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Von der Museumsnacht zur Kinokunst - Fazit und zwei aktuelle Filmkritiken

Nach zweijähriger Abstinenz wegen der Corona-Pandemie, stürmten die Besuchenden endlich wieder zahlreiche Ausstellungen.



Mehr als 40.000 Menschen kamen am gestrigen Samstagabend und in der Nacht zu Sonntag in die 70 Museen, wie die Veranstalter mitteilten.

"Comeback gelungen", bilanzierte Kulturprojekte-Geschäftsführer Moritz von Dülmen. Die Erwartungen seien übertroffen worden.


Bei der Langen Nacht am gestrigen 27. August 2022 galt von 18.00 bis 2.00 Uhr ein Ticket für alle Häuser. Dazu gehörten etwa die Museumsinsel, das Humboldt Forum, das Deutsche Historische Museum oder das Technikmuseum, aber auch das Futurium am Hauptbahnhof, bei dem nach unserem Gefühl die Schlange der vornehmlich jüngeren Besucher*innen noch bis spät in die Nacht hinein, am Längsten war.

Hier gab es auch für Kinder viel zu erleben, die eifrig alles ausprobierten, sofern nicht die Müdigkeit bei einigen der jüngeren Gäste nachts um 22:00 Uhr überhand nahm.

Stark besucht war auch die neue Nationalgalerie im Bau von Ludwig Mies van der Rohe, obwohl das musikalische Highlight im endlich wiedereröffneten Skulpturengarten wegen Gewitterwarnung leider abgesagt worden war. Stattdessen spielten DJs vor tanzendem Publikum im leergeräumten oberen Stockwerk, während einige Jugendliche sich an Mikrofon-Mitschnitten mit fast professionellen Equipment versuchten.

Im Untergeschoss drängelten sich die Betrachter*innen um Audioguides, um mehr über die neu gehängten und neu sortierten Kunstobjekte zu erfahren, während deren Kinder sich an Maltischen selbst als junge Künstler versuchten.

Enttäuscht waren wir dagegen von der ersten langen Nacht im Humboldt Forum. Das Restaurant "Baret" auf dem Dachgarten war zwar gut besucht, doch an den leblosen Schaukästen in den Zwischenetagen herrschte teilweise gähnende Leere. Von einer erhofften großartigen Multimedia-Inszenierung war kaum etwas zu sehen. Ganz im Gegenteil empfanden wir die Präsentationen der Ausstellungen wenig gelungen.

Im klimatisierten Foyer lud in dieser langen Nacht zwar ebenfalls ein DJ zum Tanzen oder Chillen unter atmosphärischer Beleuchtung ein, doch die Stimmung unter den Besuchenden war weniger enthusiastisch. Da half auch kein Lichtkonzert, das seine Strahlen weit in den Berliner Nachthimmel schoss, zumal die Dachterrasse zum Ärger vieler bereits um 20:00 Uhr geschlossen wurde.

Nicht mehr geschafft haben wir den Besuch des Jüdischen Museums Berlin, wo anlässlich einer Ausstellung über das Leben Moses Mendelsohns ein musikalischer Gesprächssalon mit Gästen über Fake News, Verschwörungsmythen und Gerüchte stattfinden sollte.

Wir empfehlen im Nachhinein stattdessen den Besuch des großartigen, aber schaurigen Filmes "EVOLUTION" des ungarischen Regisseurs Kornél Mundruczó über Nachfahren des Holocausts.



"EVOLUTION" Drama von Kornél Mundruczó in dem drei verschiedene Generationen einer Familie mit dem Holocaust konfrontiert werden. (Deutschland / Ungarn 2021, 100 Min.). Mit Lili Monori, Annamária Láng, Goya Rego u.a. seit 25. August 2022 im Kino. Hier der Trailer:



Synopsis:
Evolution begleitet eine jüdische Familie von 1945 an bis in die Gegenwart: In drei Teilen wird ihre Geschichte mit Blick auf die Nachwirkungen des Holocaust-Traumas erzählt. Vor allem in der dritten Episode weiß der musikalisch begnadete Jónás, Enkel der Holocaust Überlebenden Großmutter Éva, so gut wie nichts von seiner Vergangenheit und Herkunft.


Elisabeths Filmkritik:

Eine Tür öffnet sich während die Kamera sich im lichtlosen Raum befindet. Ein Mann mit zwei Eimern kommt herein. Er bleibt stehen und die Kamera zeigt seine Reaktion auf den Raum. Ein zweiter Mann kommt hinzu und noch einer. Da ist nichts in dem Raum. Dieses Nichts ist schwer und bedrückend. Die emotionale Erschütterung mündet in blankes Entsetzen. Denn der Raum lässt sich nicht reinigen. Erst durch den Kontext erfährt der Zuschauer, wo diese Männer sich befinden. Ein Kratzen an der Wand. Ein Haar wie aus einem Ausfluss lässt sich abziehen. Dann noch mehr Haare. Der Ort bewirkt einen surrealen Schock, der sich so lange potenziert, bis nur noch das Heulen eines Kindes zu hören ist. Aus dem Boden, unter den Platten, finden die Männer ein Kind und mit dem Kind verlassen wir den Raum und kommen in eine graue und kalte Welt. Wir sehen russische Soldaten vor Ort und Hilfskräfte kümmern sich und die Kamera bringt das Kind fort, nicht ohne uns noch das Lager aus der Totalen zu zeigen.

Ein kurzer, heftiger Einstieg in Plansequenz in eine Handlung, die vom Trauma und von Bewältigung handelt. Die Evolution ergibt sich aus der Bewältigung, die jedoch Generationen braucht. Das enge Bild hält die Kamera bei. Auch wenn wir sogleich an einem anderen Ort zu einer anderen Zeit eintreffen. Denn rund 70 Jahre springt die Geschichte fast in die Jetztzeit. Das Kind ist inzwischen eine alte Frau mit Ansätzen von Demenz, die auf ihre Tochter trifft, die für ihren Sohn Dokumente braucht, die seine Abstammung beweisen.

Der ungarische Regisseur Kornél Mundruczó ("Delta", "Underdog", "Jupiter's Moon") und seine Partnerin und Drehbuchautorin Kata Wéber haben "Evolution" zuerst als Theaterstück konzipiert und mit ihrer unabhängigen Theatergruppe Proton 2019 auf der Ruhrtriennale in Bochum aufgeführt. 2020 hatte der Sender arte die Aufführung ausgestrahlt. "Evolution", der Film, eine ungarisch-deutsche Koproduktion von Proton Cinema und Match Factory, Mundruczó und Wéber leben inzwischen in Deutschland, debütierte letztes Jahr in Cannes, wurde auf dem Filmfest Hamburg gezeigt und befand sich dieses Jahr auch im Programm des jüdischen Filmfestes Berlin Brandenburg.

Kata Wéber hat Gespräche mit ihrer Mutter in diesem Stück verarbeitet. In dem zweiten Teil verhandelt der Film genau diese Gespräche. Die Generation der Überlebenden trifft auf die Generation, die nicht nur überleben will, denn sie gehört der Generation an, die nicht mehr überleben musste. Diese Generation will aber auch leben. Nicht die Shoah selbst steht in "Evolution" im Mittelpunkt. Das erste Kapitel des Dreiteilers ist auch die kürzeste, sondern die Verarbeitung des Traumas des Überlebens hin zu einem Leben.

Éva, gespielt von Lili Monori, die einst dieses gerettete Kind war, trifft hier in einer Küche in Budapest auf ihre angereiste Tochter Léna (Annamária Láng). Dieser Teil ist nicht ausschließlich Dialog. In diesem heftigen Zwiegespräch wird die Beziehung von Mutter und Tochter ausgehandelt. Es entblößt sich der schiere Wille, das KZ zu überleben, während die Tochter es leid ist, diesen Willen fortzuführen. Es ist die schiere Last, das Leid immer wieder beweisen zu müssen, was der Tochter übel aufstößt. Éva, die Überlebende, will nichts beweisen, sie braucht keinen Beweis und sie will für das Leid auch keine Anerkennung, keinen Preis und kein Preisgeld erhalten. Auflösen kann man diese Tragik nicht. Nicht nur gefühlt, ergießt sich die Vergangenheit und der Schmerz auf diese zweite Generation.

Erst im dritten Teil ist es überhaupt möglich, sich von dem Trauma der Vorangegangenen zu lösen. Aus der Enge der Wohnung geht es hinaus. Inzwischen ist Lénas Sohn Jónás (Goya Rego) in der Schule und ob seiner Herkunft und seiner Religion, die er für sich selbst noch gar nicht ausgehandelt hat, wobei es bereits ein Fortschritt ist, dass er das überhaupt aushandeln darf, muss er sich in der Schule mit Anfeindungen und versteckten Antisemitismus herumschlagen.

Die Kamera folgt ihm in der Bewegung, durch seinen Alltag. Es sind nicht nur die Mitschüler, die ihn mobben, sondern die Lehrerin, die tiefer verwurzelte Verletzungen als Jugendstreiche abtut und damit Jónás Position für seine Mutter und einem Großteil des Publikums, sicherlich, unerträglich macht. Inwieweit Jónás die Verletzungen seiner Familie weitertragen wird, bleibt offen. Er sucht nicht den Dialog mit den Peinigern, er wirft den Kuchen, den seine Mutter noch als Entgegenkommen gebacken hat, einfach weg.

Kornél Mundruczó und Kata Wéber zeigen uns nur die Bemühungen, diese von Generation zu Generation vererbten Traumata zu heilen und zu überwinden. Das kann nur ein Weg sein. Diesen Weg folgt der Film.

Elisabeth Nagy


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Für die Besprechung des nachfolgenden Dramas haben wir soeben eine aktuelle Meldung von der ZOOM Medienfabrik hereinbekommen, die für manche Lesende zum Besuch des Filmes durchaus relevant sein könnte.

Verena Altenberger, die junge Darstellerin, in die sich der Hauptprotagonist von "Märzengrund" verliebt, hat am heutigen Abend des 28. August 2022 beim Festival des Deutschen Films – vor über 2.000 Gästen in Ludwigshafen am Rhein den »Preis für Schauspielkunst« in Empfang genommen.

"MÄRZENGRUND" Drama von Adrian Goiginger (Österreich, 2022, 110 Min.). Mit Jakob Mader, Johannes Krisch, Gerti Drassl u.a. seit 25. August 2022 im Kino. Hier der Trailer:



Elisabeths Filmkritik:

Der jugendliche Elias will nicht, was die Familie von ihm fordert. Er will nicht, was sein Umfeld von ihm erwartet. Das, was er will, das wird ihm verwehrt. Daran kann man sich abarbeiten. Man kann rebellieren, man kann sich dem vermeintlichen Schicksal ergeben, sich verbiegen oder man kann Reißaus nehmen.

Elias lernen wir als jungen Mann kennen, der gerade noch in die Schule geht, der auf dem Hof seiner Eltern arbeitet, ohne darin mehr als eine Pflicht zu verspüren. Später mal soll er den Hof übernehmen. Die Eltern sind knauserig, aber wohlhabend. Der Vater (Harald Windisch) weiß schließlich, wie er bekommt, was er will und wie er seinen Wohlstand erhält und vermehrt.

Mit einem so missratenen Sohn, der sich lieber in die Bücher verkriecht, hat er nun nicht gerechnet. Aber es geht hier in Adrian Goigingers ("Die beste aller Welten") Verfilmung des gleichnamigen Theaterstückes von Felix Mitterer, das wiederum von dem Leben einer realen Person handelt, um Elias und seinem Rückzug aus der - nennen wir es - Zivilisation. Erst eine schwere Krankheit zwingt Elias, rund 40 Jahre später, zurück in eben jene.

"Märzengrund", das ist das Tiroler Zittertal. Elias, in jungen Jahren spielt ihn Jakob Mader, verliebt sich beim Tanz am Wochenende, in eine junge Frau (Verena Altenberger). Sie ist älter als er und geschieden. Eine Verbindung ist gesellschaftlich ganz ausgeschlossen. Elias reagiert auf die Fremdbestimmung und dem Druck der Erwartungen mit einer Depression. Nach einer Behandlung schickt ihn der Vater, und der Ansatz ist gar nicht mal falsch, auf die Alm, damit er mit sich ins Reine komme, den Wert seiner eigenen Arbeit zu schätzen lerne und, natürlich, damit er fern von aller Versuchung zurück aufs Gleis finde. Sprich, eigentlich ist das Unterfangen als Strafe gedacht.

Goiginger zeigt uns, wie Elias die Natur zu schätzen lernt und regelrecht aufblüht. Und wie er sich später einer Rückkehr verweigert. Nach Ablauf des Sommers zieht er noch weiter hinauf auf die Berge. Frisch und fromm, sprich mit der Lektüre von Max Frisch und Erich Fromm im Erfahrungsschatz, nimmt Elias sich eine Freiheit, die sich für das Publikum durch visuell gewaltige Berglandschaften erschließt.

Was Goiginger uns nicht vermitteln mag, ist, ob Elias die Natur liebt und die Menschen nicht, oder ob er die Natur den Menschen nur vorzieht. Zwischen dem jungen Bub, der gegen die Gesellschaft die Einsamkeit wählt, und dem älteren Elias, gespielt von Johannes Krisch, fehlt eine Entwicklung. Haben ihn denn nie Zweifel ereilt? Hat er sich denn nie einsam gefühlt? Hätte er diese Freiheit für das Leben mit einer Partnerin und eventuell Kinder eingetauscht?

Die reale Person, dessen Geschichte die Vorlage für Felix Mitterers Stück von 2016 war, hieß Simon Wildauer, auch genannt Simon Koch. Wahrscheinlich waren Depressionen oder eine Schizophrenie Grund für seinen Rückzug in die Einsiedelei. Man kann nur spekulieren, ob die Wahl auf die Berge zu gehen, nicht vor einer eventuellen medizinischen Behandlung welcher Art auch immer, von Vorzug war.

"Märzengrund" löst sich von diesen Gedanken und wählt eine andere Fragestellung, die nicht ganz unproblematisch ist. Was ist ein gelebtes Leben wert, wenn man nichts gegeben hat? Diese Frage stellt sich der ältere Elias. Ist die Erwartung einer Antwort auf diese Frage nicht gerade eine das Problem an sich? Goiginger schließt den Kreis, in dem er, auch mit einer bitteren Pointe, zurück auf die Familie verweist. Als stärkste Figur erweist sich hier die Schwester (Carmen Gratl, beziehungsweise in jungen Jahren Iris Unterberger), die ihn in all den Jahren wohl beistand.

Elisabeth Nagy


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