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Erste Berlinale BÄREN vergeben und weitere Filmkritiken aus den Sektionen

Goldener Bär für den Kurzfilm "My Uncle Tudor" von Olga Lucovnicova in der Sektion "Berlinale Shorts".



Schon nach vier Tagen wurden die ersten Bären verteilt. So kurz war eine Berlinale noch nie, aber die Pandemie zeigt überall ihre Auswirkungen. Dass die Filme kaum einer gesehen hat, ist dagegen umso schmerzlicher. Wir müssen leider auf bessere Kinozeiten im Sommer hoffen. Dann soll auch das Berliner Publikum dabei sein dürfen, wenn die Bären überreicht werden.

Am gestrigen Donnerstag, den 4. März 2021 wurde nicht nur der Kurzfilm "My Uncle Tudor" von Regisseurin Olga Lucovnicova wird mit dem Goldenen Bären der "Berlinale Shorts" ausgezeichnet, auch die Preise im Kinder- und Jugendprogramm »Generation« wurden vergeben.

In der Sektion Kurzfilm, den »Berlinale Shorts«, thematisiert die belgisch-portugiesisch-ungarische Produktion ein Kindheitstrauma in einer idyllischen Umgebung in ausdrucksstarker und emotional differenzierter Weise, hieß es bei der Bekanntgabe der Berlinale-Kurzfilm-Auszeichnungen.

In dem 20-minütigen Film konfrontiert die aus Moldawien stammende Filmemacherin nach Berlinale-Angaben ihren Onkel mit ihrem Trauma, das er zu verantworten hat.

Hier die Gewinnerin im Interview und unsere Filmkritik:



"My Uncle Tudor" Kurzdokumentarfilm von Olga Lucovnicova

Belgien / Portugal / Ungarn 2020
Regie Olga Lucovnicova
Drehbuch Olga Lucovnicova
Bildgestaltung Olga Lucovnicova
Montage Olga Lucovnicova

Elisabeth' Filmkritik:

Die Erinnerungen sind ein Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können. Ein Garten im Sommer, ein Huhn stolziert im Hintergrund von links nach rechts. Ein Lufthauch bewegt die Vorhänge. Die Tür zu Onkel Tudors Zimmer ist geschlossen. Man hört Kindergesang aus dem Radio. Die Mutter entkernt Kirschen. Nirgendwo anders gäbe es solche Kirschen. Die Kamera gleitet durch den Raum, streift an alten Familienphotos entlang. Die Regisseurin, Olga Lucovnicova, führt die Kamera mit ruhiger Hand selbst. Sie zeigt uns alte Photographien und welke Blumen. Wie war ich als Kind, fragt sie ihre Mutter, ihre Tanten und ihren Onkel. Vermeintlich beiläufig, aber nicht grundlos. Der Blick auf das Haus, die Bewohner, die Vorhänge, die kleinen Dinge, sie ergeben eine Oberfläche, die jeder von uns mit eigenen Erinnerungen auffüllen könnte. Es kommt unvermittelt, als Olga Lucovnicova ihrem Onkel ganz ruhig sagt, sie können ihm nicht verzeihen. Das Gespräch, das sich entwickelt ist so schlicht, wie wohlmöglich retraumatisierend. "My Uncle Tudor" ist ein leiser, ruhiger Dokumentarfilm, der die Bilder der Vergangenheit nutzt, um ins Reine zu kommen. Denn die Erinnerungen können ein Gefängnis sein, aus dem wir uns befreien wollen.

Elisabeth Nagy


Der Silberne Bär, Preis der Jury (Kurzfilm) ging an "Xia Wu Guo Qu Le Yi Ban" ("Day Is Done") von Zhang Dalei;

Der Berlin Short Film Candidate for the European Film Awards ging an "Easter Eggs" von Nicolas Keppens.

Darüber hinaus gab es natürlich noch viele weitere Kurzfilme im Wettbewerb, deren Stream die Filmjournalisten quasi erst nachträglich sehen konnten, als die Preise schon in der Verkündung waren. Aber ähnlich ergeht es ja auch dem breitem Publikum, dass die Gewinner nun schon kennt, deren Filme aber erst frühestens im Sommer zu sehen bekommt.

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Generation Kplus und 14plus
Die Preise der Internationalen Jury


Die Internationale Jury von Generation hat über folgende Preise entschieden: Großer Preis der Internationalen Jury für den Besten Film im Wettbewerb Generation Kplus für "Han Nan Xia Ri" ("Sommerflirren") von Han Shuai, Volksrepublik China und eine Lobende Erwähnung für "Una escuela en Cerro Hueso" ("Eine Schule in Cerro Hueso") von Betania Cappato, Argentinien.

Großer Preis der Internationalen Jury für den Besten Film im Wettbewerb Generation 14plus für "La Mif" ("The Fam") von Fred Baillif, Schweiz und eine Lobende Erwähnung für "Cryptozoo" von Dash Shaw, USA.

Ausführliche Begründungen sind unter den Pressemitteilungen 2021 auf der Webseite der Berlinale zu finden.

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Wir machen weiter mit zwei Filmbesprechungen aus der Sektion »Perspektive Deutsches Kino«

"Instructions for Survival" Dokumentarfilm von Yana Ugrekhelidze
Perspektive Deutsches Kino

Perspektive Deutsches Kino
Deutschland / Georgien 2020
Regie Yana Ugrekhelidze
Drehbuch Yana Ugrekhelidze
Bildgestaltung Jule Katinka Cramer
Montage Agata Wozniak
Musik Lennart Saathoff, Mikhail Khimakov
Ton Yana Ugrekhelidze, Malin Schmidt

Hier ein Interview:



Elisabeth' Filmkritik:

Es braucht einen Moment, bis man die Situation, in der sich Sasha befindet begreift. Er kann sich nicht einfach einen Job suchen. Er kann nicht aufs Amt, er kann nicht in eine Arztpraxis. Sashas Identität deckt sich nicht mit den Angaben in seinen Papieren. Dort ist er als "weiblich" markiert. eine Trans-Identität ist in Georgien ein gesellschaftliches und elementares Problem. Die georgische Mentalität, so erzählt Sasha an einer Stelle, ist, dass eine Mutter immer zu ihrem Kind steht. Auch wenn es kriminell ist. Sasha ist nicht kriminell, er ist nur einfach er selbst. Aber für eine Mutter ist die Transidentität ihres Kindes schlimmer als wenn das Kind im Knast wäre. Die LGBTQ-Community wird in Georgien verfolgt und mit dem Leben bedroht. Sashas Alltag mag normal wirken, aber weit gefehlt. Eine Grundangst beherrscht sein Leben. Und auch das seiner Frau.

Angst und Flucht sind in der Filmographie der Regisseurin Yana Ugrekhelidze wiederkehrende Motive. Sie wurde 1984 in Tiflis, Georgien geboren. In ihrer Geburtsheimat machte sie einen Abschluss als Diplom-Übersetzerin. Später studierte sie in Deutschland Kommunikationsdesign und schloss daran ein Studium an der Kunsthochschule für Medien in Köln in der Fachrichtung Film und Animation an. Ihr Diplomfilm, "Armed Lullaby", behandelt die Ereignisse im Abchasischen Krieg 1993. Für den Animationsfilm, der übrigens 2019 im Kurzfilmprogramm der Generation Kplus-Reihe gezeigt worden war, recherchierte sie in Archiven und befragte Bekannte. Ihr wurde klar, was Flucht bedeutet, wie schwer es ist, alles zu verlieren. Sie begriff, was das mit einem macht.

Mit "Instructions for Survival" erzählt Ugrekhelidze eine Fluchtgeschichte, die sich auf das Jetzt konzentriert. Aus Sashas Erzählungen erfährt man Hintergründe und weiß in etwa, mit welchen Schwierigkeiten er bisher konfrontiert war. Gleichgewichtig wird auch die Geschichte von Mari erzählt, die als sie Sasha kennenlernte, kaum wußte, dass es Transidentitäten gibt. Sie hätte sich nicht vorstellen können, dass man sich auch von ihr abwendet. Der einzige Weg ist der ins westliche Ausland. Sasha denkt, er wird schon illegal Arbeit finden, doch dem ist nicht so. Mari findet eine Lösung, die außergewöhnlich ist. Sie stellt sich als Leihmutter zur Verfügung.

Mit der Kamerafrau Jule Katinka Cramer, die ebenfalls an der KHM studierte, begleitet die Regisseurin das Paar über einen längeren Zeitablauf. Die Szenen sind Momentaufnahmen, eine Dramatisierung wurde vermieden. Praktische Momente jedoch aufgegriffen. Das Gefühl der Beklemmung überträgt sich. Oft sind die Beiden müde und abgekämpft. Die Regisseurin tritt irgendwann zurück, mehr braucht es nicht. Es ist ein Schicksal von vielen, ein ganz persönliches und doch universell.

Elisabeth Nagy


"Jesus Egon Christus" Drama von David Vajda & Saša Vajda

Perspektive Deutsches Kino
Deutschland 2021
Regie David Vajda, Saša Vajda
Drehbuch David Vajda, Saša Vajda
Bildgestaltung Antonia Lange
Montage David Vajda, Saša Vajda, Benjamin Mirguet
Szenenbild Lili Avar, Christina Chelaru
Kostüm Christina Schmitt
Make-Up Saskia Wegner
Ton Max Harstang, Augusto Gerardi
Casting David Vajda, Saša Vajda

Hier der Trailer:



Elisabeth' Filmkritik:

Egon werden die Haare geschoren. Die, die ihm die Haare vom Kopf kratzen, sieht man nicht. Der Raum ist farblos und trist. Die Kamera konzentriert sich auf Egons Gesicht. Er hält nicht still, aber man kann nicht entschlüsseln, was mit Egon los ist. Es hat Vorteile, wenn man sich auf einen Film einlassen kann, ohne irgendetwas über die Handlung und die Figuren zu wissen. Doch man möchte das, was man sieht, interpretieren. Und so denkt man zuerst an Zwang. An einen Übergang in eine Gefangenschaft. Der Akt des Haarescherens kann aber auch ein Loslassen von alten "Zöpfen", von Vergangenem sein, auf das etwas Neues komme. Zumindest im Buddhismus steht das Ritual für eine Erneuerung.

Der Titel dieses mittellangen Filmes deutet jedoch in die christliche Glaubensrichtung und sogleich ist man in einem Raum, der zwar hell ist, aber das Gefühl einer Geschlossenheit ausstrahlt. Ein Mann betet zu einem Kreuz, trägt aber kein Priestergewand. In dem Raum sitzen viele wie Egon, auch Frauen. Und somit verwirft man den Gedanken, dass dieser Ort, an dem Egon sich befindet, ein Gefängnis sein könnte. Ja, es ist schwierig, dieses Grundgefühl um dieses Porträt zu vermitteln, ohne diesen Umstand zu erwähnen. Egon befindet sich irgendwo außerhalb Berlins in einer evangelikalen Einrichtung. Er ist suchtkrank und will sich helfen lassen.

Die beiden Regisseure, David und Saša Vajda, wollen die "Einsamkeit einer Psychose" nachzeichnen und sie gehen nahe ran an die Figuren. So nahe, dass es schmerzt. Dass sich eine innere Unruhe überträgt. David Vajda, Jahrgang 1989, studierte Philosophie in London, Saša Vajda, drei Jahre älter, studierte ebenfalls Philosophie, aber in Paris. Zwei Jahre recherchierten sie in "ihrer Nachbarschaft in Berlin-Neukölln" und in Methadonkliniken und Fixerstuben. Sie stießen dann auf evangelikale Lebenshilfe-Angebote, in denen, so schreiben sie im Pressematerial "fehlende therapeutische Betreuung, eine strenge Arbeitsroutine und einfache Antworten auf große Fragen für ein labiles Umfeld sorgen". Das springt ins Auge. Egon ist bereits labil. Die Regisseure entschieden sich für eine beobachtende Studie, die Kamera von Antonia Lange ("Waldgeist"), vermittelt einen dokumentarischen Stil. Egon und den anderen in der Gruppe zuzuschauen ist anstrengend und wird zunehmend unbequemer. Die fehlende Betreuung ahnt man sofort, denn Egon sprengt mit seinen Ticks die Runde. Man würde ihm eine andere Betreuung wünschen. Aber das ist kein Wunschkonzert.

Und so fragt man sich, was die Intention der Filmemacher war. Sie wollten diesen Menschen näher kommen, deren Wahrheit ergründen, ohne Voreingenommenheit. Sie casteten Laien, arbeiteten mit Improvisationen und setzten diese in ein 360°-Set, so dass die Kamera ebenso spontan reagieren könne. Egon verfällt zunehmend in eine Psychose. Er sieht dieses vereinfachte Angebot der Messias-Lehre als Wunder, dem er sich ganz hingeben will. Ob man ihn da noch folgt, sei dahin gestellt. Abschütteln kann man die Bilder von "Jesus Egon Christus" kaum.

Elisabeth Nagy


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