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72. Berlinale zieht positives Fazit - Unsere Filmkritiken zu einigen Gewinnern

Aufgrund der Corona-Pandemie war das Berlinale-Programm deutlich ausgedünnt und die Publikumstage verlängert worden. Anbei vier Filmkritiken einschließlich eines Nachtrags.



Mit nur 256 Lang- und Kurzfilme wurden auf der 72. Berlinale 2022 rund 25 Prozent weniger Werke als 2020 gezeigt. Zudem konnten nur rund 140.000 Tickets von mehr als 300.000 Tickets in den Vorpandemie-Zeiten verkauft werden, da das Platzangebot aufgrund des Berlinale Hygienekonzepts um die Hälfte reduziert werden musste. Nur jeder zweite im Schachbrettmuster freigegebene Sitzplatz durfte belegt werden.

Dennoch kam es zu zahlreichen Problemen, wie uns auf Nachfrage bestätigt wurde. Im Berlinale Palast sowie in der Urania existieren auf der linken und rechten Seite des Auditoriums die gleichen Sitzplatznummern, die in jeweils der Mitte einer Reihe mit Platz eins beginnen. Beim elektronischen Buchungssystem wurde aber leider vergessen einen freien Sitzplatz in der Mitte freizuhalten. Die Sitzplatzanweiser*innen versuchen alternative, leergebliebene Sitzplätze zu finden, damit Niemand zu eng beieinander saß. Andererseits führten diese strengen Regeln bei Pärchen aus dem selben Haushalt oft zu Unverständnis, da sie meist nicht getrennt vom Partner sitzen wollten.

Zudem musste immer wieder auf das Gebot der Maskenpflicht am Sitzplatz hingewiesen werden, womit auch ein Verbot, Getränke während der Vorstellung zu sich nehmen, einherging.

Für manchen Ärger sorgten auch die rund 11.000 Corona-Tests an den Teststationen der Berlinale für Journalisten und Fachbesucher am Potsdamer Platz, weil dadurch Zeit verlorenging, rechtzeitig ins Kino zu kommen.

Dennoch zog Geschäftsführerin Mariette Rissenbeek zum Abschluss der Berlinale hat ein positives Fazit. Die Resonanz beim Publikum sei sehr groß gewesen, teilte sie am Sonntag mit. Die Menschen hätten Sehnsucht nach dem Kino und dem gemeinschaftlichen Erlebnis gehabt.

Am letzten Tag lief noch einmal im großen, leicht überbelegten Saal 7 des CinemaxX mit dem Erstlingswerk "Sonne" von Kurdwin Ayub der GWFF Preis des Festivals. Die österreichische Ulrich Seidl Produktion war sektionsübergreifend aus der Reihe Encounters als bester Debüt Film von der Gesellschaft zur Wahrnehmung von Film- und Fernsehrechten mbH prämiert worden. Überraschend waren einige Jungdarsteller zur Vorführung gekommen, sodass nicht überall der Sitzabstand eingehalten wurde.

Hier ein Ausschnitt



"SONNE"
Sektion Encounters
GWFF Preis für Bestes Erstlingswerk

Eigentlich sollte es ein Spaß sein. Yesmin (Melina Benli) und ihre Freundinnen Bella (Law Wallner) und Nati (Maya Wopienka) tänzeln in Vollverschleierung in der Wohnung herum. Wie immer und überall sind die Handy-Kameras dabei. Sie trällern "Losing My Religion" von R.E.M.. Nati, die mal was mit Film machen möchte, schneidet die Aufnahmen zurecht und lädt sie auf YouTube hoch. Damit gehts los. Yesmin, sie geht zusammen mit ihren Freundinnen in die Oberstufe, wurde nicht gefragt. Der Clip ist online und die Zugriffszahlen schnellen in die Höhe. Ist der Spaß noch Spaß, wenn er öffentlich ist? Ist irgendetwas überhaupt noch "nicht öffentlich"? Die Regisseurin Kurdwin Ayub trifft den Umgang mit den "sozialen Medien" genau, ohne ihn als visuelle Sprache auszustellen. Was leicht als Gimmick wirken könnte, ist hier authentische Ausdrucksform. Der R.E.M.-Song wird allerdings bald überstrapaziert. Das finden auch die drei Hauptfiguren und rollen mit den Augen, wenn sie den Song immer und immer wieder vortragen sollen. Yesmins Mutter war natürlich überhaupt nicht begeistert, dass ihre Klamotten, in denen sie betet, so missbraucht werden. Ist das Tragen der Verschleierung in diesem Zusammenhang respektlos? Yesmins Vater findet es toll. Er ist stolz. Schaut her, meine Tochter. Das ist seine Haltung und er wird sogleich aktiv, die musikalische Karriere seiner Tochter und ihrer Freundinnen zu fördern.

Kurdwin Ayub, 29 Jahre alt, überzeugt mit ihrem Spielfilmdebüt, das mit Unterstützung von Ulrich Seidls Produktionsfirma gedreht werden konnte. Zum einen erzählt sie, selbst kurdischer Herkunft, von der Familiendynamik einer Immigrantenfamilie in Wien und auch die kurdische Community der österreichischen Hauptstadt. Sie erzählt eine Coming-of-Age-Geschichte einer jungen Muslima, die sich mehr und mehr mit ihrer Herkunft und ihrer Religion auseinandersetzen muss, auch weil sich ihre Freundinnen ihre Kultur aneignen. Yesmin trägt das Kopftuch, auch in der Schule, aus freier Entscheidung und legt es ab, als es von den Freundinnen vereinnahmt wird. Die Neugierde der zwei österreichischen Freundinnen auf die Kultur der Kurden wandelt sich, als sie zwei junge kurdische Männer kennenlernen. Ayub deutet einen Bruch an, den Yesmin nicht kitten kann. Ist der Film zu Beginn noch heute und auch immer wieder voller Witz, begleitet Ayub ihre Hauptfigur Yesmin in einen Übergang der Nachdenklichkeit und scheut nicht vor den Momenten der Traurigkeit zurück.

"Sonne", der Titel wird übrigens im Film auch erklärt, findet eine eigene Stimme. Souverän handelt Ayub das Erzählen mit Mitteln, die für ein älteres Publikum vielleicht noch ungewohnt ist. Auf der Berlinale 2022 wurde "Sonne" im Encounters Programm gezeigt und gewann den GWFF (Gesellschaft zur Wahrnehmung von Film- und Fernsehrechten) Preis für den besten Erstlingsfilm. Von hier geht es dann direkt zum Festivalauftritt auf der Diagonale. In Österreich ist ein Filmstart im September 2022 anvisiert.

Elisabeth Nagy

"Sonne"
Spielfilm, Drama.
Mit Melina Benli, Law Wallner, Maya Wopienka
Österreich 2022
Regie: Kurdwin Ayub
Drehbuch: Kurdwin Ayub
Bildgestaltung: Enzo Brandner
Montage: Roland Stöttinger
Szenenbild: Julia Libiseller
Kostüm: Carola Pizzini
Make-Up: Jenny Bladek
Ton David: Almeida-Ribeiro
Casting: Ulrike Putzer


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Weil die Sektion »Generation« mit ihren beachtenswerten Kinderfilmen meist in den Medien zu kurz kommt, stellen wir hier mit "Comedy Queen" von Sanna Lenken (Schweden), den Großer Preis der Internationalen Jury - KPlus in unserer Filmkritik vor.

Hier der Trailer:



"Comedy Queen"
Generation Kplus
Internationale Premiere - Gläsener Bär

Comedy und Trauer. Das schließt sich nicht aus. Sashas Vater lächelt nicht, er lacht auch nicht mehr. Sasha will ihn unbedingt wieder zum Lachen bringen. Sashas Vater macht sich Sorgen. Unter anderem, weil Sasha nicht weint. Wenn man sich auf den Boden legt und den Kopf nach hinten biegt, dann laufen die Tränen wieder zurück, denkt sich Sasha. Sie weint nicht, sie trauert nicht. Ihre Mutter ist gestorben. Ihre Mutter war immer traurig. Ihre Mutter hat immer geweint. Jetzt weint ihr Vater immerzu. Sasha will nicht weinen.

"Comedy Queen" macht sich daran, das Publikum zum Komplizen zu machen, damit Sasha weint und Sashas Vater wieder lächeln kann. Das haut so leider nicht hin. Dabei ist der Ansatz gut. Sashas Mutter litt wohl unter Depressionen. Genauer ausgeführt wird das nicht. Denn der Film, der sich aus der Sicht einer 13-Jährigen erzählt, maßt sich nicht an mehr zu wissen als seine Hauptfigur. Da müssen ein paar Hinweise genügen. Sasha schaltet in den Überlebensmodus und das kann nur funktionieren, wenn sie alles anders macht, als ihre Mutter. Darum will sie zum Beispiel keine Bücher mehr lesen. Ihre Mutter hat ständig gelesen und wurde dadurch nur trauriger. Ihr Vorhaben kollidiert jedoch mit den Anweisungen der Lehrerin in der Schule. So als Beispiel.

Sigrid Johnson spielt Sasha. Man mag sie aus den Fernsehserien "Maria Wern" und, schon etwas älter, "Jordskott" kennen. Ihre Sasha ist energisch und verletzlich zugleich. Ohne Rücksicht auf Verluste verletzt sie auch andere. Ihre To-Do-Liste der Maßnahmen, mit denen sie sich von der Mutter abzuheben gedenkt, macht sie mit sich selbst aus. Dabei bekommt sie aus allen Ecken Unterstützung. Ihre beste Freundin Märta (Ellen Taure) ist dabei so behutsam wie möglich. Doch hier offenbart sich ein Problem in der Dramaturgie. Ich kenne die Vorlage von Jenny Jägerfeld nicht (in der deutschen Übersetzung von Birgitta Kicherer erschien der Roman 2020 im Verlag Urachhaus), ich muss mit dem zurecht kommen, was mir das Drehbuch von Linn Gottfridsson ("Björnstad") und die Regie von Sanna Lenken, geben. Die Nebenfiguren existieren nur in der Interaktion mit der Hauptfigur. Dabei sind sie verständig (der Vater, die Großmutter, die beste Freundin, die Lehrerin, der Onkel, die Therapeutin) oder das genaue Gegenteil (die It-Girls in ihrer Klasse zeichnen sich nur durch Gehässigkeiten aus). Die fehlende Reibung mit den anderen Figuren schwächt auch die Figurenzeichnung von Sasha. Nur eine einzige Figur, ein Junge an der Schule, fordert sie in der Hinsicht heraus. Seine Figur bleibt leider zu blaß.

Ausgerechnet Stand-Up-Comedy steht auf Sashas Plan. Das könnte daran liegen, dass ihr Onkel einen Club führt, auf dessen Bühne regelmäßig Stand-Up-Auftritte stattfinden. Der Onkel hat auch keinerlei Bedenken der Nichte einen Slot zuzuschustern. Aber ist denn Sasha komisch? Hat sie Humor? Das liegt wohl im Auge des Publikums. Der Spannungsbogen, der von der Entwicklung ihrer Figur, sprich einer Trauerarbeit, nicht viel vermittelt, belässt es bei ihrer Arbeit an ihren Sketchen. Die sind einfach mal eher peinlich. Aber sagen lässt sie sich nichts.

Umso überraschter mag das Publikum reagieren, als ihr Auftritt zumindest keine Katastrophe wird. Allerdings habe ich auch damit ein Problem. Auf den letzten Metern Film scheint das Drehbuch seine eigene To-Do-Liste abzuarbeiten, in dem es mit einem knackigen Haken setzen die Probleme von Sasha sich einfach in Luft auflösen lässt. Das ist dann doch schade. Da greift ein Film mal das schwierige Thema der Trauer auf und verrät diese, indem sie den langen Prozess radikal verkürzt.

Elisabeth Nagy

"Comedy Queen"
Mit Oscar Töringe, Anna Bjelkerud, Camila Bejarano Wahlgren, Sigrid Johnson, Doreen Ndagire, Ellen Taure
Drama, Schweden 2022.
Regie: Sanna Lenken
Drehbuch: Linn Gottfridsson
Bildgestaltung: Simon Pramsten
Montage: Andreas Nilsson
Szenenbild: Marika Åkerblom
Kostüm: Emelie Henriksson
Ton: Jesper Miller
Casting: Catrin Wideryd


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In der Sektion Berlinale Shorts ging der Goldene Bär an den russischen Film "Trap" von Anastasia Veber. Der Film fängt das Leben junger Menschen in Russland ein, die die Nächte durchfeiern und tagsüber für die Olympischen Spiele trainieren, gefangen zwischen Drill und Ekstase, Polizeikontrollen und dem Wunsch, füreinander da zu sein.

Hier der Trailer:



"Trap" von Anastasia Veber
Berlinale Shorts - Goldener Bär - Bester Kurzfilm

Das Leben ist ein langer ruhiger Fluss. Oder auch ein reißender Strom, in dem man täglich ums Überleben kämpft. Aufblende auf Wasser, es ist unruhig und von Abwässern verschmutzt. Sasha (Ignat Dvoinikov) wäscht sich trotzdem die Hände und stapft dann in die Ferne. "Trap", der Abschlussfilm der Regisseurin Anastasia Veber, eine Ko-Produktion der Saint Petersburg School of New Cinema und der Moscow School of New Cinema, vermittelt ein Lebensgefühl, das sich wie ein endloser Kreis wiederholt. Eine Falle, aus der es kein Heraus gibt.

Eine junge Frau tanzt in einem Club, Sasha kämpft sich durch den Fluss der Raver, bis er bei ihr ist, sie hält, sie auffängt, sie raus bugsiert. Marina (Elizaveta Broshkova) ist seine Schwester. Was wir von ihm und ihr erfahren, erfahren wir, als er auf der Straße von einem Polizisten angehalten wird. Woher kommt er, wohin geht er? Er solle sein Smartphone entsperren, seine Kontakte zeigen. Wer ist Marina? So beiläufig, wie dieser Übergriff in das Leben einer jungen Person abläuft, wird er alltäglich sein. Ein Bild auf der Straße, dem Fluss der Großstadt, auf dem die Passanten jederzeit in Konflikt geraten können. Wie Schaumkronen auf dem Wasser tänzeln die Bewohner von hier nach da.

Marina ist Sashas Schwester. Er ist für sie da, auch wenn ihm das manchmal stinkt. Er trainiert für den Olympiakader und hat ein Auge auf die Freundin eines anderen geworfen. Konkrete Sehnsüchte, die Konflikt bedeuten, Momente um die man kämpfen muss. Und die Momente mit der Frau, die man liebt, fordern ihren Tribut. Ein Kampf, ein täglicher Kampf.

"Trap" vermittelt ein Lebensgefühl. Anfang und Ende können als Kreislauf gelesen werden. Ein Tanz in Selbstvergessenheit steht an einem Ende, ein Tanz der Körper, die um ihre Existenz, ihre Präsens kämpfen, steht am anderen Ende. Sasha und die anderen Figuren, alles stille laute Helden in Vebers Film, kämpfen ums Nackte-am-Leben-sein. Ein Kampf in Slow Motion, inspiriert vom Leben auf der Straße, in der Stadt, in unserer Zeit. Inszeniert in Zusammenarbeit mit dem Fotokünstler Dmitry Pryakhin, der in seinem Werk "Furios" genau diesen Ausdruck sucht und festhält. Eine rohe und wunderbare Szene, die Anastasia Veber mit Laiendarstellern und praktisch ohne Budget fulminant auf die Leinwand wirft und dafür mit dem Goldenen Bär für den besten Kurzfilm der Berlinale 2022 ausgezeichnet wird.

Elisabeth Nagy

"Trap"
Mit Ignat Dvoinikov, Elizaveta Broshkova, Anastasia Arzhevikina, Eugene Zherdy
Kurzspielfilm, Drama.
Russland / Litauen 2021
Regie: Anastasia Veber
Drehbuch: Anastasia Veber
Bildgestaltung: Anton Gromov, Egor Sevastyanov
Montage: Konstantin Koryagin, Dmitry Novikov, Anastasia Veber
Musik: Bhima Unusov
Szenenbild: Zlata Kalmina
Make-Up: Zlata Kalmina, Valery Alyuskina, Timur Nurgaliev, Anfisa Dobrohodova, Anastasia Boyko-Velikaya
Ton: Veniamin Wolfson
Casting: Anastasia Veber


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Als Nachtrag konnten wir nun auch noch den Trailer des Gewinners aus dem Internationalen Wettbewerb einfügen. Dazu anbei unsere Film-Besprechung.



"Alcarràs" von Carla Simón
Gewinner des Internationalen Wettbewerbs
Goldener Bär für die Beste Produktion

Es ist Erntezeit in Alcarràs, einer Stadt im Süden Kataloniens. Die katalanische Regisseurin Carla Simón führt uns in ihrem erst zweiten Langspielfilm in diese Gegend. Die Landwirtschaft zwischen Gestern, Heute und dem Morgen ist sozusagen das Hauptthema. Simón schöpft aus ihren Erinnerungen und aus ihrem Leben. So hielt sie es schon in ihrem Film "Friedas Sommer", der 2017 in der Generation-Sektion der Berlinale seine Premiere feierte und sowohl den Großen Preis der Internationalen Jury für den besten Film im Kplus-Programm als auch den Preis für das beste Erstlingswerk gewann. Simón, aufgewachsen in einer Großfamilie, nahm sich die Geschichte ihres Großvaters, der eine Pfirsichplantage betrieb, zu Herzen.

Auch die Kinder der Großfamilie Solé sollen schon mithelfen, die Pfirsiche auf der Plantage abzupflücken. Zumal das Geld so knapp ist, dass man sich Gastarbeiter nicht leisten kann. Gerade eben spielten sie noch die große Reise in einem verschrotteten Auto abseits der Felder. Dann kamen die Bagger. Und die Schrottkiste wird zu aller erst abtransportiert. Verlust des Alten wird in "Alcarràs" gegen Erneuerung ausbalanciert. Den Kindern wird ein Ort des Spielens weg genommen. Zuerst der Wagen, der ihnen ein Gefühl für die Weite und die Möglichkeiten gibt. Dann wird eine Kistenburg auseinander genommen. Die Kisten werden jetzt andernorts gebraucht. Träume kollidieren immer wieder mit den Bedingungen des Alltags. Immer wieder wird den Menschen, jung und älter, etwas genommen. Ist das schlimm?

Seit mehreren Generation leben die Solés auf der Pachtung eines Großgrundbesitzers. Nach dessen Tod will der Sohn das Land anders und produktiver bewirtschaften. Einst hatte man Verträge per Handschlag geregelt. Heute braucht es Papiere. Den einstigen Handschlag kann die Familie kaum einklagen. Der Familie wird die Pacht auf die Plantage gekündigt. Mit Abschluss der Ernte werden sie sich von ihrer alten Lebensweise verabschieden müssen.

Carla Simón gibt den Generationen ihre eigene Stimme. Die Kinder arrangieren sich, sie sind kleine Freigeister, immer irgendwo dazwischen. Carla Simón beobachtet das Treiben. Ihre Arbeitsweise ist naturalistisch, die Arbeit auf der Plantage zeigt sie fast dokumentarische. Die Kamera von Daniela Cajías unterstützt genau das. Die älteren Kinder der Familie sind bereits mit dem Ernst des Lebens und der ungewissen Zukunft konfrontiert. Der Sohn, der genauso hart arbeitet, wie sein Vater, wirtschaftet auf eigene Kappe und nicht ganz legal abseits der Pfirsichbäume. Die Tochter engagiert sich mit ihren Freundinnen, um auf dem traditionellen Erntefest etwas aufzuführen. "Alcarràs" erzählt jedoch nicht jeden Handlungsstrang aus. So einiges erklärt sich intuitiv, womit das Publikum sich emotional mit den einzelnen Schicksalen auseinandersetzen kann. Das Drehbuch fordert keine erhobenen Zeigefinger, die Empathie für die Figuren bringt man mit oder auch nicht. Auch wenn man nicht jede der Entscheidungen gut heißen mag oder kann.

Die Figuren in Carla Simóns spätsommerlichen Familiendrama sind durchaus stur. Allen voran der Vater, der sich mit der Zukunft nicht auseinandersetzen will, der sich um die Ernte kümmert, den Patriarchen markiert und bei Protesten für die traditionelle Landwirtschaft in vorderster Reihe kämpft. Es sind Laiendarsteller, die alle aus der Gegend kommen und hier das tun, was sie auch sonst tun. Eine weise Entscheidung, ein sorgfältiges Casting ist die halbe Miete. Jordi Pujol Dolcet spielt den Familienvater Quimet, der an den Traditionen festhalten will. Ein Angebot des Grundbesitzers bei ihm in den Betrieb einzusteigen, lehnt er rundweg ab. Geplant ist eine Fläche mit Solarpanelen. Aber Quimet sieht sich als Landwirt und nicht als Techniker. Der Großgrundbesitzer steht hier als Antagonist, dabei ist er ein Vertreter der Gegenwart und der Zukunft, der auf eine Energiewende setzt, die wir bitter nötig haben.

Auch wenn "Alcarràs" ein warmherziger Sommerfilm ist, der seine Figuren uns ganz nahe bringt, der eine Sehnsucht nach dem einfachen Leben auslöst und zu vermitteln weiß, was Menschen an Traditionen festhalten lässt, wagt das Publikum vor die schwierige Frage zu stellen, wie wir als Gesellschaft gefordert sind, Änderungen zu akzeptieren.

Elisabeth Nagy

"Alcarràs"
Mit Jordi Pujol Dolcet, Anna Otín, Xenia Roset, Albert Bosch, Ainet Jounou, Josep Abad, Montse Oró, Carles Cabós, Berta Pipó
Drama, Spanien / Italien 2022
Regie: Carla Simón
Drehbuch: Carla Simón, Arnau Vilaró
Bildgestaltung: Daniela Cajías
Montage: Ana Pfaff
Musik: Andrea Koch
Szenenbild: Mónica Bernuy
Kostüm: Anna Aguilà
Make-Up: Giovanna Turco
Ton: Eva Valiño
Casting: Mireia Juárez


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