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Filmkritiken zur Berlinale, Teil 3

Heute Filmkritiken aus der Sektion »Generation 14plus« und zu einem ganz wunderbaren Film aus der »Panorama-Spielfilmsektion« - während zwei chinesische Filme leider aus dem Programm genommen werden mussten.



Bevor wir zu unseren heutigen Filmkritiken von der Berlinale kommen, ein aktueller Hinweis. Der Film "One Second" des chinesischen Regisseurs Zhang Yimou kann leider nicht am 15. Februar 2015 im Wettbewerb der Berlinale präsentiert werden. Offiziell werden technische Gründe bei der Post-Production genannt, aber es dürfte ziemlich klar sein, dass China Zensur ausgeübt hat und den Film nicht freigab.

"One Second" spielt in Zeiten von Maos Kulturrevolution in China zwischen 1966 und 1976, in der es Schätzungen zufolge fast eine halbe Mio. Todesopfer sowie millionenfache Fälle von Folterungen gegeben hat, die zwar von der kommunistischen Partei Chinas zwischenzeitlich als großer Fehler eingeordnet wurden, aber weiter als Tabuthema gelten, über das nicht gesprochen werden darf.


Anstelle des ausgefallenen Films wird "Hero", ein älteres Werk des Regisseurs aus dem Jahre 2003, außer Konkurrenz gezeigt.

Außerdem möchten wir darauf hinweisen, dass der nachfolgend besprochene Film "Rekonstruktion Utí¸ya" aus der Sektion »Generation 14plus« außer Konkurrenz lief, aber wegen Wegfall des chinesischen Films "Shao nian de ni" (Better Days) von Regisseur Derek Kwok-cheung Tsang, der ebenfalls in der Sektion »Generation 14plus« hätte laufen sollen, heute, den 14. Februar 2019, noch weiteres Mal um 15:30 Uhr im Zoo Palast 1, Hardenbergstraße 29A, 10623 Berlin wiederholt wird.

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"Rekonstruktion Utí¸ya" (Reconstructing Utí¸ya)
von Carl Javér, Schweden / Norwegen / Dänemark
Generation 14plus (außer Konkurrenz)
Internationale Premiere am 13. Februar 2019
Hier der Trailer:



Synopsis:
Vier Jugendliche rekonstruieren in einer performativen Auseinandersetzung, wie sie im Sommer 2011 den Amoklauf auf der norwegischen Insel überlebten. Ein bewegender Dokumentarfilm über die gemeinsame Bewältigung eines Traumas und das Finden neuer Hoffnung.


Der Film wurde kürzlich beim Schwedischen Filmpreis Guldbagge für die beste Regie sowie als bester Dokumentarfilm ausgezeichnet. Hier die von uns versprochene Filmkritik:

Elisabeths Filmkritik:

Ruhig liegt die Landschaft in der Totalen vor uns da. Von oben blicken wir auf ein Areal herab, das frei in der Natur liegt und dabei so abwechslungslos wirkt. Hier hat sich eine Gruppe Jugendlicher zusammengefunden, um bei einem Projekt quasi als Statist zu fungieren. Vier Überlebende des Terroranschlags auf das Sommercamp auf der Insel Utí¸ya, am 22. Juli 2011, haben sich bereit erklärt, ihre Erinnerungen zu teilen. Eine psychologische Betreuung war vor Ort. Wie teilt man Erinnerungen, die so mit Emotionen aufgefüllt sind, sagte eine der Überlebenden, dass sie für einen Außenstehenden begreifbar werden? Kann man das Geschehen überhaupt begreifen?

"Reconstructing Utí¸ya" dokumentiert nicht das Geschehen und auch nicht die Erinnerung, sondern den Prozess, sich dieser Erinnerung zu stellen, sie aktiv nachzustellen und ist auch dann noch da, wenn die vier Überlebenden in Gesprächen sich ihren Gefühlen stellen. Dabei verzichtet das Projekt auf visuelle Reize und bleibt dabei doch filmisch. Eine große Filmhalle dient als Bühne. Das Licht gibt den Boden unter den Füßen frei und lässt die Wände im Dunkeln ausblenden.

Jede der vier Überlebenden: Rakel, Mohammed, Jenny und Torje, erzählen ihre Geschichte für sich. Immer wieder geht der Film auf Anfang und zeigt einen anderen Blickwinkel. Allein in diesem Raum, der kein Raum ist, sondern eine Leere, die Anfang und Ende zugleich sein kann, die für den einen wirkt, als wäre man noch im Mutterleib geborgen, während ein anderer vielleicht die totale Einsamkeit im Moment des Sterbens assoziiert, ist eine ästhetische Idee, die filmisch nicht neu wirken mag (Lars von Trier hat so einen Raum in "Dogville" verwendet.), die aber den vier Überlebenden die Möglichkeit gibt, diesen Raum für sich zu erobern und zu etwas zu machen, ohne mit Bildern konfrontiert zu werden, die nicht denen in ihrem Inneren übereinstimmen.

Mit weißem Klebeband geben sie diesem 'Unraum' Struktur. Aus der Gruppe der Jugendlichen wählen sie jemanden oder einige aus, die ihre Erinnerungen nachspielen. Die Jugendlichen, die nicht mehr als das wissen, was ihnen diese Anweisungen mitgeben, sind demzufolge diesem Erlebten ausgeliefert. Sie schweben zwar nicht in der gleichen Gefahr, dafür erleben sie die Unvorhersehbarkeit der Ereignisse, was sich auf das Publikum im dunklen Kinoraum überträgt. Gerade sei man noch so fröhlich gewesen, erzählt einer der Überlebenden, und im Hintergrund hört man das unbeteiligte Geplapper. Auch wenn "Reconstructing Utí¸ya" sich auf das Beobachten eines Projektes beschränkt, weiß es die Mittel vor Ort zu nutzen.

In vier Kapiteln nehmen wir jeweils eine Person in ihrem Alleinsein wahr, um im Folgenden ihre Erlebnisse in der Gruppe zu erleben.

Noch stärker als das aktive Arrangieren der Figuren, ist mitunter der Klang, der bei den Vieren Erinnerungen wecken kann. So suchen sie auch erst einmal mit den vor Ort vorhandenen Materialien und Utensilien die Geräusche, die jenen damals nahe kommen. Auch die Musik greift nach der Erinnerung. Der Komponist Kjetil Schjander Luhr spielte Teile des Scores auf der Insel, im großen Saal ein. Die Möglichkeiten, dem willkürlich tödlichen Massaker zu entkommen, waren unterschiedlich und es gab keine Sicherheiten, die gerade diesen Vieren das Überleben ermöglichte. Aus der Künstlichkeit der Rekonstruktion geht die Kamera dann mit in die Natur, während jede/r einzeln in kleinerer Gruppe oder fast in Dialog, über das Erlebte spricht. Dabei gewährte das Filmteam der Gruppe den größtmöglichen Abstand. Während die Kamera dem Projektverlauf folgte, war es den Überlebenden möglich, das Wie und Wo und die Abfolge selbst zu bestimmen. Sie haben die Kontrolle über ihre Erlebnisse, über die Art, wie sie diese teilen und wie weit sie diese teilen.

Vor einem Jahr wurden die Ereignisse auf der Insel Utí¸ya von Erik Poppe ("Utí¸ya 22. Juli") auf der Berlinale gezeigt. Eine Rekonstruktion in Echtzeit, die meiner Meinung nach für die Mitwirkenden kein Gespür zeigte und das Gemetzel auf den Nenner des Horrors niederbrach. Paul Greengrass' "22. Juli" hob eine Geschichte unter vielen heraus und kann in seinem Drama ebenso wenig die Dimensionen vermitteln.

"Reconstructing Utí¸ya", dessen Konzept stellte man zuerst der Support-Gruppe 22. Juli vor, die für die Überlebenden und den Angehörigen der Verstorbenen da ist. So lässt die Überlebenden selbst den Weg bestimmen und führt das Publikum nahe an sie heran. Die schwedischen Filmpreise, die Guldbagge Awards, kürten "Reconstructing Utí¸ya" mit dem Preis für den besten Dokumentarfilm.

Elisabeth Nagy


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Hinweis:
Für unsere nachfolgende Filmkritik müssen wir leider noch ohne Trailer auskommen, denn Kinotrailer liegen bei Weltpremieren nur sehr selten vor. Sie werden meist erst auf YouTube gehostet, wenn der Film einen Verleih hat und auch regulär ins Kino kommt. Wir begnügen uns deshalb mit Filmstills, soweit sie uns zur Verfügung stehen.

"Ł avovi" (Stitches)
von Miroslav Terzić | mit Snezana Bogdanovic, Marko Bacovic, Jovana Stojiljkovic, Vesna Trivalic, Dragana Varagic
Serbien / Slowenien / Kroatien / Bosnien und Herzegowina 2019
Panorama
Weltpremiere am 11. Februar 2019

Filmstill: "Ł avovi" (Stitches) © Miroslav Terzić, Quelle: 69. Berlinale 2019


Synopsis:
Ana glaubt, dass ihr und anderen serbischen Frauen vor 20 Jahren ihre neugeborenen Babys weggenommen wurden, um durch illegale Adoptionen Geld zu verdienen. Sie macht sich auf die Suche. Nach einem wahren Skandal, dessen Aufklärung bis heute andauert.

Elisabeths Filmkritik:

Es ist ein Tag, ein Tag vielleicht wie jeder andere, Ana (Snežana Bogdanović) zündet die Kerze auf einem Geburtstagskuchen an. Sie ist allein in dem Raum, auch wenn sie nicht alleine ist. Ihr Ehemann setzt sich kurz dazu, so, als könnte er diesem Ritual nicht ausweichen. Die Tochter kommt nur kurz in das Zimmer, sieht die Torte und die Kerze und dreht sich mit der Schroffheit, die Kinder ihren Eltern manchmal entgegenbringen, um und verlässt den Raum.

Für Ana ist weder die eine noch die andere Reaktion neu. Sie lebt in einer Blase des Schmerzes und der Ungewissheit, aus der sie nur die Wahrheit erlösen könnte.

Der Regisseur Miroslav Terzić ("Redemption Street", 2012) wurde 2001 Vater und als Elternteil machte er sich nicht nur Sorgen um die Gesundheit seines Kinders. Er hatte von Entführungen gehört. Einige Fälle sollen bis in die 70er Jahre zurückreichen. Er bekämpfte das Gefühl der Angst mit Recherche. Er fand zahlreiche Berichte in der Presse, deren Geschichten sich ähnelten.

"Stitches" zeigt die Kraft in der Beharrlichkeit. Für die Behörden ist Ana lästig, die Familie ist es leid. Die Vergangenheit solle sie ruhen lassen. Die Tochter leidet unter dem Gefühl der Vernachlässigung, wenn ihre Mutter immer nur ihrem verlorenen Sohn nachtrauert. Snežana Bogdanović, einst eine bekannte Theaterschauspielerin, spielt die Mutter mit einer inneren Würde, die in jeder Minute innerlich darum kämpft Sehnsucht, Schmerz und Trauer in Einklang mit dem Alltag zu bringen, und darüber hinaus trotzdem weiter zu machen. Das wird ihr nicht immer gelungen sein in den vergangenen 18 Jahren. Selbst in psychiatrischer Behandlung war sie mal gewesen.

Terzić lernte einst die Näherin seiner Tante kennen. Sie hatte geglaubt, ihren Sohn wiedergefunden zu haben, nachdem sie 20 Jahre lang nach ihm gesucht hatte. Es war scheinbar immer die gleiche Masche. Eine Mutter bekam ein Kind und wurde kurz darauf vom Krankenhauspersonal informiert, dass das Kind gestorben sie. Doch die betroffenen Eltern haben ihre Kinder nicht beerdigen können, die Untersuchungen und Papiere waren widersprüchlich. Die Fälle waren so häufig, und die Aufarbeitung so schleppend, dass sogar das Europäische Gericht der Menschenrechte den Staat Serbien offiziell aufgefordert hat, Antworten zu geben. Das war 2013. Komitees wurden gebildet, aber bis heute ist das Schicksal der Kinder unbekannt.

Das Drehbuch von Elma Tataragić konzentriert sich auf einen Fall. Ana, die Näherin, steht immer wieder, und wie ein Geist, vor dem Krankenhaus, wo die Ärztin arbeitet, die damals die Entbindung vorgenommen hatte. Immer wieder steht sie bei der Polizei, manchmal sitzt sie nur da, um passiv Druck auszuüben, man möge doch ermitteln. Mit Hilfe von Freunden findet sich eine neue Spur. Inzwischen sind Unterlagen digitalisiert. Prompt findet sie die ID-Nummer ihres Kindes mehrfach im System. Fast wünschte man sich eine amerikanische Anwältin würde durch den europäischen Film wirbeln und mit Furore gegen alle Widerstände kämpfen und alles zu einem guten Ende bringen.

"Stitches" ist ganz anders. Auch wenn Ana mit den neuen Hinweisen noch einmal neue Kraft generiert. Auch wenn das bedeutet, dass der Vater, der den Fall für sich abgeschlossen hatte, mit einem Gefühl konfrontiert wird, dass sie schon so lange mit sich herumträgt, und es einem das Herz bricht. Das Unausgesprochene gibt dem Publikum das Gefühl der Ohnmacht mit. Von offizieller Seite steht niemand Ana bei. Es ist die Tochter, die den Hinweisen über das Internet folgt. Aus Gründen, die sacht mitschwingen, aber nicht laut ausgesprochen werden.

Obwohl der Film in der Jetztzeit spielt, ist das Belgrad des Filmes fast zeitlos, als hätten sich hier die Betonklötze nie erneuert. Visuell wirkt die Stadt schmucklos und fast leblos. Die Kameraarbeit von Damjan Radovanović deutet immer wieder Räume an, in denen Ana alles um sie herum ausblenden weiß. So, wie ihre Tochter ihr das vorwirft. Man kann sich nicht recht sicher sein, ob wir Anas Umfeld und ihr Leben beobachten oder das Leben aus Anas Sicht. Es gibt keine Antworten, darum ist jede Antwort auf Ungewissheit eine gute Antwort. Doch auf die Wahrheit, das hebt der Abspann hervor, warten auch heute noch Hunderte von Familien.

Elisabeth Nagy


Link: www.berlinale.de
Quelle: 69. Internationale Filmfestspiele Berlin 2019




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