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Drei besondere Arthouse Filmtipps im Juni 2017

Auf weniger erfreulichen Mainstream folgen in dieser Woche drei beachtenswertere Arthouse-Filmtipps.



"IN ZEITEN DES ABNEHMENDEN LICHTS" von Matti Geschonneck: Seit 01.06.2017 im Kino. Hier der Trailer:



Ulrikes Filmkritik:

Eugen Ruges Roman „In Zeiten des abnehmenden Lichts“ bekam 2011 den Deutschen Buchpreis und stand danach mehr als 40 Wochen auf der Bestsellerliste des Spiegel. Kurz danach wurde er für das Theater adaptiert und jetzt von Matti Geschonneck für den Film. Geschonneck hat sich für die Leinwandfassung auf den Kern der Handlung konzentriert: Die Geburtstagsfeier des 90-jährigen knorrigen Familienpatriarchen Wilhelm Powileit (Bruno Ganz). Powileit hat während der Nazizeit im kommunistischen Widerstand gekämpft, emigrierte dann nach Mexiko und machte nach seiner Rückkehr in der DDR Parteikarriere.

Ost-Berlin 1989. Seine Frau Charlotte (Hildgard Schmahl), die in einer Art Hassliebe mit ihm verbunden ist, richtet die Geburtstagsfeier für ihn aus. Irgendwie fühlte sie sich ständig zu kurz gekommen und rächt sich an ihrem langsam vergreisenden Mann. Es ist sein letzter Geburtstag im alten DDR-System, denn die Mauer steht kurz vor dem Fall. In seinem Ost-Berliner Domizil treffen sich Verwandte, Freunde und Repräsentanten des Arbeiter-und Bauernstaats. Alle bringen Blumen mit und halten Reden. Der linientreue Greis murmelt bei jedem Strauss: „Bringt das Gemüse auf den Friedhof“. Was er nicht weiss, sein Enkel Sascha (Alexander Fehling) , der sich der Künstlerszene der DDR zugehörig fühlt, ist wenige Tage zuvor in den Westen abgehauen. Seine Aufgabe in dem parteikonformen Jubiläumsspektakel wäre der Aufbau des Tisches für das kalte Buffet gewesen. Anwesend sein Sohn Kurt (Sylvester Groth) nicht ganz so linientreu wie der Vater.

Er hat in der Nachkriegszeit im russischen Arbeitslager die weniger erfreulichen Seiten des Kommunismus zu spüren bekommen und arbeitet in Ostberlin als Historiker. Seine russische Ehefrau Irina (Evgenia Dodina), die er heimlich betrügt, sorgt mit ihrem Wodka-Schwips für einen unfreiwilligen Höhepunkt auf der Feier. Während draußen vor der Tür die DDR zusammenbricht, machen die Gäste innen gute Miene zum bösen Spiel. Kurts Schwiegermutter singt besoffen russische Weisen, Haushaltshilfe Lisbeth (Natalia Belitzki), kehrt die Scherben des Geschirrs zusammen, der hölzerne „Nazi-Tisch“ ist beim Greifen nach einem Würstchen zusammengebrochen. Tragödie, Drama, Komödie und Satire prallen dicht aufeinander. Wolfgang Kohlhaase, eine wahre Filmlegende schrieb das Drehbuch. Seine Dialoge”¦ klug, lakonisch, sehr präzise, humorvoll und feinsinnig.

Eine ganz besondere Leistung des Films, ist die bemerkenswerte Zusammenstellung der Ausstattung.
Die Auflösung der DDR, am Beispiel einer sich auflösenden Familie. Ein klaustrophobisches Kammerspiel. Ein Zerfall, tragisch-komisch erzählt.

(Es ist Herbst und das Kartoffelkraut wird auf den Feldern verbrannt, ein alter Brauch in Slawa, dann beginnt die Zeit des abnehmenden Lichts)

Ulrike Schirm


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"EIN KUSS VON BÉATRICE" von Martin Provost:
Ab 08. Juni 2017 im Kino. Hier der Trailer:



Über die Qualitäten der aktuellen französischen Lustspiele sind wir uns derzeit nicht alle einig. Nachfolgendes Drama lief zwar zuerst auf der diesjährigen 67. Berlinale im Wettbewerb, aber nur außer Konkurrenz, was schon zweideutig ausgelegt werden kann. Meist verbirgt sich dahinter eher Mainstream-Ware als herausragende Filmkunst. Ob das auch in diesem Fall so ist, darüber klärt uns Ulrikes Filmrezension auf.

Ulrikes Filmkritik:

Martin Provost, Jahrgang 1959, früher Schauspieler und Autor, inszenierte Anfang der Achtziger sein erstes Theaterstück „ Le Voyage Immobile“. Später wechselte er ganz ins Regiefach. Mit „Séraphine“ und „Violette“ hat er bereits starke und sensible Frauen in den Mittelpunkt seiner Handlung gesetzt. In „Sage Femme“, das französische Wort für Hebamme“, deutscher Filmtitel „Ein Kuss für Béatrice“ , setzt seine Liebe für das angeblich „Schwache Geschlecht“ fort.

Ein Anruf wirbelt das geerdete Leben Claires (Catherine Frot) völlig durcheinander. Am Telefon Bí¨atrice (Catherine Deneuve), die Geliebte ihres Vaters, die sich Ewigkeiten nicht gemeldet hat und damals sang-und klanglos aus dem Leben der Familie verschwand. Claire, die mit Leib und Seele den Beruf der Hebamme mit einer Leidenschaft und einer großartigen Empathie ausübt, hat es wahrlich nicht leicht. Die im Alltag ziemlich verschlossene Frau ist alleinerziehend, der Sohn will sein Medizinstudium aufgeben, die Geburtsklinik steht vor der Insolvenz und das Aufleben der Vergangenheit in der Gestalt von Béatrice, macht ihre Situation nicht besser.

Zum ersten Mal stehen sich zwei großartige Frauen des französischen Films gemeinsam vor der Kamera gegenüber. Béatrice, »une femme fatale«, die raucht und trinkt, die blutige Steaks liebt, in den Hinterzimmern irgendwelcher Kaschemmen als einzige Frau mit Männern leidenschaftlich zockt, das gewonnene Geld in ihrer Handtasche mit sich rumträgt, etwas zu dick geschminkt ist und trotz ihrer Krebserkrankung vom Aufgeben ihrer Laster absolut nichts wissen will.

Claire, verschlossen und kühl, vernünftig, lebt in der Provinz Mantes-La-Jolie, widmet sich in ihrer Freizeit ihrem Schrebergarten, wo sie gesundes Gemüse anbaut und Erholung von ihrem Beruf sucht.

Claire überwindet sich, trifft sich mit Béatrice, erst zögerlich und verschlossen, doch dann nimmt sie die Totkranke bei sich auf. Ich verrate bestimmt nicht zu viel. Die beiden Frauen werden beste Freundinnen. Claire blüht regelrecht auf. Die Gegenwart der kapriziösen Béatrice tut ihr sichtlich gut. Catherine Frot spielt sich regelrecht in die Herzen der Zuschauer. Sie entwickelt eine bemerkenswerte Präsenz. Ihr schmallippiger Mund lernt wieder zu Lächeln, sie fängt eine Liebelei mit dem Lastwagenfahrer aus dem Schrebergarten nebendran an und der Schock über die Schwangerschaft der Freundin ihres Sohnes, wendet sich auch zum Guten. Ihre aufopferungsvolle Arbeit in der Klinik zeigt, mit welch liebevoller Fürsorge sie die Kinder auf die Welt holt. Die intensiven Gespräche der beiden Frauen vermitteln dem Zuschauer die Gründe und Begebenheiten ihrer Verhaltensweisen, die sie voreinander hinter ihren unterschiedlichen „Masken“ verborgen haben. Die fünf Geburten, die wir sehen, sind übrigens echt. Provost hat diesen liebenswerten Film seiner eigenen Hebamme gewidmet, die ihm bei seiner Geburt mit ihrem eigenen Blut das Leben rettete. Vergeblich hat er später nach ihr gesucht. Überraschend der Kurzauftritt der wunderbaren Mylí¨ne Demongeot, die inzwischen 81 ist und in mindestens 45 Filmen auf der Leinwand zu sehen war.

So plötzlich, wie Béatrice in Claires Leben trat, so plötzlich ist sie wieder verschwunden. Den ganzen Film über spürt man, wie sehr Provost seine Darsteller liebt und einfühlsam die Rollen für sie geschrieben hat.

Ulrike Schirm


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Die dritte Film-Empfehlung folgt erst Ende des Monats im Kino. Ein wenig Biss fehlt dem Werk. Es plätschert an manchen Stellen ohne große Dramatik nur so dahin. Die Beschreibung seiner im Ruhrpott lebenden Menschen ist aber vortrefflich geglückt.

"SOMMERFEST" von Sönke Wortmann: Ab 29. Juni 2017 im Kino.
Hier der Trailer:



Elisabeths Filmkritik:

Hätte es denn nicht ein Klassentreffen sein können? Zugegeben, Stefan (Lucas Gregorowicz) wäre aus München nicht nach Bochum gefahren. Weder um alte Kumpel noch alte Verflossene zu treffen. Alte Geschichten braucht er nicht neu aufwärmen. Die Erkenntnis, dass sich in der alten Heimat nicht viel verändert hat, scheint ihn nicht zu berühren. Stefan, der einst Bochum verlassen hat, um in der Ferne, ausgerechnet München, zu schauspielern, steht so oder so in der Gegend herum, als wäre er weder in der Vergangenheit noch in der Gegenwart heimisch.

Dabei setzt Sönke Wortmann, an dessen “Kleine Haie” man sich gerne erinnert, geschickt an. Das Publikum sitzt mit im Publikum, als Stefan auf der Bühne des Residenztheaters steht. Als er abgeht, folgt ihm die Kamera durch die Gänge. Das erinnert ein wenig an “Birdman”, ohne Schnitttricks, ist aber durchaus eine wichtige Szene. Hier nimmt sich Stefan ganz selbstverständlich seinen Raum. Hier lebt und arbeitet er. Der Zuschauer erfährt erst kurz darauf, dass sein Vertrag nicht verlängert worden ist, dass er eben auch nur noch wie ein Geist auf zur Routine gewachsenen Pfaden wandelt. Mit einer ähnlichen Selbstverständlichkeit wird Stefan durch die Straßen und Siedlungen von Bochum laufen. Wo gehört er denn nun hin? Man kann es weder aus seiner Körperhaltung, noch aus seinem Gesicht ablesen. Er wirkt ein wenig wie aus der Geschichte gefallen.

Das mag daran liegen, dass eigentlich nicht er im Mittelpunkt der Komödie steht. Dieser ist vielmehr Bochum selbst. Ein Gedicht, das Stefan rezitiert, eine Hymne an die A40, vermittelt das Heimatgefühl für den Ruhrpott und dessen bescheidene Schönheit. Doch Stefan fährt nicht von ungefähr zurück. Ein Anruf im Theater, in der ersten Szene, übermittelt ihm die Nachricht vom Tod seines Vaters und schon sitzt er, noch im Kostüm, im Zug. Der unmittelbare Aufbruch wirkt dabei nicht wie ein Hineilen zu etwas, sondern wie die Flucht vor etwas anderem. Seine Freundin, und Managerin, die man nur in den Telefongesprächen kennenlernt, scheint das besser zu wissen als er. Ja, für ein Klassentreffen wäre Stefan wohl nicht nach Bochum gekommen. Jetzt aber muss er heim, um die Beerdigung zu arrangieren und das Haus auf den Markt zu bringen. Es fällt schwer, in einer Geschichte voller Nostalgie, mit Erinnerungen an das, was einmal war, auf das Gefühl der Trauer zu verzichten. Stefan zeigt sogar mehr Reaktion auf die praktisch als Running Gag eingebaute Frage nach seinem Schauspieler sein: “Muss man dich kennen?”, als auf die ebenso zahlreichen Beileidsbekundungen.

Die Gefühle weckt Sönke Wortmann, der hier Frank Goosens gleichnamigen Roman verfilmt, eher mit herzlichen Lokalkolorit. Bereits als Stefan in sein Elternhaus kommt, spürt man, hier lebte eine Bergbauerfamilie. Das ist durchaus zärtlich arrangiert, nur bleibt es Bühne. Der erste Weg führt zur Trinkhalle. Ommi (Elfriede Fey) erzählt wie sie mit ihrer Klappe einen armseligen Gangster in die Flucht geschlagen hat, und sein alter Kumpel Toto (Nicholas Bordeaux) findet sowieso, dass im Ruhrpott die Geschichte an jeder Bordsteinkante darauf warten, aufgelesen zu werden (wer mag, sollte bis nach dem Abspann sitzen bleiben). Das Episodenhafte ist Frank Goosen, sein “Radio Heimat” ist erst letztes Jahr ins Kino gekommen, ja eigen. Auch Sommerfest funktioniert als Aneinanderreihung von kleineren Kapiteln. Da gibt es die Geschichte von Mandy, deren Mutter sie nach einem Barry Manilow-Song benannt hat, und die von Murat, der Chancen hat, nicht nur in der zweiten, sondern auch in der ersten Bundesliga zu spielen. Da fühlt man mit, man jubelt und man weint. Die Gefühle für die Nebenfiguren übertragen sich. Diese sind im Ruhrpott verwurzelt und zwar etwas dick aufgetragen, doch im Großen und ganzen authentisch. Ja, wäre da nur nicht die Geschichte von Stefan, der nicht trauert und der nicht weiß, wohin mit sich.

Zugegeben, seine alten Freunde geben ihm auch kaum die Chance zu sich zu kommen. Es gilt einen Schrank zu transportieren, denn hey, er hat ja jetzt wohl Zeit. Er wird aufs Sommerfest des Fußballvereins bestellt, soll an einer Museumsführung in der Zeche Bochum teilnehmen und gleich mal den Traum seiner Jugendliebe mitgestalten, die aus der alten Traditionswirtschaft eine moderne Kulturbegegnungsstätte machen möchte. Kurz setzt die Dramaturgie an, die Vergangenheit in die Gegenwart zu überführen. Ein altes Photo aus den 50ern zeigt, wie es einmal gewesen war, an der Ruhr beim Picknick. Davon träumt Stefan sogar. Diese Vergangenheit ist vergangen, Neues muss im Ruhrpott passieren und es passiert eine Menge. Mit oder ohne Stefan, der glaubt, sich nur zwischen Arbeitslosigkeit und Serienengagement entscheiden zu müssen. Die schwächsten Figuren sind eben Stefan und seine Charly (Anna Bederke), deren Jugendliebe legendär sein mag, doch diese schafft es nicht zum Publikum. Das ist eigentlich schade.

Elisabeth Nagy



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