Großartige Filme aus Finnland, Deutschland, Georgien, Italien, Rumänien und den USA im Kino
Unsere Filmkritiken zu neuen Kinostarts in der 47 KW des Dezembers 2022. Darunter auch die echt toll geschnittene Doku über Angela "MERKEL".
Der finnische Regisseur Mika Kaurismäki, Bruder des noch bekannteren und preisgekrönten Filmemachers Aki Kaurismäki, lebt zwar seit den 1990er Jahren in Brasilien und auch Aki Kaurismäki ist fast zur gleichen Zeit nach Portugal ausgewandert, weil, wie er sagt: „es in ganz Helsinki keinen Platz mehr gebe, wo er seine Kamera noch postieren könne“. Dennoch greifen beide Brüder, auch unabhängig voneinander, immer wieder finnische Themen in ihren Filmen auf.
"GRUMP" Komödie von Mika Kaurismäki nach einem Roman von Thomas Kyrö über einen trotzigen alten Finnen, der sich auf einen emotionalen Roadtrip durch Deutschland begibt. (Finnland, 2022; 109 Min.) Mit Heikki Kinnunen, Kari Vaananen, Ville Tiihonen u.a. und in einer Gastrolle der Sänger Samu Haber. Seit 24. November 2022 im Kino. Hier der Trailer:
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Altbundeskanzlerin Angela Merkel war im Dezember 2021 offiziell aus ihrem Amt ausgeschieden. Sie hätte sich eine friedlichere Zeit nach ihrem Abschied gewünscht, doch ihr fehlte die Kraft, sich durchzusetzen. Wenige Monate davor, im August, war sie zu einem Abschiedsbesuch zu Putin nach Moskau gereist. „Das Gefühl war ganz klar: ‚Machtpolitisch bist du durch.‘ Für Putin zählt nur Power“, sagte sie weiter. Der großartige geschnittene Dokumentarfilm zeigt noch einmal die Stationen ihres Lebens mit Tief- und Höhepunkten.
"MERKEL" – Macht der Freiheit" Dokumentarfilm von Eva Weber (Deutschland / Großbritannien, 2022; 95 Min.) Seit 24. November 2022 im Kino. Hier der Trailer:
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"WET SAND" atemberaubendes Drama aus Georgien über Homophobie von Elene Naveriani (Georgien / Schweiz, 2021; 114 Min.) Mit Bebe Sesitashvili, Gia Agumava, Megi Kobaladze u.a. seit 24. November 2022 im Kino sowie zuvor bereits als exklusive Preview auch in der bundesweiten Queerfilmnacht von Salzgeber. Hier der Trailer:
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Ein Kannibalen-Horror-Film von dem italienischen Regisseur Luca Guadagnino mit einer bezaubernden Taylor Russel in einer Hauptrolle an der Seite des jungen Superstars Timothée Chalamet ist keine Parodie, sondern eine gesellschaftliche Anklage und ein Bekenntnis zur absoluten Liebe ohne Wenn und Aber, frei nach der Redensart "ich hab dich zum Fressen gerne", die einem schon in den Dracula-Geschichten oder in Grimms Märchen begegnen. Der Film basiert auf dem gleichnamigen Jugendbuch von Camille DeAngelis.
"BONES AND ALL" Ein romantisches Drama und mitreißender Mix aus verschiedenen Filmgenres von Luca Guadagnino. (Italien / USA, 2022; 132 Min.) Mit Taylor Russel, Timothée Chalamet, Mark Rylance, Chloe Sevigny, Michael Stuhlbarg u.a. seit 24. November 2022 im Kino. Hier der Trailer:
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Nach "WET SAND" aus Georgien handelt auch der rumänische Film "POPPY FIELD" (engl. für Mohnfeld) das Thema Homophobie durch Ultrakonservative ab, die anlässlich der Vorführung eines Lesbenfilms solange gewaltsam protestieren, bis die Situation außer Kontrolle zu geraten scheint...
"POPPY FIELD" Drama von Eugen Jebeleanu über einen schulen rumänischen Polizisten, der seine Homosexualität vor Kollegen verbergen muss. (Rumänien, 2020; 81 Min.) Mit Conrad Mericoffer, Alexandru Potocean, Radouan Leflahi u.a. seit 24. November 2022 im Kino. Hier der Trailer:
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Nach zwei Filmen über Homophobie nun zum Schluss unserer Besprechungen in dieser Woche noch einer, der das Thema Rassismus in den USA abhandelt.
"ZEITEN DES UMBRUCHS" (OT: "Armageddon Time") Drama von James Gray über die verlorene Jugendfreundschaft zwischen einem weißen und einem schwarzen Jungen. (USA, 2022; 115 Min.) Mit Banks Repeta, Anne Hathaway, Jeremy Strong, Anthony Hopkins, Jaylin Webb u.a. seit 24. November 2022 im Kino. Hier der Trailer:
Der finnische Regisseur Mika Kaurismäki, Bruder des noch bekannteren und preisgekrönten Filmemachers Aki Kaurismäki, lebt zwar seit den 1990er Jahren in Brasilien und auch Aki Kaurismäki ist fast zur gleichen Zeit nach Portugal ausgewandert, weil, wie er sagt: „es in ganz Helsinki keinen Platz mehr gebe, wo er seine Kamera noch postieren könne“. Dennoch greifen beide Brüder, auch unabhängig voneinander, immer wieder finnische Themen in ihren Filmen auf.
"GRUMP" Komödie von Mika Kaurismäki nach einem Roman von Thomas Kyrö über einen trotzigen alten Finnen, der sich auf einen emotionalen Roadtrip durch Deutschland begibt. (Finnland, 2022; 109 Min.) Mit Heikki Kinnunen, Kari Vaananen, Ville Tiihonen u.a. und in einer Gastrolle der Sänger Samu Haber. Seit 24. November 2022 im Kino. Hier der Trailer:
Ulrikes Filmkritik:
Da hat der griesgrämige „Grump“ sich in seinem Auto, ein Ford Escort Jahrgang 1972, kurz ablenken lassen und schon landet er im Straßengraben. Als der verbitterte Mann (Heiki Kinnunen) erfährt, daß es sich nicht gelohnt hat, das Auto zu reparieren, ist er wütend. Angeblich war das Auto eh nur noch Schrott und einen Führerschein hat er nun auch nicht mehr. In der Sauna erzählt der 72-jährige Witwer traurig, daß er sich nicht einmal von seinem Auto verabschieden konnte, bevor es in der Schrottpresse landete. Das Auto war das Einzige, was ihm noch Freude bereitete. Seine beiden Söhne, die in Helsinki mit ihrer jeweiligen Familie leben, sieht er nur ganz selten.
Seine verzweifelte Suche nach dem gleichen Modell führt den „Grump“ von seinem ländlichen Wohnort in Finnland nach Deutschland. Seit dem Tod seiner Frau hat er seine ziemlich heruntergekommene Farm kaum verlassen. Es wird eine Reise voller Abenteuer. Schon bei der Bank ist alles ganz anders, als er es gewohnt ist. 20.000 Euro will er für den Kauf eines „neuen“ 72er Ford Escort abheben, er kann das Geld aber erst in zwei Tagen bekommen. Am Flughafen ist er erstaunt über die neuen Sicherheitsmaßnahmen.
In Hamburg angekommen stellt er fest, dass er den Zettel mit der Nummer Escort-Verkäufers verloren hat. Der Taxifahrer fragt ihn, was denn los sei. Der „Grump“: „Ich brauche einen Escort“. Er bringt ihn zu einer Escort-Vermittlung. Eine Prostituierte empfängt ihn. Völlig verwirrt haut er ab und setzt sich erst einmal mit seinem Köfferchen, in dem auch das Geld ist, an den Hamburger Hafen. Er wird von zwei fremden Männern zusammengeschlagen, landet im Krankenhaus, sein Koffer ist noch da, das Geld ist weg. Ab jetzt taucht Regisseur Mika Kaurismäki in die Familiengeschichte des „Grantlers“ ein. Sein Bruder Tarmo (Kari Väänänen), den er vor 50 Jahren zum letzten Mal gesehen hat, wurde vom Konsulat angerufen und ins Krankenhaus bestellt. Er hatte damals Bruder und Eltern plötzlich verlassen.
Er geht mit ihm zu seinem Wohnmobil, immerhin billiger als eine Pension. Wie sich die beiden Brüder auf ihrem Roadtrip von Hamburg, Köln und Magdeburg langsam annähern, über ihre Kinder und ihre Sorgen reden und was damals der Auslöser war, warum Tarmo sich auf und davon gemacht hat, erzählt Kaurismäki mit seiner bekannten anrührenden Empathie für außergewöhnliche und absurde Charaktere, ohne sie bloßzustellen und immer mit einer Portion Humor und Freude am Absurden.
Wenn man auf seine bisherigen Filme zurückschaut („Master Cheng in Pohjanjoki“, „Eine Nacht in Helsinki“, u.v.m.) erkennt man, das trotz aller Tragik, seine Figuren, und seien sie auch noch so gegensätzlich, auf harmonische Weise zueinander finden. So auch hier in seinem kuriosen und emotionalem Selbstfindungstrip: "GRUMP". Fans des finnischen Rocksängers und Gitarristen Samu Haber werden ihre Freude haben. Er spielt sich selbst in einer kleinen Rolle.
Ulrike Schirm
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Altbundeskanzlerin Angela Merkel war im Dezember 2021 offiziell aus ihrem Amt ausgeschieden. Sie hätte sich eine friedlichere Zeit nach ihrem Abschied gewünscht, doch ihr fehlte die Kraft, sich durchzusetzen. Wenige Monate davor, im August, war sie zu einem Abschiedsbesuch zu Putin nach Moskau gereist. „Das Gefühl war ganz klar: ‚Machtpolitisch bist du durch.‘ Für Putin zählt nur Power“, sagte sie weiter. Der großartige geschnittene Dokumentarfilm zeigt noch einmal die Stationen ihres Lebens mit Tief- und Höhepunkten.
"MERKEL" – Macht der Freiheit" Dokumentarfilm von Eva Weber (Deutschland / Großbritannien, 2022; 95 Min.) Seit 24. November 2022 im Kino. Hier der Trailer:
Ulrikes Filmkritik:
Für ihr Filmprojekt über Angela Merkel interviewte Eva Weber nicht nur Menschen, die sie gut kannten, sondern auch Journalisten und eine Vielzahl von Wegbegleiter*innen, wie Hillary Clinton, Tony Blair und… viele mehr. Fast die gesamte Weltöffentlichkeit hat sich eine Meinung über Angela Merkel gebildet. Umfangreiches Archivmaterial vervollständigt ihren Werdegang.
Chronologisch geht Eva Weber nicht vor. Ziemlich am Anfang sieht und hört man Trump mit seiner Bemerkung: „Sie ist dabei Deutschland zu zerstören.“ Etwas später faselt er: „I like her, I like her. I hope, sie mich auch.“ Man erinnert sich noch, wie er es vermied, ihr beim ersten Treffen, die Hand zu geben.
Geboren wurde Angela Merkel am 17. Juli 1954 als Angela Dorothea Kasner in Hamburg. Aufgewachsen ist sie und ihre zwei jüngeren Geschwister in Templin, da ihr Vater, der Theologe Horst Kasner in seiner Heimatstadt Templin Pfarrer sein wollte. Ihre Mutter Herlind Kasner war Lehrerin. Dass sie einmal zu einer der erfolgreichsten Politikerinnen der Welt wurde, ahnte wohl niemand in der Familie. (Wen es interessiert: Ihr Sternzeichen ist Krebs). Ihre Mutter erzählt, dass sich Angela früher schwer wehren konnte. Wenn sie als Kind gehauen wurde, rannte sie weg. Als sie dreizehn war, hat ein Mitschüler sie so gestört, daß sie ihm plötzlich eine Ohrfeige gegeben hat. Da wußten wir, daß sie es endlich gelernt hat, sich zu wehren.
Was man ihr in ihren vier Amtszeiten zugutehalten kann, sie hat sich nie in den Mittelpunkt gestellt, ist durch Bescheidenheit aufgefallen und war in keinen Skandal verwickelt. Für sie war es immer wichtig, dass Widerspruch laut sein muss. Ihre erste politische Erinnerung in der DDR ist der Mauerbau am 13. August 1961. Ihr Vater hatte Gottesdienst und alle Menschen haben geweint. 1987 ruft Reagan am Brandenburger Tor: „Mr. Gorbatschow, please open this gate!“
1989 war es dann so weit. Merkel war in der Sauna an diesem Abend, ein Moment, der vielen die Tränen in die Augen trieb. Jeder bekam die Möglichkeit zum Aufbruch. Merkel: „Das habe ich genutzt. Ich bin in die Politik gegangen, um etwas Neues gestalten zu können. 40 bittere Jahr der Teilung sind vorbei.“
Sie betritt den westlichen Boden des wiedervereinigten Deutschlands und wird Teil der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl, Gewinner Helmut Kohl, der sie als Ministerin für Frauen und Jugend in sein Kabinett holt. Noch wirkte sie etwas schüchtern. Der Begriff: „Kohls Mädchen“ machte schnell die Runde, auch dass sie sein Ziehkind sei. „Ob sie damals genau wusste, was für ein Männerverein diese CDU ist und was das für sie bedeutet,“ wurde sie gefragt.
Ob sie gerne geschminkt wird, war auch eine der Fragen. „Ja, sie wird gerne geschminkt aber nicht gerne retuschiert“. Sie war Mitte dreißig als sie ihren Aufbruch zur Freiheit aber auch zur Macht wagte. In unglaublich kurzer Zeit ist sie ganz oben. Hillary Clinton in einer Talkshow: „Sie hat immer die Erwartungsmöglichkeit so niedrig wie möglich angesetzt. Was sehr geschickt von ihr war.“ Ihr oberstes Prinzip war immer der Erhalt und Ausbau des Wohlstandes in Deutschland.
„Merkel – Macht der Freiheit“ ist ein durchweg freundliches Portrait der langjährigen Bundeskanzlerin, die mit einem köstlichen Humor gesegnet ist, der sich durch den gesamten Film schlängelt und ihn unterhaltsam macht.
Was ich an ihr nicht ausstehen konnte: Sie hat die französische rechts- und links Küsserei zwischen den Staatsmächtigen eingeführt. Schrecklich. In der Politik gibt es keine wahren Freundschaften.
Andererseits hat sie es auch verstanden, einige, die ihr nicht passten, gnadenlos zu schassen. Die kommen hier leider nicht zu Wort.
Der Film ist fragmentarisch gestaltet und mit spannendem Archivmaterial untermauert.
Ulrike Schirm
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"WET SAND" atemberaubendes Drama aus Georgien über Homophobie von Elene Naveriani (Georgien / Schweiz, 2021; 114 Min.) Mit Bebe Sesitashvili, Gia Agumava, Megi Kobaladze u.a. seit 24. November 2022 im Kino sowie zuvor bereits als exklusive Preview auch in der bundesweiten Queerfilmnacht von Salzgeber. Hier der Trailer:
Ulrikes Filmkritik:
Amnon besitzt ein kleines Café direkt am Strand des Schwarzen Meeres in Georgien in einem winzigen Fischerdorf. Es trägt den Namen „Wet Sand“. Fleshka (Megi Kobaladze), eine junge Frau arbeitet dort. Drei Männer sitzen auf der Terrasse, vor sich ein Brettspiel und regen sich über das Bier auf. Es wird der Tag der Familie gefeiert, ersetzt durch den Tag der Homophobie.
Viel ist nicht los, als eine Gruppe Kinder angerannt kommen die laut rufen, dass ein Mann, Eliko, Stammgast von Amnon, tot sei. Er hat sich in seiner Küche erhängt. Er gehörte zu den Außenseitern im Dorf. Leiden konnte ihn niemand. Amnon erzählt, dass er schon lange nicht da war, dass er wohl eine Familie habe, die sich aber nicht um ihn kümmere. Es wird wohl eine Autopsie gemacht. Die Ortsbewohner debattieren, wer ihn denn nun beerdigen soll. Fast alle sprechen abfällig über ihn. Bis auf Amnon will keiner ihn beerdigen. Er soll wohl arrogant gewesen sein. Seine Enkelin Moe (Bebe Sesitashvili) reist aus Tiflis an, um Amnon bei den Beerdigungsvorbereitungen zu helfen. Sie treffen sich vor der Bushaltestelle und gehen gemeinsam zum Haus des Verstorbenen. Amnon ist auffällig ruhig und wirkt nachdenklich.
Der Verstorbene war Matrose, hatte auf See einen Unfall und hinkte seit dem.
Fleshka ist gekommen, sie soll Kleidung für den Toten aussuchen. Die Kleidung ist auffällig. Ein violettfarbenes Jackett und eine sonnengelbe Hose.
Der Leichnam ist zurückgebracht worden. Amnon bahrt den Toten auf. Liebevoll streicht er über dessen Hände, über den Kopf und küsst ihn auf den Mund. Später kommt der Polizist Alex (Giorgi Tsereteli) im Café vorbei und spricht sein Beileid aus. Fleshka verhält sich merkwürdig. Sie stellt ihm wortlos einen Kaffee hin und geht wieder rein. Er erzählt Moe, dass sie ihn wohl mag. Es heißt, sie lebe in einem falschen Körper. Er mag solche Frauen nicht, die in einem falschen Körper geboren sind. Die Ortsbewohner singen, Amnon sondert sich ab. Fleshka und Moe sitzen in der Dunkelheit am Strand.
Moe: „Man sagt, Menschen, die am Meer leben, sind glücklicher.“ „Dann zieh doch her. Du hast ja hier ein Haus.“
Moe, die die zärtliche Verabschiedung von Amnon bei dem Toten mitangesehen hat, fragt ihn ob er in Eliko verliebt gewesen sei. Amnon erzählt ihre Kennlern-Geschichte. „Wir mussten uns immer verstecken… Je mehr Amnon erzählt, desto mehr nimmt sie wahr, dass sie im Dorf auf ein Netz von Lügen, Geheimnissen und Anfeindungen gestoßen ist.
Elene Naveriani erzählt das Drama in ruhigen, langen Einstellungen, gibt den Außenseiter*innen des ländlichen Georgiens eine Stimme: Ein filmisches Manifest gegen Homophobie.
Erst als Amnon sein Schweigen bricht, scheint ein Neuanfang möglich zu sein. Die Situation um Eikos Beerdigung spitzt sich immer mehr zu. Moe und Fleshka versuchen das Beste gegen dieses in der konservativen , georgischen Gesellschaft tief verankerte, menschenverachtende Verhalten zu tun. „Eure Regeln treiben Menschen in den Selbstmord“ ruft Moe laut. Sie hat sich entschlossen zu bleiben. Fleshka und Moe setzen ein Zeichen. Sie tun das einzig Richtige gegen politisch instrumentalisierte Homophobie. Chapeau!.
Seine Premiere feierte „Wet Sand“ in Locarno, wo Hauptdarsteller Gia Agumava in der Rolle des Amnon, als bester Schauspieler ausgezeichnet wurde.
Ulrike Schirm
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Ein Kannibalen-Horror-Film von dem italienischen Regisseur Luca Guadagnino mit einer bezaubernden Taylor Russel in einer Hauptrolle an der Seite des jungen Superstars Timothée Chalamet ist keine Parodie, sondern eine gesellschaftliche Anklage und ein Bekenntnis zur absoluten Liebe ohne Wenn und Aber, frei nach der Redensart "ich hab dich zum Fressen gerne", die einem schon in den Dracula-Geschichten oder in Grimms Märchen begegnen. Der Film basiert auf dem gleichnamigen Jugendbuch von Camille DeAngelis.
"BONES AND ALL" Ein romantisches Drama und mitreißender Mix aus verschiedenen Filmgenres von Luca Guadagnino. (Italien / USA, 2022; 132 Min.) Mit Taylor Russel, Timothée Chalamet, Mark Rylance, Chloe Sevigny, Michael Stuhlbarg u.a. seit 24. November 2022 im Kino. Hier der Trailer:
Ulrikes Filmkritik:
In „Bones and All“ begleitet der italienische Regisseur Luca Guadagnino ("CALL ME BY YOUR NAME", "SUSPIRIA", "A BIGGER SPLASH") zwei junge Kannibalen auf ihrer Sinnsuche durch das Ronald Reagan Amerika im Jahr 1988.
Die Teenager Maren Yearly (Taylor Russell) und Lee (Timothée Chalamet ) verbindet ein Geheimnis, das sie zwingt, außerhalb der Gesellschaft und ihrer Familien zu leben. Sie sind Kannibalen, bei ihr sozusagen von der Mutter vererbt, bei ihm vom Vater in die Wiege gelegt.
Maren wohnt mit ihrem Vater (André Holland) in einem heruntergekommenen Trailerpark in einer Kleinstadt von Virginia. Wo ihre Mutter ist, hat ihr der Vater nie erzählt.
Mitten in der Nacht büxt sie aus, um ihre Freundinnen auf einer Pyjamaparty zu treffen. Sie reden über Schminke, Klamotten, über Dinge die Teenies so interessieren. Maren kuschelt mit einem der jungen Mädchen, lutscht zärtlich an ihrem Mittelfinger, plötzlich beißt sie zu. Vom Finger bleibt nur noch ein Stück Knochen übrig.
Dieser kurze Schockmoment ist der Auftakt zu einem Kannibalenfilm, in dem es in einigen Szenen durchaus drastisch zu geht aber im Großen und Ganzen ist „Bones and All“ ein zärtliches Coming-of-Age-Roadmovie über zwei junge Außenseiter, von der Sehnsucht geprägt, einfach nur ein Mensch zu sein.
Maren erzählt ihrem Vater, was sie wieder getan hat. Es dauert nicht lange bis auch ihr Vater, der sich um sie kümmerte, endgültig weg ist. Er hält es nicht mehr mit ihr aus. Er hat ihr eine Tonkassette, die er besprochen hat, und ihre Geburtsurkunde da gelassen. Auf der Kassette erzählt er die Geschichte der Familie. Schon mit drei Jahren hat Maren ihr Kindermädchen getötet und mit acht Jahren einen Jungen im Feriencamp. Er kann es nicht länger ertragen, mit ihr zusammen zu sein. “You got clever. So fucking clever.“
Aus der Geburtsurkunde geht hervor, dass ihre Mutter in Minnesota geboren wurde. Sie begibt sich mit dem Bus auf eine Reise durch die USA, auf der Suche nach der Mutter, um herauszufinden wer und was sie ist. Unterwegs trifft sie nachts an einer einsamen Busstation einen alten merkwürdigen Mann (Mark Rylance), der sich Sully nennt. Auch einer von den sogenannten „Essern“, die es in den USA reichlich gibt, behauptet er. Sie erkennen sich untereinander, indem sie sich riechen, sonst aber unerkannt bleiben. „Ich habe meinen eigenen Großvater gegessen, während wir auf die die 'undertaker' warteten. Doch es gehört zu unserem Prinzip, never eat an eater.“
Auf ihrer Suche nach Antworten trifft sie auf Lee (Timothée Chalamet) ein auf den ersten Blick ganz normaler Teenager der Musik von der Hard-Rock-Band »Kiss« hört („Lick it up“), aber, der wie sie ein 'Eater' ist und genau wie sie, ab und zu seinem kannibalischen Trieb nachgehen muss, aber nur böse Menschen frisst. Zusammen reisen sie kreuz und quer durch Amerika. Dabei treffen sie auf weitere 'Eater', deren Trieb so weit geht, ihre Opfer gänzlich zu fressen.
Eigentlich sind es freundliche Wesen, mit ganz normalen Problemen deren Trieb durch Vererbung übertragen wird. Der charismatische Lee wird ihr Freund und Lover. Getroffen haben sich zwei Außenseiter die aneinander Halt suchen, inmitten einer öden Provinz, auf sich allein gestellt, immer mit der Angst, dass ihre Veranlagung entdeckt wird und damit die Schwierigkeiten ihrer Existenz als 'Außenseiter' zunehmen.
„Bones and All“ ist ein Mix aus verschiedenen Genres und Themen und zeigt ein erschreckendes Amerika, versetzt mit heftigen Splatterszenen und dem zärtlichen Zusammenspiel der beiden Teenager mit ihren blutverschmierten Küssen, die im ersten Moment verstörend wirken. Eigentlich eine einfache Geschichte, unkonventionell erzählt und großartig gespielt.
Taylor Russel überzeugte schon in dem Jugendfilm „Waves“ und Chalamet ist aus dem Filmgeschäft nicht mehr wegzudenken.
Der politische und gesellschaftliche Hintergrund erinnert an die wunderbaren Filme "NOMADLAND" und "TROUBLE EVERY DAY" mit Vincent Gallo und Béatrice Dalle.
Ulrike Schirm
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Nach "WET SAND" aus Georgien handelt auch der rumänische Film "POPPY FIELD" (engl. für Mohnfeld) das Thema Homophobie durch Ultrakonservative ab, die anlässlich der Vorführung eines Lesbenfilms solange gewaltsam protestieren, bis die Situation außer Kontrolle zu geraten scheint...
"POPPY FIELD" Drama von Eugen Jebeleanu über einen schulen rumänischen Polizisten, der seine Homosexualität vor Kollegen verbergen muss. (Rumänien, 2020; 81 Min.) Mit Conrad Mericoffer, Alexandru Potocean, Radouan Leflahi u.a. seit 24. November 2022 im Kino. Hier der Trailer:
Ulrikes Filmkritik:
Polizist Cristi hat seinen Lover Hadi aus Paris zu Besuch, als seine Einheit in ein Kino gerufen wird, indem homophobe Ultrakonservative protestieren.
Hadi schlägt ihm vor, ein paar Tage zu verreisen. Cristi zögert, am Wochenende seien die Straßen voll. Auch Cristis Schwester, die kurz vorbei gekommen ist, findet die Idee etwas Schönes zu unternehmen auch gut. Cristi soll doch nicht so ein Langweiler sein. Sie ärgert sich über die Unfreundlichkeit ihres Bruders und geht.
Cristi arbeitet bei einer Art militärischer Polizeistaffel und muß seine Homosexualität verbergen. Er erfindet immer wieder neue Freundinnen. Ein Grund, warum es ihm schwer fällt, entspannt zu sein.
Seine Einheit wird in ein Kino gerufen, indem Konservative gegen einen, in ihren Augen, unmoralischen, lesbischen Film protestieren. Es stehen sich gegenüber wütende Zuschauer, die den Film sehen wollen und eine Meute von Schwulenhassern.
„Gott schuf den rumänischen Mann nicht als Homosexuellen“, ruft einer. Cristi schaut sich das Gezeter wortlos mit an und sondert sich ab. Ein Kollege gesellt sich zu ihm und raucht eine Zigarette.
Ein junger Typ kommt auf Cristi zu, offensichtlich kennen sich die beiden, ein alter Bekannter, der droht, ihn zu outen. Cristi schickt ihn weg. Die Situation eskaliert. Es kommt zu einer Prügelei. Der Typ hatte Sex mit Cristi, wenn der Junge die Wahrheit über Cristis Veranlagung erzählt, kann er einpacken. Wer weiß, ob seine Kollegen nicht schon längst etwas ahnen. Ein Kollege, der dazwischen geht, beschimpft ihn auch noch, weil er eine Prügelei angefangen hat. Er sorgt dafür, dass Cristi vorerst in dem inzwischen leeren Kinoraum verbleibt, um sich zu beruhigen. Draußen zeigt der Typ seine Verletzungen. Cristi will unbedingt raus, um zu hören, was der womöglich erzählt. Die Ungewissheit ist unerträglich.
In einem Kammerspiel von begrenzten 24 Stunden, inszeniert der rumänische Regisseur Eugen Jebeleanu den inneren Kampf eines Mannes in einem toxischen männlichen Umfeld mit eindringlicher Intensität. Mit einer positiven Erfahrung geht Cristi in seinen Feierabend, denn nicht alle Kollegen sind ihm feindlich gesonnen. Hauptdarsteller Conrad Mericoffer macht seinen inneren Konflikt mit dezenten Blicken und Gesten nach außen hin sichtbar.
Ulrike Schirm
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Nach zwei Filmen über Homophobie nun zum Schluss unserer Besprechungen in dieser Woche noch einer, der das Thema Rassismus in den USA abhandelt.
"ZEITEN DES UMBRUCHS" (OT: "Armageddon Time") Drama von James Gray über die verlorene Jugendfreundschaft zwischen einem weißen und einem schwarzen Jungen. (USA, 2022; 115 Min.) Mit Banks Repeta, Anne Hathaway, Jeremy Strong, Anthony Hopkins, Jaylin Webb u.a. seit 24. November 2022 im Kino. Hier der Trailer:
Ulrikes Filmkritik:
Anfang der 80er, in Queens, New York, kurz bevor Ronald Reagan die Präsidentsschaftswahl gewinnt. Der elfjährige Paul Graff (hinreißend Michael Banks Repeta), der am liebsten zeichnet, wächst in einer jüdisch-ukrainischen Mittelschichtsfamilie auf. Sein Großvater Aaron (Anthony Hopkins) hat dafür gesorgt, den ursprünglich ukrainischen Nachnamen zu amerikanisieren, um nicht unnötig aufzufallen. Aaron ist es, der in der Familie Pauls künstlerisches Talent anerkennt und fördert.
Sein leicht cholerischer Vater Irving (Jeremy Strong) ist als Kleinunternehmer unterwegs in dem er Klempnerarbeiten verrichtet und seine ihn überbeschützende Mutter Esther (Anne Hathaway) engagiert sich im Elternbeirat seiner Schule.
Während Pauls älterer Bruder Ted (Ryan Sell) eine Privatschule besucht, geht der verträumte Paul in die sechste Klasse einer staatlichen Schule. Angefreundet hat er sich mit dem neuen Sitzenbleiber John (Jaylin Webb), dem einzigen Schwarzen in seiner Klasse, der aus prekären Familienverhältnissen kommt und bei seiner dementen Großmutter lebt. Schon am ersten Schultag fällt Paul unangenehm auf, als er eine Karikatur des Lehrers zeichnet und sich John kaputt lacht. Damit John bei einem Ausflug ins Guggenheim Museum teilnehmen kann, gibt Paul ihm das Geld dafür. Kurz träumt Paul davon, wie ein berühmter Maler auf einem Podest im Guggenheim gefeiert zu werden.
Als John und Paul auf dem Schulklo beim Kiffen erwischt werden, muss Paul die Schule verlassen, um dem schlechten Einfluss des Afroamerikaners zu entgehen. John hingegen drohen Förderschule und womöglich Pflegeeltern.
Zuhause rastet Pauls Vater aus. Er drischt auf ihn ein. Paul muss jetzt wie ein feiner Pinkel auf die elitäre Privatschule gehen, die auch sein Bruder besucht. Schuluniform und Aktenkoffer sind angesagt. In der Aula werden Ansprachen gehalten , die von einer neuen Elite handeln und überhaupt: "USA, the greatest Country in the whole world." Die Uniform soll den nötigen Respekt für die Schule ausdrücken. Spätestens jetzt hat Paul begriffen, dass er in einem System voller Ungleichheit lebt. Er fühlt sich nicht wohl in seiner Haut.
Paul ist klar, für seinen besten Freund John, ist kein Platz in dieser Welt. Als John am Gitter der neuen Schule erscheint, muss Paul die Freundschaft zu ihm vor seinen Klassenkameraden verleugnen. Paul wird immer bewusster, wie groß die Brüche sind, die durch die Gesellschaft gehen und die auch seine Familie zu spüren bekommt, denn auch für sie ist der amerikanische Traum längst nicht in Erfüllung gegangen.
Seine Freundschaft zu John und die Gespräche mit seinem Großvater (Anthony Hopkins) öffnen seinen Blick und er erkennt, dass die Gleichheitsversprechen des amerikanischen Traums, leere Worthülsen sind.
Von seiner eigenen Biografie inspiriert, erzählt James Gray in „Zeiten des Umbruchs“ über seine Jugend in Queens, vom Erwachsenwerden in einer Gesellschaft die Selbstverwirklichung und Freiheit predigt aber Ausgrenzung und Vorurteile produziert. Unter den gleichaltrigen Schülern auf der elitären Privatschule findet Paul keine Freunde. Sein Großvater hat ihn ermutigt ein aufrichtiger Mensch zu sein, der sich nicht scheut, seine Stimme zu erheben. Diese Schule gibt es wirklich. Gray besuchte sie und Donald Trump ebenfalls. In einem Cameo-Auftritt erscheint Jessica Chastain als Trumps Schwester, die die Jugendlichen auf das Privileg des Neoliberalismus regelrecht einschwört und die später Bundesrichterin wurde. Paul gehört nicht dazu.
Gray hat für seine persönlichsten Film ein Bildsprache gewählt, die mit ihren ausgewaschenen Farbtönen, dem Zuschauer das Gefühl von Vergangenheit vermittelt wie in "Little Odessa" (1994), "The Yards" (2000), "Two Lovers" (2008), "The Immigrant" (2013), "Die versunkene Stadt Z" (2016) und "Ad Astra" (2019). Auch "Zeiten des Umbruchs" (2022) gehört dazu und ist für mich einer der schönsten Filme in diesem Jahr, was ganz stark an Banks Repetas Spiel liegt. Ein warmherziges Drama.
Ulrike Schirm