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Kinobranche ist trotz der Corona-Einschränkungen halbwegs zufrieden

Heute gibt es neue Filmkritiken zu aktuellen Kino- und VoD-Starts im Juli 2020.



Wir müssen uns entschuldigen, dass wir am heutigen Samstag, den für den Vorabend geplanten Artikel über neue Kinostarts, erst mehr als 20 Stunden später veröffentlichen. Aber in der Urlaubszeit sind auch wir manchmal unterwegs, sodass die Arbeit für den BAF-Blog dann leider ruhen muss.

Keine Ruhe gönnen sich dagegen die Zuschauer. Nach wochenlagen Kinoschließungen ist das Interesse an neuen Filmen ziemlich groß geworden. Da die Kinos jedoch wegen der Corona-Krise nur zu maximal 50% belegt werden können, sodass mindestens jeder zweite Sitzplatz frei bleiben muss, sind viele Vorstellungen vorzeitig ausverkauft. Dies trifft insbesondere bei Freilichtvorstellungen zu, auch wenn das Wetter nicht immer mitspielte. Doch abschrecken ließen sich davon nur wenige. Den Kinobetreibern freuts jedenfalls.

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"WAVES" Drama von Trey Edward Shults (USA). Mit Kelvin Harrison Jr., Taylor Russell McKenzie, Sterling K. Brown u.a. seit 16. Juli 2020 im Kino. Hier der Trailer:



Ulrikes Filmkritik:

Die Anfangsszene ähnelt einer schrill bunten Collage. Die Kamera kreist um den 18-jährigen Tyler und seine Freundin Alexis, die ausgelassen in einem Pickup im sonnendurchfluteten Florida den Highway entlang brettern und lauthals einen Song der Indierock-Band Animal Collective mitsingen.

Die Kamera schwenkt auf einen Sportplatz, kreist durch ein Klassenzimmer, zurück zum Auto, indem jetzt eine fröhliche Partyclique versammelt ist. Die Musik dröhnt. So sieht Unbeschwertheit aus.

Tyler (Kelvin Harrison) und seine Freundin Alexis (Alexa Demier), genannt Goddess, er mit blondiertem Afro-Look, lieben das wilde Partyleben. Für Tyler ein Ventil, so kann er dem häuslichen Druck entfliehen, den sein Vater (Sterling K. Brown) auf ihn ausübt.

„Den Luxus nur Durchschnitt zu sein, kann eine schwarze Familie, wie wir Ronalds es sind, nicht leisten“. Er treibt seinen Sohn in ein hartes Sportprogramm. Im Ringerteam seiner High School gehört er zu den Besten. Er arbeitet hart, um Karriere als Profisportler zu machen. Ob er das wirklich will, sei dahingestellt. Auf jeden Fall, setzt er alles daran, den hohen Anforderungen, die sein Vater an ihn stellt, gerecht zu werden. Eine Sportverletzung an der Schulter, macht ihn zum Invaliden. Er lässt sich nichts anmerken, betäubt die Schmerzen mit starken „Painkillern“. Die äußere Fassade, beginnt zu bröckeln. Er wird nicht mehr zu Wettkämpfen zugelassen. Als seine Freundin ihm gesteht, dass sie schwanger ist und das Kind behalten will, kommt es zu einem Streit.

Auf einer Party betäubt er sich mit einem Cocktail aus Alkohol, Drogen und Tabletten. Tyler tickt aus. Die Situation eskaliert. Er begeht eine schreckliche Tat, nach der nichts mehr ist wie vorher.

Hilflos muss seine kleine Schwester Emily (Taylor Russell) mit ansehen, wie ihre Eltern, schwer traumatisiert, an der Tat ihres Bruders zerbrechen. Der Traum einer schwarzen Vorzeigefamilie ist zerplatzt. Sie ist es, die durch Mitgefühl zur Vergebung findet und der Familie am Ende Frieden bringt. Ihr zur Seite steht Luke (Lucas Hedges), auch er hat Differenzen mit seiner Familie.

Schuld, Liebe, Verantwortung, Trauer und Vergebung, sind die universellen Themen, die der 31-jährige Regisseur und Autor Trey Edward Shults in seinem Film WAVES hochemotional verhandelt. Sein Film gleicht einem Tsunami. Er reißt einen mit, in ein wellenförmiges Auf und Ab, aus fiebrig grellen Bild-und Toneffekten, ruhigen Momenten und tiefen Gefühlen.

Der Song WHAT A DIFFERENCE A DAY MADE ist ein zentrales musikalisches Leitmotiv in seinem wuchtigen Drama.

Ulrike Schirm


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"MARIE CURIE – Elemente des Lebens" Biopic-Drama von Marjane Satrapi (Großbritannien). Mit Rosamund Pike, Sam Riley, Aneurin Barnard u.a. seit 16. Juli 2020 im Kino. Hier der Trailer:



Ulrikes Filmkritik:

Paris 1934. Weil die Forscherin Marie Ssklodowska, 7. Nov. 1867 – 4. Juli 1934, gespielt von Rosamund Pike, in ihrer Heimat Polen als Frau keine Universität besuchen durfte, ging sie nach Paris, um Physik und Chemie zu studieren. Sie war die Entdeckerin der Radioaktivität. Der Begriff wurde von ihr geprägt. An der von Männern dominierten Pariser Universität Sorbonne stieß sie auf Widerstand. Unter dem Vorwand, ihre Geräte würden zu viel Platz einnehmen, musste sie die Universität verlassen. Der Wissenschaftler Pierre Curie (Sam Riley) erkennt ihr Potential. Die beiden verlieben sich, heiraten und bekommen ein gemeinsames Forschungslabor in Versailles. Nach vier Jahren entdecken sie die Elemente Polonium und Radium. Eine Entdeckung, die die Welt veränderte, im Positiven als auch Negativen.

1903 wird das Ehepaar dafür mit einem Nobelpreis ausgezeichnet. Nachdem ihr Mann Pierre bei einem Autounfall frühzeitig ums Leben kommt, stürzt sich seine Witwe noch mehr in die Arbeit, obwohl sie durch die ständige Strahlenbelastung gesundheitlich angegriffen ist. Ihr Lohn, ein zweiter Nobelpreis, diesmal in Chemie. Sie ist die einzige Wissenschaftlerin, die zweimal mit einem Nobelpreis ausgezeichnet wurde. Ihre Forschungen führt sie gemeinsam mit ihrer Tochter Irene fort. Die Nobelpreisvergabe an ihre Tochter erlebt Marie Curie nicht mehr.

Im Mittelpunkt des feministischen Biopics steht eine unbeugsame Frau, der große wissenschaftliche Durchbrüche gelungen sind und die aufgrund ihres Geschlechts zeit ihres Lebens mit Widerständen in der männlich dominierten Wissenschaftswelt zu kämpfen hatte. Als man die Gefährlichkeit der Strahlung entdeckt hatte, wird sie als „Polnischer Abschaum“ beschimpft.

„Marie Curie – Elemente des Lebens“ ist bereits die vierte Verfilmung über diese unbeirrbare Frau.

Um sich von den vorhergehenden Spielfilmen abzugrenzen, baut Marjane Satrapi raffinierte visuelle Effekte ein, in denen die heutigen Anwendungen und Auswirkungen ihrer Entdeckung in Form von fiktiven, teilweise dramatischen Szenarien gezeigt werden. Aufnahmen von Atombombentests, Bilder des zerstörten Reaktors in Tschernobyl oder Bilder eines krebskranken Kindes, das dank der Bestrahlung behandelt werden kann oder Curie selbst, wie sie durch das zerstörte Hiroshima läuft. Das kann man durchaus machen, passt aber nicht so ganz zu der vorhergehenden, ziemlich konservativen Erzählweise des Biopics.

Ulrike Schirm


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"BERLIN ALEXANDERPLATZ" Alfred Döblins Jahrhundertroman von 1929 eindrucksvoll aktualisiert von Burhan Qurbani (Deutschland, Niederlande). Mit Welket Bungué, Jella Haase, Albrecht Schuch u.a. seit 16. Juli 2020 im Kino. Hier der Trailer:



Ulrikes Filmkritik:

Francis ( Welket Bungué) ist der einzige Überlebende eines gekenterten Flüchtlingsboots. Halb lebendig, halb tot wird er an einen Strand in Südeuropa gespült. Auch seine Frau ist unter den Toten. Er fühlt sich für ihren Tod verantwortlich und schwört sich, von nun an ein guter Mensch zu sein”¦”¦doch hat man ihn nicht gelassen.

Burhan Qurbani hat Alfred Döblins 1929 erschienenen Romanklassiker BERLIN ALEXANDERPLATZ in die heutige Zeit verlegt.

Francis ist in Berlin angekommen. Ohne gültige Papiere schuftet er nachts auf einer Großbaustelle in der Nähe des Alexanderplatzes, zwischen Lärm und Dreck. Untergekommen ist er in einem Flüchtlingsheim am Rande der Stadt. Dort trifft er auf den Kleinkrimminellen Reinhold (Albrecht Schuch), der dem Geflüchteten viel Geld für wenig Arbeit verspricht. Er tauft ihn auf den Namen Franz. Bevor Francis für ihn Drogen vertickt , arbeitet er erst einmal als Koch für Reinhold und seine Dealer, die in der Hasenheide herumlungern. Nun heißt er so, wie der vorbestrafte Franz Biberkopf aus Alfred Döblins Roman, der 1929 aus dem Gefängnis entlassen wird und sich als strauchelnder Lohnarbeiter durchschlägt. Doch Francis will mehr „als nur ein Bett und ein Butterbrot“.

Immer mehr wird Francis zur rechten Hand von Reinhold, der für den Unterweltkönig Pums (Joachim Król) arbeitet, immer auf der Suche nach geeigneten Typen, die für Pums zwielichtige Geschäfte in Frage kommen. Es kommt wie es kommen muss: Francis gerät auf die schiefe Bahn.

Auch die Hoffnung auf ein bisschen Glück mit seiner Freundin, der Prostituierten Mieze (Jella Haase), erfüllt sich nicht. Es ist ein Hin-und Her, zwischen Glück und Tragik.

Hier stehen sich zwei Schauspieler gegenüber, die unterschiedlicher nicht sein können. Der große, wuchtige, charismatische Francis, der an seinen guten Vorsätzen und den Verhältnissen in der neuen Heimat scheitert und Reinhold, ein verschlagener, abgewichster Verführer ohne jegliche Moral, der mit seiner Fistelstimme und seiner verkrümmten Körperlichkeit einen fiesen deutschen „Joker“ darstellt. Erst in seiner späteren Hassliebe zu Francis, nimmt er menschliche Züge an.

In Burhan Qurbanis neuer Interpretation wird „Berlin Alexanderplatz“ zu einer Parabel auf die Gegenwart des globalen 21. Jahrhunderts. Drei Stunden großes Kino.

Ulrike Schirm


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"WESTERLAND" Drama von Tim Staffel (Deutschland) aus dem Jahre 2013. Mit Burak YiÄŸit, Wolfram Schorlemmer, Jule Böwe u.a. neu aufgelegt auf Video-on-Demand (VoD) vom Salzgeber Club (www.salzgeber.de). Hier der Trailer:



Ulrikes VOD-Kritik:

Westerland, Sylt. Es ist Winter. Von der üblichen Schickimicki Gesellschaft ist weit und breit nichts zu sehen, als der lebenslustige Deutschtürke Cem am leeren Strand Jesús sieht, der dort auf einer Bank sitzt und sich eine Plastiktüte über den Kopf gezogen hat. Er nimmt ihn in seine kleine Wohnung und kümmert sich um ihn. Der etwa 20-jährige Cem lebt auf der Insel. Er arbeitet tagsüber beim Ordnungsamt und abends bereitet er sich auf seine Abiturprüfung vor, denn er will unbedingt Landschaftsarchitektur studieren. Er ist sehr diszipliniert und mit großem Eifer bei der Sache. Er fühlt sich wohl in seinem Freundes-und Familienkreis. Es stellt sich heraus, dass der etwa gleichaltrige Jesús genau das Gegenteil von dem lebensbejahenden Cem ist. Er kifft, klaut, leidet unter Essstörungen und seiner Mutter hat er vorgelogen, eine Schauspielschule zu besuchen. Je mehr Cem über ihn erfährt, desto mehr fühlt er sich zu ihm hingezogen. Auch Jesús weicht nicht mehr von Seite. Eine merkwürdige Anziehungskraft herrscht zwischen ihnen. Cem wird zum Kümmerer. Er vernachlässigt seine Freunde, meldet sich immer öfter krank und seine beruflichen Pläne geraten immer stärker in den Hintergrund. Auch seine kleine Wohnung vermüllt immer mehr. Als Jesús sich Cems Namen unter die Haut ritzt und in einem Moment der Einsicht die Fliesen in Cems Bad mit roter Farbe beschriftet: Du sollst nicht kiffen. Du sollst nicht kotzen. Du sollst nicht lügen. Du sollst nicht sterben, merkt Cem, dass er dieser Beziehung nicht mehr gewachsen ist.

„Westerland“ ist das Spielfilmdebüt des Autors und Regisseur Tim Staffel, basierend auf seinem Roman "JESíšS und MUHAMMED" von 2008. Kommunikation sieht anders aus. Die graue, spröde Winterlandschaft, deckt sich mit der spröden Introvertiertheit des Jungen Jesús. Warum ausgerechnet diese zwei Menschen zueinanderfinden, ist für Cems Freunde und Familie unerklärlich. Liebesbeziehungen sind für Außenstehende oft nicht nachvollziehbar.

Steffel arbeitet mit Großaufnahmen seiner Protagonisten, sucht in ihren Gesichtern nach Gefühlsregungen, da ihre sprachliche Kommunikation sehr wortkarg ist. Auch eindeutige sexuelle Momente lässt er weg. Ihn interessiert die Psychologie, die im Verhaltensmuster dieses ungleichen Paares steckt und wie es dazu kommt, dass Liebe zu einer toxischen Abhängigkeit führt. Das ist spannend und traurig zugleich.

Darsteller: Cem (Murat Seven) Jesús: (Wolfram Schorlemmer) In weiteren Rollen: Burak Yigit, Maxim Mehmet, Jule Böwe.

„Westerland“ lief auf der Berlinale 2012.

Ulrike Schirm


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