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Goldener Leopard des Locarno Filmfestivals geht nach Brasilien

Der Hauptpreis des Internationalen A-Filmfestivals in Locarno ist an "Regra 34" ("Regel 34") der brasilianischen Regisseurin Julia Murat gegangen.



Die Auszeichnungen des 75. Internationalen Filmfestivals Locarno, das für 11 Tage vom 02. - 13.08.2022 am schönen Lago Maggiore in der italienischen Schweiz stattfand, wurden am gestrigen Samstagabend vergeben.

Der »Goldener Leopard«, Hauptpreis des Internationalen A-Filmfestivals, das in gleicher Liga wie die Berlinale oder das Festival de Cannes spielt, ging an "Regra 34" ("Regel 34 - Rule 34") der brasilianischen Regisseurin Julia Murat.

Hier ein erster Teaser:



Der Titel des Spielfilms bezieht sich auf die sogenannte Regel 34. Nach der existiert im Internet zu allem, was sich dort finden lässt, Pornografie. Im Zentrum des von vielen unerwartet mit dem Goldenen Leoparden geehrten Spielfilms steht eine junge Jura-Studentin, die verschiedene sexuelle Fantasien auslebt.


Der Spezialpreis ging an die Polizisten-Komödie "Gigi la legge" ("Gigi, das Gesetz - The Adventures of Gigi the Law") des italienischen Regisseurs Alessandro Comodin.

Hier der Trailer:



Synopsis:
‎Gigi ist ein ländlicher Verkehrsbeamter, bei dem nie etwas passiert. Eines Tages wirft sich jedoch ein junges Mädchen unter einen Zug. Dies ist nicht das erste Mal. Angesichts dieser unerklärlichen Selbstmordwelle beginnt Gigi, eine seltsame Welt zwischen Realität und Fantasie zu erforschen, in der ein Garten ein Dschungel ist und in der ein immer lächelnder Polizist sein Herz für die Liebe offen hält.‎

‎"Gigi la legge‎‎ ist ein Fragment des Lebens im Grenzland Italiens, zwischen Bäumen, die immer größer werden, Zügen, die nie anhalten, Verfolgungsjagden auf dem Land und Träumen, die kaum verblassen", so der Regisseur Alessandro Comodin.‎


Gleich drei der Hauptpreise, nämlich den Regiepreis sowie zwei Darstellerpreise, hat "Tengo sueños eléctricos" ("I Have Electric Dreams", Belgium, France, Costa Rica) von Valentina Maurel bekommen.

Hier ein Ausschnitt:



Synopsis:
Gegen Evas Willen will ihre Mutter das Haus renovieren und die Katze loswerden, die, seit der Scheidung desorientiert, überall pinkelt. Eva will zu ihrem Vater gehen, der desorientiert wie die Katze eine zweite Pubertät erlebt. Wie beim Überqueren eines Ozeans von Erwachsenen, ohne schwimmen zu können, sieht sich Eva der Wut gegenüber, die an ihrem Vater nagt, und jetzt frisst sie auch an ihr.‎

"‎In einer Welt, in der kindliche Liebe, die Übertragung von Gewalt und der Schwindel der sexuellen Entdeckung miteinander verflochten sind, versuche ich zu begreifen, was die Grenze zwischen Hass und Liebe so durchlässig macht‎".
Statement der Regisseurin.


Elisabeth Filmkritik:
"Tengo sueños eléctricos" - "I Have Electric Dreams" von Valentina Maurel, mit Reinaldo Amien Gutiérrez, Daniela Marín Navarro, Vivian Rodríguez Barquero, José Pablo Segreda Johanning, Adriana Castro García, Mayté Ortega Floris, Maribel Hernández Zúñiga, Jeniffer Fernández Cornejo, Sara Lefèvre.

Eva ist 16 und die Welt ist nicht in Ordnung. Die Eltern leben getrennt. Sie lebt bei der Mutter. Die Mutter nervt, die kleine Schwester nervt. In ihr staut sich Wut und entlädt sich auch. Coming-of-Age kann grausam sein. Die Regisseurin Valentina Maurel zeigt das Heranwachsen als Schlachtfeld der Gefühle. Aggressionen und Wut und nicht wissen, wohin damit. Die Ohnmacht, dass es nicht besser werden wird. Dass das Erwachsen sein kein Deut Erlösung von den Problemen des Heranwachsens verspricht. Die Vorbilder, Vater und Mutter, sind Eva keine Hilfe. Im Gegenteil. Die Erwachsenen scheinen sich mit den gleichen Dämonen herumzuschlagen und noch weniger Ventile zu besitzen. Aggressionen, offen und verdeckt, Grenzüberschreitungen in alle Richtungen, Ungerechtigkeiten bestimmen Evas Alltag.

In Evas Gesicht, gespielt wird sie von der Entdeckung Daniela Marín Navarro, spiegelt sich die Wut, Verzweiflung, Ärger, Erkenntnis und alles dazwischen. Die Figur einer jungen Frau, die ihre Sexualität erkundet, die ihre Gefühle in den Griff bekommen möchte, die aus sich herauswill und in vielen Momenten so viel reifer als die Erwachsenen wirkt, das spielt Daniela Marín Navarro phänomenal. "I Have Electric Dreams" stellt nicht eine dysfunktionale Familie vor. Es ist banal zu sagen, dass jede Familie ihre Probleme hat. Valentina Maurel, zeigt ein schonungsloses Bild einer Familie, wie sie das Publikum wohl zur Genüge kennt, aber selten im Film zu sehen bekommt. Maurel konzentriert sich auf die Tochter-Vater-Beziehung. Zwei, die sich so ähnlich sind. Reinaldo Amien Gutiérrez spielt den Vater, der kein guter Vater ist und das auch weiß. Und Eva weiß das auch, trotzdem will sie zu ihrem Vater und weg von der Mutter und Schwester.

Eva sieht zumindest einen Weg, um aus den Dilemmas in der Beziehung zu ihrer Mutter zu entfliehen. Sie will zum Vater ziehen. Sie macht Druck. Sie sucht die Kleinanzeigen ab, damit der Vater eine Wohnung findet, in der sie auch einen Platz haben wird. Scheiß drauf, was ihr Vater will. Der seine Freiheit will, der seine Kunst will. Der Gedichte schreibt. Weil jede Figur so komplex ist, dass sie Aggression und Poesie vereinen kann. Eva liebt ihren Vater. Eva hasst ihren Vater. Die Aggressionen des Vaters sind nicht ohne. Bis hin zur Selbstverletzung. Eva versteht das, so gut, wie sie sich selbst versteht. Die Aggressionen des Vaters sind für sie so verwirrend, wie ihre eigenen Aggressionen. Sie erkennt aber auch die andere Seite des Vaters, die gefühlvolle Künstlerseele. Es ist nicht einfach.

Valentina Maurel hat mit ihrem Kurzfilm "Paul est là" bereits 2017 in Cannes auf sich aufmerksam gemacht. Geboren und aufgewachsen in Costa Rica hat sie zuerst in Paris und dann in Brüssel studiert, folglich ist "I Have Electric Dreams" auch eine französisch-belgische Koproduktion mit Costa Rica. Mit ihrem ersten Langfilm, für den sie in Locarno den Regie-Preis und ihre Hauptdarsteller die Haupt-Darstellerpreise gewonnen haben, empfiehlt sie sich.

Eva muss derweil lernen, ihre Grenzen zu erkunden und zu ziehen. Coming-of-Age heißt auch, die Selbstbestimmung zu finden, sie zu leben und sie zu verteidigen. Eva zieht eine Grenze. "I Have Electric Dreams" schnürt dem Publikum wortwörtlich die Luft ab, kickt ihm in die Magengrube. So hart dieses Debüt bis an diese Grenze geht, sosehr zeigt es auch die Liebe und Poesie auf und entlässt uns mit einer Geste des einander Erkennens. "I Have Electric Dreams" ist ein starkes Debüt mit einer liebevollen Hingabe für schwierige Figuren.

Elisabeth Nagy


Im Anschluss an die Verkündung des »Pardo d'oro« (Goldener Leopard) und anderer Preise, die von offiziellen Jurys vergeben wurden, hatten die Zuschauer der legendären Open-Air-Vorführungen die Möglichkeit, für den Gewinner des Prix du Public UBS 2022 zu stimmen.

Das Publikum auf der Piazza Grande wählte den Film „Last Dance“ von Delphine Lehericey für den Prix du Public aus, während das Siebzigerjahre-Drama "Annie Colère" von Blandine Lenoir den Preis des renommierten »Variety« US-Trade-Fachmagazins gewann.

Hier der Trailer von "Last Dance":



"Last Dance" von Delphine Lehericey ist eine bewegende Studie über Trauer und die Rolle, die Kunst im Leben der Menschen spielen kann, unabhängig von ihrem Alter. Mit ihrem eigenen Hintergrund in der darstellenden Kunst gelang es Lehricey, auf der Piazza Grande den befreienden Zauber des zeitgenössischen Tanzes zu wirken. In diesem fesselnden Film konnte der männliche Hauptdarsteller die volle Disziplin der Bewegung verkörpern, auch wenn er die schwierigsten Zeiten durchmacht. Die Hymne des Regisseurs an das Leben und seine unvorhersehbaren Wendungen und Wendungen erhielten die Zustimmung der größten Jury der Welt - des Publikums der Piazza Grande selbst, die im Laufe der Jahre Titel ausgewählt hat, die zu Säulen der Filmgeschichte geworden sind.

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"Annie Colère" von Blandine Lenoir ist dagegen ein Film, der sich auf die Erforschung der weiblichen Erfahrung konzentriert und einer der politischsten Filme ist, die auf der Piazza Grande präsentiert worden war. Am Abend des 11. August 2022 versetzte die Regisseurin Blandine Lenoir das Publikum auf der Piazza zurück in die 1970er Jahre, eine leidenschaftliche und zugleich zärtliche Zeit für den Kampf der Frauen für Abtreibungsrechte. "Annie Colère" ist eine bemerkenswerte Lektion im filmischen Blick, beleuchtet durch Laure Calamys hervorragende Leistung, ergänzt durch eine Botschaft, die im Kontext einer bis heute dramatisch andauernden Debatte noch aktueller und wertvoller wird.


Eröffnet worden war das Festival auf der Piazza Grande mit "BULLET TRAIN" von David Leitch. Der Film basiert auf dem Roman von Kōtarō Isaka und startete am 04.08.2022 in den deutschen Kinos. In einer der Hauptrollen spielt u.a. Brad Pitt. Unsrer Filmkritik dazu finden sie hier.

Die Programmierung der Piazza-Grande-Reihe, wo allabendlich bis zu 8. 000 Kinofans auf einer der weltgrößten Open-Air-Filmbühnen angesprochen werden, ist ein Spagat zwischen Kunst und Massentauglichkeit und somit leider nicht für jeden von weither angereisten Cineasten ideal ausgesucht, trotz ziemlich guter Schweizer Premieren wie „Last Dance“ über einen Rentner, der sich für seine verstorbene Frau als Tänzer versucht, oder großer Hollywood-Filme wie „Der Gesang der Flusskrebse“ von Olivia Newman nach dem Weltbestseller-Roman von Delia Owens. Luft nach oben mit mehr Arthouse-Kino und weniger Blockbuster würden dem Festival vielleicht noch besser stehen.

Deutsche Erfolge gab es kaum bei der 75. Ausgabe des Festivals, obwohl Regisseurin Helena Wittmann mit ihrem Film "Human Flowers of Flesh" die Kritiker beindruckte, denn bis zur Halbzeit war der Film einer der wenigen Höhepunkte.

Die deutsche Autorin, Regisseurin, Kamerafrau und Cutterin begleitet in ihrem Film eine junge Frau, die herausfinden will, welche Rolle heutzutage die Fremdenlegion spielt.


Einen kleinen Erfolg konnte Deutschland nur im Experimentalfilm-Wettbewerb «Pardi di domani» («Leoparden von morgen») verbuchen, sowie in der «Semaine de la critique» («Woche der Kritik»).

In der Sektion «Pardi di domani» bekam der Kurzspielfilm "Madar tamame rooz doa mikhanad" ("Mütter beten den ganzen Tag") von der aus dem Iran stammenden Berliner Filmemacherin und Grafikdesignerin Hoda Taheri eine lobende Erwähnung.

Bei den Filmkritikern errang Deutschland ebenfalls einen Erfolg: Der Hauptpreis der vom schweizerischen Verband der Filmjournalistinnen und -Journalisten veranstalteten Festival-Sektion ging an die polnisch-deutsche Co-Produktion "The Hamlet Syndrome" ("Das Hamlet-Syndrom").

Hier der Trailer:



Ausgehend von Shakespeares Drama «Hamlet» zeichnet das Regie-Duo Elwira Niewiera und Piotr Rosołowski darin stilistisch orignell und eindringlich das Porträt einer jungen Generation von Ukrainerinnen und Ukrainern, die ihr Land unter allen noch so schwierigen Bedingungen positiv verändern wollen.

„Dieser Film artikuliert auf brillante Weise das Dilemma Hamlets für die ukrainische Jugend. Der Film vermittelt ihre Erfahrungen, schwere Entscheidungen treffen zu müssen, wenn ihre Möglichkeiten sehr begrenzt sind. Dies aufgrund eines eines zermürbenden Krieges. Eine sehr raffinierte filmische Sprache formt einen universellen Film", so die Jury in ihrer
Begründung.

THE HAMLET SYNDROME ist ein kraftvolles Porträt der jungen ukrainischen Generation, der ersten, die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion geboren wurde: geprägt von der Maidan-Revolution 2013, gestärkt durch die politischen Umbrüche in ihrem Land und gezeichnet vom Krieg.

Schon am Freitag wurde der polnisch-deutsche Film in Locarno auch mit dem unabhängigen Kritikerpreis „Boccclino di oro" für den Besten Dokumentarfilm ausgezeichnet, heißt es in einer Pressemitteilung von Marijana Harder Public Relations.

Die komplette Locarno-Preisliste findet man auf der Webseite des Festivals oder in unserer erweiterten Ansicht hier nachfolgend.

Link: www.locarnofestival.ch

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