen ethnischen Trennung Myanmars widersetzen, um den unterdrückten Rohingyas im Bundesstaat Rakhine medizinische Hilfe leisten zu können. (Kanada, Deutschland, Myanmar, 2022; 92 Min.) Nach einer einwöchigen Kinotour durch Deutschland mit der Regisseurin, ist der preisgekrönte Film seit 26. Januar 2023 offiziell im Kino.

Das letzte Publikumsgespräch findet am heutigen Montag, 30.01.2023, nach der 19:00 Uhr Vorstellung im Berliner ACUDKino statt. Hier der Trailer:



Ulrikes Filmkritik:

Myanmar, das frühere Burma, ist ein südostasiatischer Staat mit Grenzen zu Indien, Bangladesch, China, Laos und Thailand, in dem mehr als 100 ethnische Volksgruppen leben. Am meisten vertreten sind die Buddhisten. Eine muslimische Minderheit sind die Rohingya, eine der meist verfolgten Minderheiten auf dieser Welt.

Zwei Hebammen versorgen die in Myanmar verfolgten Rohyngia in der Rakhaing Provinz. Die junge Muslima Nyo Nyo, die noch in der Ausbildung ist und ihre buddhistische Lehrerin HLA, die trotz ihrer unterschiedlichen religiösen Zugehörigkeit zusammenarbeiten, ermöglichen den verfolgten Rohingya, die auch nicht reisen dürfen, eine medizinische Versorgung. HLA hat die kleine Klinik zusammen mit ihrem Mann gegründet. Die Belastung im täglichen Klinikalltag ist groß.

HLA ist froh, dass Nyo Nyo da ist, nicht nur weil sie ihren Beruf ernst nimmt, sondern auch weil sie die Sprache der Rohingya versteht und vermitteln kann, denn es ist die einzige Klinik im Ort, zu der sie Zugang haben. Obwohl Nyo Nyos Familie schon seit Generationen in der Region lebt, werden sie noch immer als Eindringlinge betrachtet.

Es gab eine Zeit, da waren Buddhisten mit Muslimen befreundet. Später wurden dem Militär ethnische Säuberungsaktionen gegen die Muslime vorgeworfen. Unter dem Vorwand nach muslimischen Terroristen zu suchen, steckten die Nichtmuslime deren Häuser an. Es gab keine Hebammen, die Kinder wurden ohne geboren.

Seit den Unruhen ist es schwierig für Nyo Nyo. Sie möchte und soll in die Stadt, um eine Schwesternausbildung zu machen, denn ihr Traum ist es, eines Tages eine eigene Klinik zu eröffnen.

Es gibt Phasen, da ist Nyo Nyo todunglücklich und möchte am liebsten in der Stadt das Leben einer modernen Frau führen. Auch, weil die Männer den Frauen kaum bei der Arbeit behilflich sind. Wegen der Unruhen, soll auch noch die Klinik für eine Zeit geschlossen werden. Der oberste General sollte beim Gerichtshof für Menschenrechte angeklagt werden. Die Muslime werden als „Kalar“ (Farbige) bezeichnet, und deren Kinder dürfen seit dem Konflikt keine staatlichen Schulen mehr besuchen.

„Wir wollen keine Unterstützer der muslimischen Terroristen und Mördern“, heißt es im Film.

Obwohl die Bevölkerung mit den Nachwirkungen des Militärputsches und dem harten Vorgehen gegen Demonstranten zu kämpfen hat, stellen sich die beiden Frauen den widrigen Umständen mit aller Kraft entgegen, in dem die Geburt jedes gesunden Kindes, sie mit Glück erfüllt. Ihre kleine Klinik wird zu einem Ort der Hoffnung auf ein neues, friedliches Miteinander, während sich draußen das gesamte Land in einem Ausnahmezustand befindet.

Über fünf Jahre hat Regisseurin Snow Hnin Hlaing die Frauen bei ihren täglichen Herausforderungen, ihrer medizinischen Hilfe aber auch bei ihren Träumen und Hoffnungen, inmitten eines Umfeldes in dem Chaos und Gewalt stetig wachsen, beobachtet. Nyo Nyo hat eine Tochter geboren. Sie hofft, dass das Mädchen eine bessere Zukunft hat und vielleicht auch Hebamme wird.

Bis heute ist noch keine Besserung abzusehen. Es herrscht noch immer politische Instabilität und soziale Ungleichheit.

"MIDWIVES" (Hebammen) wurde auf dem Sundance Filmfestival 2022 mit dem World Cinema Documentary Special Jury Award ausgezeichnet. Die evangelische Filmjury kürte den Film zum Film des Monats. Snow Hnin Ei Hlaing gibt in ihrem Debütlangfilm seltene und sehenswerte Einblicke in den ländlichen Alltag.

Ulrike Schirm


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"RETURN TO SEOUL" Drama von Davy Chou um ein französisches Adoptivkind, das seine koranischen Wurzeln sucht. (Frankreich, Südkorea, Deutschland, Belgien, Rumänien, Kambodscha, Katar 2022; 159 Min.) Mit Park Ji-min (II), Oh Kwang-rok, Sun-Young Kim u.a. seit 26. Januar 2023 im Kino. Hier der Trailer:



Elisabeth's Filmkritik:

Die großen Themen von "Return to Seoul" sind Heimat, Identität und Zugehörigkeit. Das allumfassende Hauptthema ist die Adoption. Genauer gesagt, die Auslandsadoption. Die Hauptfigur Freddie wurde in Südkorea geboren und noch als Baby von einer französischen Familie adoptiert. Freddie, wunderbar gespielt von Park Ji-min, ist 25 Jahre alt, als sie einem Zufall geschuldet in Seoul landet. Zwei Wochen Urlaub. Zu kurz, um ihren Wurzeln auf den Grund zu gehen, zu lang, um nichts zu tun. So nimmt sie den Vorschlag einer jungen Frau an, der sie begegnet und mit der sie eine Freundschaft eingeht. Wobei Freundschaft zu viel gesagt wäre. Sie weiß, dass sie in Südkorea geboren wurde, aber nicht viel mehr. Die Adoptionsstelle wird ihr im Rahmen des Möglichen helfen. Die neue Freundin ebenso. Das ist schon mal ein Anfang.

Freddie, eigentlich Frédérique, sieht sich als Französin. Die südkoreanische Kultur ist ihr fremd, sie spricht nicht einmal die Sprache. Es kümmert sie scheinbar nicht, welche Sitten und Gebräuche vor Ort üblich sind. Wie eine Naturgewalt formt sie ihren ersten Abend nach ihrem Gusto. Kümmert es sie wirklich nicht oder lehnt sich etwas in ihr gegen etwas auf, was sie noch nicht begreift. Sie fühlt zugleich zu viel und reagiert auf alles mit einer Wucht und doch auch mit einer Fassung, die dem Film die Richtung und das Tempo vorgeben. Das ist gleichzeitig erratisch, mit Sprüngen, wehmütig, aber keinesfalls nostalgisch. Freddie ist dünnhäutig, impulsiv, voller Widersprüche und zunehmend ohne Halt.

Davy Chou hat für die Hauptrolle eine Laiendarstellerin gewählt, man mag es kaum glauben. Chou sind die Fragen nach Herkunft und Identität nicht fremd. Er wurde zwar in Frankreich geboren, aber er stammt aus Kambodscha und erfuhr erst als Jugendlicher, dass sein Großvater eine führende Persönlichkeit in der kambodschanischen Filmgeschichte war und dann verschwand. Chou widmete sich fortan dieser Geschichte, die er wiederentdecken und einzuordnen begann. 2012 lief im Forum-Programm der Berlinale sein Film "Golden Slumbers" über diese unbekannte Filmgeschichte Kambodschas, wo in den 60ern und 70ern Hunderte Filme produziert worden sind und von denen praktisch nur noch eine Handvoll existieren. Das Regime der Khmer Rouge hat sie zerstört und verrotten lassen. Der Film zählte damals zu den Geheimtipps des Festivals. Bei den Recherchearbeiten zu "Golden Slumbers" begleitete ihn eine Freundin, die ähnlich wie Freddie in "Return to Seoul" in Kambodscha geboren und nach Frankreich adoptiert worden ist. Sie lernte damals ihre biologischen Eltern kennen. Die Idee für das Drehbuch von "Return to Seoul" beruht auf diesem Erlebnis.

In Seoul erfährt Freddie, wie ihr Geburtsname lautet und sie kann mit ihrem biologischen Vater Kontakt aufnehmen. Ihre Eltern hatten sich getrennt und die Regeln für eine Wiedervereinigung schützen in erster Linie die Eltern. Wenn sie nach einer wiederholten Kontaktaufnahme sich nicht zurückmelden, dann hat der suchende Teil keine weitere Handhabe in der Sache. Freddies Vater nimmt sofort Kontakt auf, Freddies Mutter nicht.

Doch damit ist noch nicht alles gut. Der Clash der Erwartungen an den jeweils anderen ist zu groß. Freddie zieht sich auch aus Selbstschutz zurück. Damit endet eine erste Runde in diesem Karussell der Identitätssuche. So spontan und direkt Freddie auf neue Bekanntschaften und Situationen zugeht, so schnell springt sie auch wieder ab. Eine zu große Nähe lässt sie nicht zu.

Den Verwirrungen, die sie selbst aushalten muss, mutet der Regisseur auch dem Publikum zu. Jede Beziehung, die Freddie eingeht, wird ihr schnell zu eng. Chou und sein Kameramann Thomas Favel arbeiten mit den Neonfarben getränkten Lichtern der Nacht, der fahlen Tristesse des Alltags. Der Film nimmt sich seine Zeit und konfrontiert die Figuren und das Publikum mit Fragen, auf die vielleicht auch mal mit wohlwollenden Übersetzungen geantwortet wird. Auf vieles gibt es keine Antwort. Umso mehr lässt einen der Film dann nicht mehr los und wirkt nach.

"Return to Seoul" lief auf zahlreichen Festivals. Allen voran in der Sektion »Un Certain Regard« von Cannes, auf dem Filmfest Hamburg, auf der Viennale und in Toronto. Davy Chous Heimatland Kambodscha reichte den Film zu den Oscars für den besten internationalen Film ein. Er kam zwar in die engere Auswahl, schaffte es aber nicht unter die Nominierten.

Elisabeth Nagy


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"TILL – Kampf um die Wahrheit" Rassismus-Drama von Chinonye Chukwu um den Lynchmord am 14-jährigen Emmett Till, das auf einer historischen Biografie der schwarzen Bürgerrechtlerin Mamie Till-Mobley basiert. (USA 2022, 132 Min.) Mit Danielle Deadwyler, Jalyn Hall, Whoopi Goldberg u.a. seit 26. Januar 2023 im Kino. Hier der Trailer:



Ulrikes Filmkritik:
(Die schwarze Bürgerrechtlerin Mamie Till-Mobley sucht nach Gerechtigkeit für ihren ermordeten Sohn.)

Mitte der 50er Jahre in Chicago. Hier leben Emmet Till und seine Mutter Mamie Till-Mobley. Beide haben ein inniges Verhältnis zueinander. Mamie macht sich große Sorgen. Ihr 14-jähriger Sohn will nach Mississippi reisen, um seine dort lebenden Cousins zu besuchen. Ihre Sorge ist nicht unbegründet, denn dort ist der Rassenhass weitaus spürbarer als in Chicago, wenn nicht gar lebensbedrohlich.

Mamie gibt dem unbefangenen und naiven Jungen ganz viele Verhaltensregeln mit auf den Weg. Während seine Großmutter (Whoopi Goldberg) ihn bei seinem Vorhaben unterstützt, kann sich seine Mutter (Danielle Deadwyler) nur schweren Herzens von ihrem Sohn (Jalyn Hall), genannt Bo, trennen. Dort angekommen, hilft Bo seinen Cousins auf ihrem Baumwollfeld. Auch sie ermahnen ihn, sich so unauffällig wie möglich zu verhalten. Wie soll er auch begreifen, dass hier ein 'Neger' wegen einer Kleinigkeit getötet werden kann.

Und dann passiert es. Der Lynchmord an dem Jungen wird im Film nicht gezeigt. Es ist dunkel, eine Weitwinkelaufnahme zeigt den Tatort, auf der Tonspur hört man Bos' markerschütternde Schreie.

Seine Mutter, die bei der Air Force arbeitet, besteht darauf, dass der Leichnam nach Chicago überführt wird, dass sie ihn fotografieren kann so, wie er vor ihr liegt, ungeschönt, um den geschändeten Leichnam der Öffentlichkeit zu präsentieren.

Die afroamerikanische Regisseurin Chinonye Chukwu („Clemency“) hat sich bei dieser wahren Geschichte ganz auf die Gefühle der Mutter und ihren Aufstieg zur Aktivistin konzentriert.

Schon am Beginn des Dramas sieht man sie mit ihrem Sohn in einem Luxuskaufhaus, wie ihr Einkauf von arroganten und misstrauischen Blicken der weißen Verkäuferin begleitet wird. Sie hat ihren Sohn in dem Bewusstsein erzogen, dass ihm niemand seinen Platz in der Gesellschaft streitig machen kann.

Mit dieser Unbefangenheit betritt er einen Laden in einer Kleinstadt in Mississippi, wo er seine Familienangehörigen besucht und sein naives Verhalten diesen kaum vorstellbaren Mord zur Folge hat. Die Zeugenaussage der Verkäuferin ist erstunken und erlogen. Es ist ganz großartig mit anzusehen, wie Mamie Till-Mobleys Kräfte anwachsen, je mehr Ungeheuerlichkeiten sie erfährt. Es ist das Einzige, was sie hat, um den Tod ihres „Babys“ zu verkraften und ein Zeichen zu setzen. Sie wird zur Ikone der afroamerikanischen Bürgerrechtsbewegung. Bos' Großmutter macht sich schwere Vorwürfe, ihrem Enkel zu seiner Reise noch zugeredet zu haben. Das ist jetzt 67 Jahre her und wie wir alle wissen, in anbetracht von Polizeigewalt, noch längst nicht vorüber.

Ulrike Schirm


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"THE SON" ein Familiendrama über die verzweifelte Hilflosigkeit der Angehörigen von Florian Zeller. (USA, 2022; 123 Min.) Mit Hugh Jackman, Laura Dern, Vanessa Kirby u.a. seit 26. Januar 2023 im Kino. Hier der Trailer:



Ulrikes Filmkritik:

Kate (Laura Dern) wendet sich in ihrer Verzweiflung an ihren geschiedenen Mann Peter (Hugh Jackman), der inzwischen eine neue Familie gegründet hat. Sie hat herausgefunden, dass ihr gemeinsamer Sohn Nicholas (Zen McGrath) der nach der Scheidung bei ihr lebt, schon wochenlang nicht in der Schule war und sie bei allen Versuchen mit ihm zu reden, nicht an in heran kommt. Peter nimmt sich des Jungen an, lässt ihn bei sich und seiner zweiten, weitaus jüngeren Frau Beth (Vanessa Kirby) und dem gemeinsamen Baby, wohnen. Mit Beth darüber gesprochen hat er nicht. Sie wohnen in einer luxuriösen Loft-Wohnung in New York. Peter ist ein angesehener Anwalt und so wie es aussieht, steigt er bald in die Politik ein. Der siebzehnjährige Nick, wie ihn alle nennen, fühlt sich anfänglich ganz wohl, doch unterschwellig leidet er weiterhin unter einem nicht endenden Seelenschmerz.

„Das Leben erdrückt mich. Ich möchte bei Dir und meinem kleinen Bruder leben. Ich kann es nicht in Worte fassen, was mit mir ist“, gesteht er seinem Vater. Obwohl Beth nicht gerade begeistert ist, beschließen sie beide, Nick so gut wie möglich zur Seite zu stehen.

Schon in seinem Spielfilmdebüt „The Father“ hat Florian Zeller bemerkenswert beschrieben, was es mit einem macht, wenn man die Kontrolle über sein Leben verliert. In „The Father“ ging es ihm um die Erkrankung fortschreitender Demenz, in „The Son“ um die Auswirkungen einer Depression.

Kate, die den Schmerz ihrer Scheidung noch nicht überwunden hat, leidet nun unter der Trennung ihres Sohnes. Beth ist entsetzt als Nick ihr vorwirft, Schuld an der Trennung seiner Eltern zu sein. Als sie ein Messer im Bett des verstörten Jungen findet, bekommt sie Angst, das Baby mit Nick allein zu lassen. Peter, der sich bemüht, seinen Sohn zu verstehen, scheitert an seiner rationalen Denkweise, die er von seinem Vater eingebläut bekam. Er beginnt die lieblose Beziehung zu seinem eigenen Vater (Anthony Hopkins) zu reflektieren und seine Schuldgefühle in den Griff zu bekommen. Außerdem droht seine neue Familie unter diesem Druck zu zerbrechen. Zeller interessiert weniger die Krankheit des Jungen, sondern er nimmt die Perspektive der Erwachsenen ein, die viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt sind, um ihren verzweifelten Sohn mit elterlicher Verantwortung verstehen zu können. Es ist ein Psychiater, der endlich diesen verborgenen Narzissmus entlarvt, mit dem Satz: „Liebe allein genügt nicht.“

Jackman brilliert in der Rolle eines Mannes, der alles richtig machen will und nie so werden wollte wie sein hartherziger Vater, es aber nicht kann. Drohen Söhne wirklich so, wie ihre Väter zu werden?

Rückblenden zeigen die Millers, Kate Nick und Peter, in glücklicher Ferienlaune. Man fragt sich, war es wirklich so, oder ist es womöglich eine nachträgliche Korrektur, um sein Gewissen zu beruhigen?

Zeller erzählt dieses Drama auf unsentimentale Weise und entlässt den Zuschauer mit einem tiefgehenden Schmerz.

Ulrike Schirm


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"CAVEMAN" Komödie um den Kampf der Geschlechter von Laura Lackmann. (Deutschland, 2021; 100 Min.) Mit Moritz Bleibtreu, Laura Tonke, Wotan Wilke Möhring u.a. seit 26. Januar 2023 im Kino. Hier der Trailer:



Ulrikes Filmkritik:

Eigentlich sollte es ein ganz großer Tag für den erfolglosen Autoverkäufer Bobby Müller (Moritz Bleibtreu) werden.

Schon als Kind wollte er Comedian werden. Endlich hat er beim öffentlichen Abend des lokalen Comedy-Clubs die Chance erhalten, aufzutreten. Ein Treffen mit seinem imaginären Freund aus der Steinzeit, dem Höhlenmenschen, hat ihn auf die Idee gebracht, sein Programm den Unterschieden zwischen Mann und Frau zu widmen. „Ich Jäger, du Sammlerin“.

Dann jedoch muss er sein Konzept ändern. 15 Minuten vor Beginn der Vorstellung hat ihn seine Frau Claudia (Laura Tonke) wegen eines Streits verlassen. Er schleppt sich nur noch auf die Bühne und lamentiert über die Unvereinbarkeit zwischen Frauen und Männern, wobei er am Ende das Publikum entscheiden lässt, ob er in seiner Beziehung ein Idiot ist oder nicht.

Laura Lackmann hat aus dem One-Man-Erfolgsstück „Defending the Caveman“ von Rob Becker einen Ensemble- Film gemacht, ein Stoff, der schon ganz viele Jahre auf dem Buckel hat. Seit 1991 haben etwa 14 Millionen Menschen in zig Ländern die klischeebeladene Geschlechterkomödie gesehen. Bobbys Stand-up Auftritt bildet den erzählerischen Rahmen für die unterschiedlichen Auftritte der Schauspieler:innen um Bleibtreu und Tonke herum, wie Wotan Wilke Möhring, der Bobbys besten Freund spielt, der eine Cunnilingus-App erfunden hat, Thomas Herrmanns, der sich selbst spielen darf, Jürgen Vogel, Martina Hill und Guido Maria Kretschmer, der sich auch selbst spielen darf.

Schade eigentlich, dass so viele wohlbekannte Plattitüden übernommen wurden, wie: „Wenn man unfähig ist zu Shoppen, ist man kein richtiger Mann“, oder „Man guckt nicht in die Handtasche einer Frau“, „Männer reden weniger als Frauen“, „Frauen haben immer verständnisvolle Freundinnen und sammeln Schuhe“ u.s.w. ... Behauptungen, die viele von uns bestätigen können (oder auch nicht) und die in schon so manchen Komödien verarbeitet wurden. Interessanter wäre es gewesen die Filmadaption einer neuen Generation anzupassen, in dem man vielschichtigeres und klügeres Material findet, welches die junge Generation mit ihren Macken zeigt.

Zumindestens ist es mutig von Laura Lackmann („Mängelexemplar“) mit Bobby einen Comedian zu zeigen, der nicht lustig ist. Naja, über Humor lässt sich ja nun mal streiten. Ich bin überzeugt, bei dieser Ausgabe von „Caveman“ werden sich viele Zuschauer köstlich amüsieren oder auch nachdenklich gestimmt werden.

Und das ist auch gut so.
Ulrike Schirm


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