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20 Jahre ACHTUNG BERLIN Filmfestival und ein regulärer Kinostart

Mit dem dystopischen Drama "Milchzähne" von Sophia Bösch eröffnet am heutigen Mittwochabend, den 10. April 2024, die 20. Ausgabe von "achtung berlin - new berlin film award" im Colosseum Kino in Berlin-Friedrichshain.



Parallel zu seiner Uraufführung im Januar auf dem 45. Filmfestival Max Ophüls Preis (ffmop) in Saarbrücken feierte das deutsch-schweizerische Drama "MILCHZÄHNE" von Sophia Bösch auf dem Internationalen Filmfestival von Rotterdam (IFFR) auch seine Weltpremiere.

Die 20. Ausgabe des ACHTUNG BERLIN Filmfestivals konnte allerdings den dystopischen Spielfilm mit Mathilde Bundschuh in der Hauptrolle für die Berlin Premiere gewinnen und eröffnet damit am 10.04.2024 um 19:30 Uhr das Festival im historischen Saal des Colosseum Kinos in Berlin-Friedrichshain.

Das Filmdebüt der schweizerisch-schwedischen Regisseurin ist die Adaption des gleichnamigen Romans der jungen Autorin Helene Bukowski und hochkarätig mit Ulrich Matthes als Dorfvorsteher besetzt.

Als Tochter einer Außenseiterin ist Skalde (Mathilde Bundschuh) seit jeher darum bemüht, das Stigma, das auf ihrer Mutter Edith (Susanne Wolff) liegt, zu überwinden und von der Dorfgemeinschaft akzeptiert zu werden. Während ihr Wunsch dazuzugehören, Mutter und Tochter auseinandergetrieben hat, ist Skalde zum Schützling des Dorfvorstehers Pesolt (Ulrich Matthes) und ein geachtetes Mitglied der Gemeinschaft geworden.


Eines Tages findet sie ein fremdes Kind im Wald. Obwohl sie weiß, dass die abgeschottet lebende Gemeinde keine Fremden duldet, nimmt Skalde das einsame Mädchen aus einem Impuls heraus mit nach Hause. Das Wolfskind Meïsis (Viola Hinz) muss sich verstecken, darf auf keinen Fall gesehen werden. Als das Dorf dennoch von dem Kind erfährt, drohen ihr schwerwiegende Konsequenzen, denn Skalde hat das Gesetz gebrochen. Um ihre Position zu behalten und das Kind zu schützen, schlägt sie der Gemeinschaft ein riskantes Geschäft vor.

Trotz atmosphärischer Spitzen verläuft der Mysterythriller inszenatorisch und erzählerisch sehr konventionell, sodass es „Milchzähne“ nur selten gelingt, sich aus der Masse anderer dystopischer Werke abzuheben.

Leider ist ACHTUNG BERLIN auch im 20. Jahr bisher kein Premierenfestival geworden. Nachdem sich die Berlinale von der Sektion »Perspektive Deutsches Kino« verabschiedet hat, obwohl die meisten deutschen Filme in der Hauptstadt gedreht werden, könnte man eigentlich erwarten, dass Berlins zweitgrößtes Spielfilm- und Dokumentarfilmfestival sich zukünftig für mehr Uraufführungen engagieren würde. Immerhin werden nicht nur die meisten hier gedrehten Filme vom Medienboard Berlin-Brandenburg gefördert, auch ACHTUNG BERLIN bekommt vom Medienboard Unterstützung, im Gegensatz zu manch anderen Berliner Filmfestivals.

Es fehlt offensichtlich der Wille dazu, sich von der breiten Masse anderer zweitrangiger Filmfestivals in Deutschland abzuheben. Immerhin werden über 80 Filme in 9 Sektionen und 9 Berliner Kinos in den nächsten Tagen vom 10. – 17. April 2024 gezeigt.

Einen Überblick über die zwölf Wettbewerbsbeiträge des abendfüllenden Spielfilms hatten wir am 10. März 2024 veröffentlicht. Unser Bericht zu den die abendfüllenden Dokumentarfilme des Wettbewerbs folgte am 17. März 2024.

In Ergänzung zum Langfilm-Wettbewerb wird mit den Sektionen Berlin Spotlights, Berlin Special und Berlin Series das Filmprogramm des Festivals als umfassende Werkschau des jungen deutschen Kinos aus Berlin-Brandenburg komplettiert.

Darüber hinaus präsentiert das Festival in der diesjährigen Jubiläumsausgabe sechs Spiel- und vier Dokumentarfilme im Wettbewerb Mittellanger Film und der Wettbewerb Kurzfilm verweist im kurzen Format auf die großen Themen und bietet gleichzeitig ein Experimentierfeld, auf dem sich künftige Filmsprachen herausbilden. 24 Kurzfilme unterschiedlicher Genres zeigen Einblicke in verschiedenste Lebenswelten: mal poetisch oder essayistisch, mal pointiert und witzig, wieder andere lakonisch oder politisch.

Link: achtungberlin.de

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Während wir von "MILCHZÄHNE", dem ausverkauften Eröffnungsfilm des ACHTUNG BERLIN Filmfestivals, nicht wirklich überzeugt waren, begeisterte uns dagegen schon im Dezember auf dem Festival "Around the World in 14 Films" der italienische Abenteuerfilm "LA CHIMERA" von Alice Rohrwacher, der nach seiner Premiere in Cannes dort seine Berlin-Premiere feierte und morgigen Donnerstag bundesweit in den Kinos startet.

"LA CHIMERA" Tragikomödie von Alice Rohrwacher (Italien / Schweiz / Frankreich, 2023; 130 Min.) Mit Josh O'Connor, Carol Duarte, Isabella Rossellini ab 11. April 2024 in den deutschen Kinos. Hier der Trailer:



Elisabeths Filmkritik:

Es ist Geschichte, die das Heute und das Gestern verbindet. Die Archäologie ist, vereinfacht gesagt, eine Wissenschaft, die die Hinterlassenschaften vorangegangener Kulturen und Epochen aufspürt, einordnet und aufbereitet. Dabei geht es nicht nur um spektakuläre Funde wie Büsten, Vasen, Schmuck. Sondern auch darum, wie Menschen gelebt haben. Um ihr Klima, um ihr Handwerk, die Verbindungen untereinander, ihre Lebensgewohnheiten. Es geht um Befunde. Grabräuber zerstören die Grundlage, mit der Archäologen arbeiten. Viele denken auch nicht an Howard Carter, der das Grab von Tutenchamun gefunden hatte, oder Heinrich Schliemann, der nach Troja gesucht hatte, um zwei der berühmtesten Vertreter der Zunft zu nennen, die für ihre Funde bekannt wurden. Die meisten werden vielmehr an Lara Croft und Indiana Jones denken.

Das wird auch die Festivalmannschaft von Cannes erfreut haben. Cannes zeigte 2023, sicherlich um dem Mainstream-Hollywood-Kino eine Bühne zu geben, den letzten Indiana Jones-Film, der kläglich an der Kinokasse um seine Einspielkosten kämpfen musste. Aber eben auch "La Chimera" der italienischen Regisseurin Alice Rohrwacher. Von Cannes aus ging es auf ein Festival nach dem anderen. Im Kino der Berliner Kulturbrauerei konnte man im Dezember letzten Jahres "La Chimera" als Eröffnungsfilm des Filmfestivals "Around the World in 14 Films" bewundern.

Rohrwachers Hauptfigur ist der Brite Arthur. Dessen Darsteller Josh O'Connor ist bis dato dafür bekannt, dass er Prince Charles in der Serie "The Crown" gespielt hat. Nach "La Chimera" wird er sicherlich noch öfters rauf und runter besetzt werden. Noch in diesem Monat wird er zum Beispiel in dem Sportdrama "Challengers - Rivalen" von Luca Guadagnino in einer der Hauptrollen auftauchen. Sein Arthur ist ein Ritter ohne Rüstung, aber in einem hellen Anzug, der sicherlich irgendwann einmal was hergemacht hat, und jetzt von Szene zu Szene mehr und mehr Patina annimmt. Sein Arthur ist von trauriger Gestalt, doch unnahbar und entrückt. Und doch ist es diese Gestalt, die uns in ein Italien in den 80ern führt, und uns etwas über die Frauenschicksale und das Leben der Ärmsten unter den Armen erzählt.

Arthur wäre vielleicht gerne ein Archäologe, aber er ist nur ein Wünschelrutengänger, der die besondere Gabe hat, verborgene Schätze zu finden. Die Handlung führt ihn auf der Reise in ein italienisches Küstenstädtchen ein. Er kommt gerade aus dem Knast und ist immer noch in Trauer um seine Freundin, die aus dem Ort, in dem er nun landet, stammt. Mit seinen alten Kumpels möchte er nichts zu tun haben. Aber er ist für diese leichte Beute. Sie fangen ihn schon am Bahnhof ab.

Arthur ist eine traumwandelnde Gestalt, die zwischen dem Hier und Jetzt und dem Vergangenen feststeckt. Er gehört nun nirgendwo mehr richtig hin. Er hat noch nicht einmal eine Bleibe. Nur einen Bretterverschlag, der an der Stadtmauer klebt. Selbst diese Bleibe scheint sich weder innerhalb noch außerhalb der Stadt und der Geschichte zu befinden. Er besucht die Mutter seiner Freundin und deren zahlreiche Schwestern. Er dockt hier an eine Wahlfamilie nach der anderen an und bleibt doch suchend. Dabei ist es wohl seine Suche, die ihn an die Vergangenheit bindet. Aus der er nie wirklich erwachen kann. Die anderen Figuren wecken ihn scheinbar immer nur kurz auf.

Arthurs Kumpel brauchen ihn derweil, damit er weitere etruskischen Gräber aufspürt. Immer auf der Suche nach dem ultimativen Fund, der ihnen Reichtum oder auch weniger Armut beschere. Die kostbaren Funde wollen sie an einen dubiosen Kunsthändler verscherbeln. Das ist ihr primäres Einkommen und ihr Lebensinhalt. Es sind halt Grabräuber. "La Chimera" ist darum auch kein Psychogramm, sondern ein Abenteuerfilm und gleichzeitig ein Märchen mit einer Portion italienischem Neorealismus. Letztlich geht es auch Alice Rohrwacher darum, aufzuzeigen, wie wir gelebt haben und wie alles irgendwie zusammenhängt.

Alice Rohrwacher wurde vor 10 Jahren mit dem Film "Land der Wunder" bekannt. In Cannes gewann der Film über eine deutsch-italienische Familie, die sich abmüht, Honig zu produzieren, den großen Preis der Jury und in München den CineVision-Award. Es folgte 2018 der Film "Glücklich wie Lazzaro", über einen jungen Mann, der die harten Bedingungen der Arbeiterschaft mit stoischer Gutmütigkeit erträgt. "La Chimera" ist nun der dritte Teil dieser Trilogie. Die Frage, ist auch hier, was Vergangenheit bedeuten kann. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft bedeuten für die handelnden Figuren Verschiedenes. Es sind auch verschiedene Trugbilder, die im Titel angegeben Chimären, die sie durch die Handlung begleiten.

Arthur lebt in einer kaum vergangenen Vergangenheit, in der er noch mit seiner Freundin zusammen ist. Rohrwacher verbindet die Szenen der verschiedenen Zeiten so, dass auch das Publikum in ein Gefühl der Gleichzeitigkeit gerät, in dem seine Freundin noch lebt und in der seit Jahrhunderten verborgene Gräber sich ihm wie ein weiterer Weg auftun. Vieles ist hier Traum, vieles ist hier Trauer. Den verstorbenen Seelen, die ihm begegnen, bedeuten unsere Zeitbegriffe nichts. Arthur ist hier eine Orpheus-Gestalt, die uns durch einen magischen Realismus führt, wie ihn die Regisseurin, hier zusammen mit der Kamerafrau Hélène Louvart und der Cutterin Nelly Quettier, ganz eigen ist.

In "La Chimera" deuten zwar Aufnahmetechnik und Filmmaterial auf die einzelnen Stränge hin, aber das muss einem gar nicht groß auffallen. Vielmehr sollte man sich hier fallen lassen und auf die Geschichte vertrauen, die sich eher nicht rational zusammenfügt und dann erst ihre Frucht und Geschmack freigibt, wenn sie zu Ende gesponnen wurde.

Elisabeth Nagy


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