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Bestes Sozialdrama aus England jetzt im Kino

Der Gewinner von Cannes 2016 startete diese Woche im Kino.



In letzter Zeit haben wir so viel von Festivals berichtet, dass die aktuellen Kinostarts ein wenig in Vergessenheit gerieten, obwohl kurz vor Weihnachten die Kinosaison ihren Jahreshöhepunkt hat und unter den Filmpremieren einige Filmperlen zu erwähnen wären. Glücklicherweise kann uns wieder Ulrike Schirm mit Ihren fundierten Rezensionen aushelfen, sich ein Urteil über aktuelle Filmstarts zu bilden. Dazu gehört Ken Loachs Sozialdrama aus England, das die Goldenen Palme von Cannes im Mai gewonnen hatte. Ulrikes Lieblingsfilm ist aber das Werk von Jim Jarmusch, das schon eine Woche zuvor startete.

"ICH, DANIEL BLAKE" von Ken Loach: Seit 24.11.2016 im Kino.
Hier der Trailer:



Endlich bei uns in den Kinos. „Ich, Daniel Blake“. Der Gewinner in Cannes, 2016. Ken Loach stellt sich radikal und leidenschaftlich an die Seite der Verlierer in unserer Gesellschaft. Es ist ein Film über die bittere Armut und ihre Folgen. Im Mittelpunkt dieses Sozialdramas steht Daniel Blake (Dave Johns), der nach einem Herzinfarkt auf staatliche Unterstützung angewiesen ist. Das Problem ist die menschenverachtende Schikane der Bürokraten auf den Ämtern.  Das tief berührende Drama ist erschreckend aktuell. Sein Kampf gegen die eisige Bürokratie kann man kaum ertragen. Auf dem Arbeitsamt lernt er Katie (Hayley Squires), eine allein erziehende Mutter kennen, für die, wie so vielen anderen, im Rahmen der voranschreitenden Gentrifizierung im heutigen London,einfach kein Platz mehr ist. Es ist kaum zu ertragen, als die Mutter zweier Kinder einen durch Hunger hervorgerufenen Schwächeanfall erleidet. Das Geld reicht hinten und vorne nicht. Als sie einmal zu spät zu einem Termin erscheint, wird ihr die Hilfe für eine Woche gekürzt. Es ist Blake, der sich voller Anteilnahme um die kleine Familie kümmert, obwohl auch er immer schwächer wird. Die tägliche Auseinandersetzung mit der gleichgültigen Bürokratie und die unverschämten Aussagen einiger Sachbearbeiter, letztendlich selbst schuld an seinem Elend zu sein, kann der verzweifelte Mann nicht mehr ertragen. Loach, der sich in fast allen seiner Filme ("Ladybird, Ladybird", "Mein Name ist Joe" usw.) denen, die am Rande der Gesellschaft stehen annimmt, verliert dabei nicht den Blick auf die Mitmenschlichkeit, die unter dieser Bevölkerungsschicht vorhanden ist. Loach auf die Frage, was die Wurzel seiner Geschichte sei, antwortet im Interview:

„Am Anfang stand die universelle Geschichte von Menschen, die ums Überleben kämpfen. Aber dann mussten die Charaktere und die jeweilige Situation eine lebensechte Grundlage bekommen. Wenn wir genau hinsehen, dann erkennen wir, dass die staatliche Fürsorge für verzweifelte Menschen in Notlagen als politisches Instrument genutzt wird. Die grausame Waffe ist die Bürokratie, die absichtliche Ineffizienz der Bürokratie: So wird es dir ergehen, wenn du nicht arbeitest. Wenn du nicht arbeitest, wirst du leiden. Die Wut über diese Zustände war das Motiv für diesen Film. Die Armen werden für ihre Armut selbst verantwortlich gemacht, das sehen wir überall in Europa und darüber hinaus“.

Es ist bemerkenswert, dass die Jury in Cannes sich entschied, die Goldene Palme Loach zu überreichen. Man kann davon ausgehen, dass niemand von denen jemals in einer derartigen Situation war und kommen wird. Mit seinem Film setzt er eine Art Denkmal für die vielen, vielen Daniels und Katies auf dieser Welt.

Ulrike Schirm

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"PATERSON" von Jim Jarmusch: Seit 17.11.2016 im Kino
Hier der Trailer:



Im Leben von Paterson (Adam Driver) ist alles klar. Wir begleiten ihn an 7 Wochentagen in seiner bescheidenen Alltagsroutine. Er lebt mit seiner Frau Laura (Golshifteh Farahani) in einem kleinen Ort in New Jersey, der genauso heisst wie er. Jeden Morgen um 6:12 wacht er auf, küsst seine Frau, frühstückt und begibt sich auf den Weg zum Busbahnhof. Jeden Morgen begrüsst ihn sein Kollege, der nach der Frage, wie es ihm geht, deprimierende Episoden aus seinem Leben erzählt. Paterson besteigt den Bus und lenkt ihn durch den Ort. Ernsthaft belauscht er die Gespräche seiner Fahrgäste und speichert sie in seinem Kopf. In seiner Freizeit schreibt er die schönsten Liebesgedichte, die er seiner Frau widmet. Stift und Schreibbuch hat er stets dabei. Während seiner Abwesenheit, werkelt Laura in der Wohnung, gestaltet sie täglich um. Ihre Lieblingsfarben sind schwarz und weiß. Sogar ihre ausgefallenen Cup-Cakes, die sie jeden Sonnabend auf dem Bauernmarkt verkauft, sind schwarz-weiß gepunktet. Sehnsüchtig wartet sie auf die schwarz-weiße Gitarre, die Paterson für sie gekauft hat. Beobachtet wird sie von ihrer geliebten englischen Dogge Marvin. Jeden Tag, wenn Paterson heim kommt, steht der Briefkasten zu seiner Verwunderung schief. Täglich rückt er ihn wieder gerade. Nach dem Abendbrot, legt er Marvin die Leine an, spaziert zu seiner Stammkneipe, leint den Hund draussen an und gönnt sich sein Feierabendbier. Mittwoch. Paterson wird wach, steht auf, sitzt am Küchentisch. Er hat vergessen seine Frau zu küssen. Laura steht auf, küsst ihn liebevoll und legt sich wieder hin. Es sind winzige Momente der Veränderung, die man kaum wahrnimmt, wenn man nicht genau hinschaut. Es ist Marvin, der mit körperlichem Einsatz, den Briefkasten in eine Schieflage versetzt.

Inspiriert wurde Jim Jarmusch von dem Werk des Lyrikers William Carlos Williams (1893-1963) der über den Ort Paterson ein Lyrikepos verfasst hat. Eine Zeile, eines seiner Gedichte lautet: „Gedanken sind nur in Dingen“. Jarmusch hat einen wunderschönen Film über die kleinen Nuancen des alltäglichen Lebens dieses wortkargen Poeten und der Liebe zweier derart unterschiedlichen Menschen auf eine stille und lyrische Weise gemacht, ein Film, der in seiner Langsamkeit und „Stille“ alles andere als langweilig ist. Für mich, einer der schönsten Filme in diesem Jahr.

Ulrike Schirm

Weitere aktuelle Filmkritiken von Ulrike Schirm wie "CAFÉ SOCIETY" von Woody Allen und "EINE GESCHICHTE VON LIEBE UND FINSTERNIS", das Regiedebüt von Natalie Portman und "FLORENCE FOSTER JENKINS" von Stephen Frears mit der wunderbaren Meryl Streep, sind in Ulrikes eigenem WordPressBlog unter Ulrike tratscht Kino zu finden.

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